Читать книгу Freiheit ist... - Lena Schneiderwind - Страница 4
Kapitel 1
Оглавление06.06.2020
„Und damit melden wir uns zurück aus der Werbung, liebe Zuschauer!
Schön, dass Sie noch bei uns sind, um auch den Rest der spannenden Geschichte unseres umstrittenen Gastes aus erster Hand zu erfahren. In der Pause haben wir wieder eine Vielzahl von Fragen erhalten, die wir gerne in der kommenden Stunde beantworten. Ich möchte jedoch noch einmal darauf hinweisen, dass wir davon absehen, auf die teilweise sehr verletzenden sowie auch die allzu euphorischen Beiträge wie spontane Heiratsanträge und weitaus unreifere Angebote einzugehen. Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich diese für die sozialen Medien aufheben würden.
Nun aber zurück zu unserem Gast. Frau Dr. Mondlaub, können Sie für die Zuschauer, die den ersten Teil unseres Beitrags leider verpasst haben, noch einmal kurz zusammenfassen, wer Sie sind und was Sie tun bzw. welches Ziel Sie verfolgen?“
Trotz ihres mühevoll modellierten Spachtelgesichts entgeht mir der leicht spöttische Ausdruck, der für den Hauch einer Sekunde darüber huscht, keineswegs.
So wie wir es besprochen haben unterdrücke ich den Seufzer der Verzweiflung und all die „unfeinen, einer Dame nicht würdigen„ - Zitat Ende - Ausdrücke, die von meiner Zungenspitze direkt in selbiges springen wollen. Ich sehe der übermotivierten Moderatorin mit meinem unverbindlichsten und zugleich höflichsten Gesichtsausdruck dabei zu, wie sie ihren winzig kleinen Hintern samt winzig kleinem und ganz sicher maßgeschneidertem Kostüm auf unbeschreiblich unbequeme, aber überraschend elegante Weise in den hoch- modernen Designersessel mir gegenüber schwingt und setze - mal wieder - dazu an, meine Geschichte zu erzählen.
Wie immer rufe ich mir zuvor noch einmal Fox‘ eindringliche Worte in Erinnerung: „Du musst sie für dich gewinnen! Die Menschen wollen nicht die Fakten hören, sie wollen jemanden, der ihnen die Angst nimmt. Sei liebenswürdig, aber auch selbstsicher. Sei verständnisvoll, aber auch bestimmt. Zeig ihnen, wie klug du bist, aber sei kein Besserwisser. Mach ihnen klar, dass sie selbst es sind, die alles verändern können, aber lenke sie auch in die richtige Richtung. Das ist deine Chance auf die beste Show deines Lebens. Also hau sie um, Showgirl!“
Und so lege ich - zum 36. Mal innerhalb der letzten 3 Wochen - all meine Überzeugungskraft, all mein Wissen und vor allem all meine Liebenswürdigkeit in die wohl ausgewählten Worte der Geschichte meines Lebens:
„Guten Tag, mein Name ist Sofia Mondlaub.
Ich bin Virologin und beschäftige mich zurzeit mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen SARS-CoV-2, auch Coronavirus genannt. Mein Team und ich stehen kurz vor dem Durchbruch. Wir sind sicher, innerhalb der nächsten 6 Monate einen wirksamen Impfstoff zur Verfügung stellen zu können.
Und auch wenn oder gerade weil wir so kurz vor dem Abschluss unserer Studien stehen, ist es unsagbar wichtig, dass wir uns alle noch für diese paar Monate in Geduld üben.
Mein Aufruf geht an alle Menschen da draußen. Egal welcher Herkunft, welchen Alters, Geschlechts und egal, wo Sie sich gerade befinden: Bitte halten Sie durch und halten Sie sich strengstens an die Regeln, die bisher zur Eindämmung des Virus galten. Bitte lassen Sie sich nicht von den Lockerungen mitreißen und riskieren Sie keine zweite Infektionswelle.
Ich kann verstehen, dass die Maßnahmen eine große Einschränkung bedeuten, aber bitte glauben Sie mir: es ist nun absehbar und wenn wir alle zusammenhalten und uns noch ein Weilchen gedulden, dann können wir diese Krise innerhalb der nächsten 6 Monate gemeinsam überstehen und hinter uns lassen.
Hiermit wende ich mich auch an die Politiker unseres Landes sowie aller anderer Länder. Ich verstehe, dass Sie alle unter enormem Druck stehen, aber es ist wichtig, dass wir die Regeln erst lockern, wenn wir ganz sicher sind, dass wir die Situation wieder vollständig unter Kontrolle haben.
Dieser Fall tritt erst ein, wenn wir einen wirksamen Impfstoff haben.“
An dieser Stelle muss ich mich selbst stoppen, um mich nicht völlig in Rage zu reden und mehr preiszugeben als geplant. Denn je nach Auslegung sind 75-90% dieser Geschichte gelogen oder zumindest stark verzerrt. Zunächst einmal ist mein Name nicht Sofia Mondlaub und ich bin weit von jedwedem wissenschaftlichen Abschluss entfernt. Einen Doktortitel werde ich mit Sicherheit nie haben. Nach diesem Geständnis ist es wohl auch keine große Überraschung, dass ich in den kommenden Monaten keinen rettenden Impfstoff gegen Covid-19 oder irgendein anderes Virus zur Verfügung stellen kann.
Ich bin absolut kein Freund von Lügen. Wenn möglich, ziehe ich die Wahrheit einer Lüge immer vor. Egal, welche Konsequenzen das für mich bedeutet. Ein Charakterzug, der mir in meinem Leben sicher nicht nur positive Erlebnisse beschert hat, aber so wurde ich nun mal erzogen. Ich will gar nicht an das Gewitter denken, dass über mich hereinbräche, wenn meine Mutter wüsste, wie sehr ich die Stabilität diverser Balken gerade überstrapaziert habe. Und meine arme Oma würde sicher einen doppelten Rittberger durch ihr Grab drehen.
Warum sitze ich dann nun also hier und lüge einfach so mehrere Millionen mir völlig fremder Menschen an? In diesem Falle greift wohl die Theorie des Zwecks, der die Mittel heiligt. Denn die 10-25% Wahrheit, die in meiner Geschichte stecken, sind es allemal wert, einige Lücken mit etwas Phantasie und Einfallsreichtum zu füllen.
Der wichtigste Fakt ist wohl dieser: innerhalb der nächsten 6 Monate kann tatsächlich ein wirksamer Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung gestellt werden. Dieser Impfstoff ist unabdingbar, um die Kontrolle über die aktuelle Situation zu erlangen und schwerwiegende Folgen zu vermeiden. Ebenso wahr und wichtig ist, dass Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt absolut verfrüht sind.
Weil ich diese und noch einige andere Wahrheiten kenne, setze ich nun alles daran, sie auch der restlichen Bevölkerung begreiflich zu machen. In den letzten 10,5 Monaten habe ich all meine Zeit und Energie dafür eingesetzt, mich bestmöglich auf diese Chance vorzubereiten.
Denn eins ist klar, wenn meine Mission scheitert, wenn ich scheitere, wird das die Menschheit weit mehr kosten als sie aktuell ermessen könnte.