Читать книгу Freiheit ist... - Lena Schneiderwind - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеIch habe keine Ahnung, worum es eigentlich geht, aber es fühlt sich an als hätte Pan mit diesen Worten die gesamte Luft aus dem Raum gesogen. Fox Gesicht verliert schlagartig jede Farbe und er sieht fassungslos zur Tür, in der Pan steht und seinen Blick in hilfloser Verzweiflung erwidert.
„Isch `ab‘s eusch doch gesagt!“, erklingt die ungehaltene Stimme der Französin von der anderen Seite des Raumes. Sie, Tristan und die kleine Madeleine haben den Lärm offensichtlich auch gehört und sind dessen Quelle wieder zurück ins Esszimmer gefolgt.
„Diese Isabelle ist eben keine von uns und bei der Aussischt auf eine kleine Belohnung `at sie natürlisch nischt discht ge`alten. Isch `abe eusch gewarnt. Die sind alle gleisch: Kaum wedelt jemand mit ein paar Scheinen vor ihre Nase packen sie einfach alles aus, diese illoyalen...“ Mit einem Blick auf ihre Tochter, der sie schützend die Hände auf die dünnen Schultern gelegt hat, stoppt sie sich gerade noch rechtzeitig.
Pan blickt sie an wie ein weidwundes Reh und stößt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Ich wünschte, sie hätte das Geld genommen!“
Man kann förmlich sehen, wie die Erkenntnis in Aurélies Bewusstsein kriecht und ihre Wut verdrängt.
„Was `at er ihr angetan?“, fragt sie alarmiert und voller Mitleid in ihren sonst so kühlen Augen.
„Das kannst du dir selbst ansehen. Ich hab’ sie mitgebracht. Sie braucht dringend medizinische Versorgung und ich wollte nicht riskieren, dass sie zurückkommen und zu Ende bringen, was sie angefangen haben.“
„Brock`aus, Emilia, ihr kommt mit mir. Maddie, geh und hol Mamis Koffer. Vite, vite!“ Mit diesen Worten reißt sich die Französin aus ihrem kurzzeitigen Schockzustand und scheucht uns vor sich her aus dem Zimmer und in Richtung Hinterausgang.
Als sie bei Pan ankommt, der immer noch leichenblass auf der Türschwelle steht, bleibt sie noch einmal kurz stehen. Sie legt ihm die Hände auf die Schultern und zwingt ihn, ihr in die Augen zu sehen:
„Isch kümmere mich um sie. Es wird alles gut. Das verspresche isch!“
Dann dreht sie sich zu Flora, Fox und Tristan um und sagt energisch: „Ihr `abt keine Sseit zu verlieren. Geht und `olt Meiling da raus!“ Ihre Stimme wird zum Ende hin ganz schrill. Davon abgesehen lässt sie sich ihren inneren Aufruhr jedoch nicht anmerken und eilt geschäftig voraus.
Auf dem kleinen Vorplatz hinter dem Haus parkt ein alter Mercedes, der offensichtlich in aller Eile dort abgestellt wurde. Die Fahrertür ist geöffnet. Auf der dem Haus zugewandten Beifahrerseite ist von außen niemand zu sehen. Aurélie läuft geradewegs auf den Wagen zu und reißt die Beifahrertüre auf.
Mir fallen einige herausgerissene Kabel unter dem Lenkrad auf. Sieht so aus als hätte Pan das Fahrzeug gestohlen.
In Anbetracht der ansonsten gähnenden Leere im Innenraum sehen wir uns ratlos an.
Dann lenkt ein leises Stöhnen unsere Aufmerksamkeit auf die Rückbank. Bei dem Anblick der zierlichen Gestalt, die dort liegt und sich wimmernd krümmt, gefriert mir das Blut in den Adern. Ihr Gesicht ist durch diverse Blutergüsse, Prellungen und Platzwunden beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihre Hände sind blutüberströmt und einige Finger stehen in erschreckend unnatürlichem Winkel ab.
Günter neben mir schnappt hörbar nach Luft. „Diese Tiere!“, flüstert er fassungslos.
Aurélie verharrt für eine Sekunde wie erstarrt mitten in der Bewegung. Dann dreht sie sich mit einem wütenden Zischen um: „Fils de pute!“. Sie sieht uns mit wilder Entschlossenheit an: „Wenn ihr `elfen wollt, müsst ihr eusch jetzt zusammenreißen. Dursch Anstarren wird sie nischt wieder gesund. Also: Kriegt ihr das `in?“
Günter fängt sich deutlich schneller als ich: „Entschuldige, aber das gehört zu den Dingen, die einfach niemals leichter werden. Du kannst wie immer voll und ganz auf mich zählen. Was kann ich tun?“
Ich starre immer noch verstört auf den zerschmetterten Körper und merke, wie der Würgereiz meine Kehle hochsteigt. Gerade als ich ins nächste Gebüsch stürzen will, gibt die malträtierte, junge Frau wieder ein ängstliches Wimmern von sich und ich höre mich fragen: „Natürlich, wie kann ich helfen?“
Das kam deutlich zuversichtlicher heraus als ich mich fühle, aber mir ist auch klar, dass ich zumindest zu einem großen Teil für das, was man ihr angetan hat, verantwortlich bin.
„D‘accord! Dann tragen wir sie jetzt in die Krankenssimmer. Wir müssen uns beeilen, aber seit ja vorsischtisch! Isch `alte ihre Kopf und ihr ssieht sie aus die Wagen.“
Am Ende des letzten Satzes steht Aurélie bereits auf der anderen Seite des Fahrzeugs, öffnet die Tür, nimmt behutsam den Kopf der Frau in ihre schlanken Hände und stützt ihren Nacken gekonnt mir den Fingern ab. Günter und ich ziehen den zerbrechlichen Körper vorsichtig mit den Beinen voran aus dem hinteren Teil des Fahrzeuges und Aurélie folgt quer über die Rückbank und hält Kopf und Nacken so ruhig wie nur möglich. Zu dritt schaffen wir es so, die Frau einigermaßen stabil aus dem Auto und ins Haus zu tragen.
Die Tür zum Speisezimmer steht immer noch offen, als wir daran vorbeikommen. Der Raum ist nun allerdings menschenleer. Nur Audrey hat natürlich die Gunst der Stunde genutzt und bedient sich ungerührt an den Resten des Frühstücks.
Vorsichtig bewegen wir uns im Gleichschritt weiter durch den kleinen Flur in die Eingangshalle. Von dort steuert Günter, der voraus geht, auf die linke Tür am anderen Ende der Halle zu. Auf ein stummes Zeichen hin lasse ich die Körpermitte, die ich bis dahin gestützt habe, ganz vorsichtig los und öffne diese, sodass Günter und Aurélie die junge Frau ungehindert hindurch tragen können.
Mit dem, was uns dahinter erwartet, hatte ich nicht gerechnet: Wir stehen in einem vollausgestatteten Krankenzimmer mit drei Krankenbetten, von denen eines offensichtlich gerade frisch bezogen wurde. Überall stehen diverse medizinische Apparate herum und die Wände werden fast vollständig von Regalen mit Verbandszeug, Spritzen und Medikamenten unterschiedlichster Darreichungsform verdeckt. Nur die dunkle Holzdecke und der alte, abgewetzte Teppichboden lassen noch auf den ursprünglichen Zustand des Raumes schließen.
Die kleine Maddie steht neben dem bezogenen Bett und hält einen abgenutzten, schwarzen Lederkoffer in den Händen. „Sehr gut, merci, mon chou chou. Und jetzt sei brav und geh oben spielen, ja?“, fordert Aurélie ihre Tochter sanft aber bestimmt auf. Trotzig hebt die Kleine das Kinn und setzt zum Widerspruch an.
„Du könntest mir einen Gefallen tun und nach Audrey sehen. Die räumt nämlich gerade den Frühstückstisch ab und bestimmt ist ihr gleich ganz schlecht, wenn sie niemand aufhält.“, gehe ich schnell dazwischen.
Das scheint in den Augen des Mädchens eine ausreichend verantwortungsbewusste Aufgabe.
Sie stellt den Koffer neben dem Bett ab und eilt geschäftig aus dem Zimmer. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter ist in diesem Moment so unverkennbar, dass ich trotz der schrecklichen Situation ein bisschen schmunzeln muss.
Zu dritt legen wir die junge Frau ganz langsam auf das bezogene Bett und versuchen dabei, jede Erschütterung zu vermeiden. Aus dem Stockwerk über uns sind umher eilende Schritte zu vernehmen, die schließlich die Treppe herunter kommen und vor der Tür des Krankenzimmers verstummen.
Stattdessen hören wir nun laute Stimmen, die offenbar angeregt diskutieren. Dann wird die Tür geöffnet und wir hören Pan aufgebracht rufen: „…kann sie doch jetzt nicht einfach alleine lassen!“
Aurélie, die gerade damit beschäftigt ist, die Vitalzeichen der verletzten Frau zu überprüfen, dreht sich zu ihm herum und weist ihn zurecht: „Sie ist nischt allein und du wärst mir `ier ganz bestimmt keine `ilfe. Isch rette deine Freundin und du gehst und rettest Meiling, d’accord?“
Pan setzt zu einem Widerspruch an, doch da legt Fox ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter: „Kumpel, du weißt, dass sie recht hat. Ohne dich haben wir keine Chance.“, sagt er bittend und dringt damit zu seinem Freund durch.
Pan wirft noch einen letzten Blick auf den zierlichen Körper, der auf dem weißen Laken noch blasser und verletzlicher aussieht, reißt sich dann mit offensichtlicher Überwindung los und verlässt das Zimmer. Bevor Fox die Türe leise hinter sich zuzieht, sieht er uns noch einmal eindringlich an: „Wir schaffen das. Diese Schlacht werden sie nicht gewinnen!“
Ich habe das Gefühl, dass er damit weniger uns als vielmehr sich selbst gut zureden will. Aurélie hört schon gar nicht mehr zu und scheint ganz in ihrem Element während sie die junge Frau routiniert untersucht:
“Ihre Puls ist sehr schwach. Die Finger müssen wir wieder einrenken. An der rechten `and fehlen zwei Fingernägel, an der linken drei. Ich fürschte, da können wir nischts tun. Das Gesischt scheint nur oberfläschlisch verletzt. Das linke Bein ist gebrochen und muss geschient werden. Die Hämatome am Bauch machen mir Sorgen. Wir müssen einen Ultraschall machen, um innere Verletssungen ausssuschließen.
Emilia, isch brauche eine der Spritzen aus die dritte Fach dort drüben. Brock‘aus, `ol mir bitte die Ultraschallgerät.“
Eilfertig hole ich ihr die gewünschte Spritze und eine der steril verpackten Kanülen, die direkt daneben liegen. Entgegen meiner Erwartung verwendet sie jedoch diese nicht, um endlich die Schmerzen der mittlerweile ganz apathischen Frau zu stillen, sondern nimmt erst einmal eine Blutprobe.
„Sollten wir ihr nicht zuallererst ein Schmerzmittel geben, bevor wir hier weitermachen?“, frage ich besorgt. „Irgendetwas sehr, sehr starkes am besten.?“
„Ja, das würde man normalerweise wohl so machen. Leider kenne isch aber meine sadistische Ex-Mann ssu gut, um darauf ´erein ssu fallen. Ist dir aufgefallen, wie abwesend sie wirkt und wie still sie ist? Eine Mensch mit diese Verletssungen müsste doch vor Schmerssen schreien wie an die Spieß, non?“
Das leuchtet mir ein und ich nicke zögernd.
„Meine Ex-Mann gibt seine Opfer an die Ende von seine, kleine Ver`ör gerne eine Cocktail aus verschiedene Schmerzmittel. Nur für die Fall, dass sie gefunden werden, bevor sie qualvoll ihre Verletssungen erliegen. Gibt man dann noch eine Mittel, um die Schmerssen des Passienten zu lindern, kann das ssu einer Überdosis führen. Der Passient stirbt, weil man ihm `elfen wollte.
Ich mache daher erst eine Bluttest, um `erauszufinden, was er ihr schon alles verabreischt `at.“
Ich schlucke fassungslos und angewidert. Was für ein Monster ist zu so kalkulierter Grausamkeit fähig? Ein Gefühl grimmiger Entschlossenheit überkommt mich. Ich reiße mich wieder zusammen und hole mir weitere Anweisungen ein: „Ok, was kann ich noch tun?“
In Gedanken wiederhole ich immer wieder Fox’ Worte: `Diese Schlacht werden sie nicht gewinnen!`.
Wir kämpfen den ganzen Tag und noch bis spät in die Nacht um das Leben von Pans Freundin. Beziehungsweise Aurélie kämpft und Günter und ich unterstützen sie so gut wir können:
Wir halten die Patientin fest während Aurélie die ausgerenkten Finger mit einem schnappenden Geräusch wieder in ihre natürliche Position bringt. Wir holen Verbandszeug, Salben, warmes Wasser und diverse Geräte, deren Funktion ich nur teilweise verstehe. Wir helfen dabei, das gebrochene Bein mit einer Gipsschiene zu stabilisieren. Gegen 8 Uhr abends setzt der Herzschlag der jungen Frau kurzzeitig aus, doch Aurélie schafft es, sie wieder zurückholen.
Innere Verletzungen können wir Gott sei Dank keine feststellen, aber der Schock und der gefährliche Cocktail aus Schmerzmitteln und Drogen, den Aurelie durch den Bluttest feststellen konnte, fordern dem zierlichen Körper alles ab.
Wann immer ich die Chance habe, verlasse ich das Krankenzimmer kurz, um nach der kleinen Maddie zu sehen. Sie scheint mit der Situation besser klar zu kommen als wir Erwachsenen, trotzdem will ich nicht, dass sie an so einem Tag die ganze Zeit alleine ist.
Also koche ich ihr Milchreis, schmiere Brote, erzähle ihr Geschichten und sorge dafür, dass sie sich die Zähne putzt und ihren Schlafanzug anzieht. Bei der Geschichte von dem Tag, an dem Audrey und ich uns endlich kennenlernen durften schläft sie schließlich mit dem Kopf auf meinem Schoß ein.
Als ich sicher bin, dass sie tief und fest schläft, schlüpfe ich vorsichtig von der Couch in der hinteren Ecke des Speisesaals und decke den kleinen Körper mit einer kuscheligen, weißen Wolldecke zu, die ich in einem der Schränke finde. Audrey Hepburn versteht das natürlich als Einladung und rollt sich mit einem zufriedenen Schnurren am Fußende des Mädchens zusammen.
Gegen drei Uhr morgens lässt sich Aurélie schließlich erschöpft auf einen Stuhl sinken und verkündet: „Diese Kampf `aben wir gewonnen! Eins ssu null für uns!“
Ich bin unendlich erleichtert, dass die junge Frau nun stabil und außer Lebensgefahr ist. Dennoch bringe ich nur ein müdes Lächeln zustande. Ich fühle mich völlig ausgelaugt und überfordert.
Von dem Rest der Gruppe gab es, seit sie am Vormittag das Haus verlassen haben, kein Lebenszeichen mehr und die Euphorie über unseren kleinen Sieg wird durch die Ungewissheit über ihr Schicksal gedämpft. Aurélie ist unheimlich blass, was durch ihre glänzend roten Haare nur noch stärker unterstrichen wird. Mit zwei Fingern massiert sie ihre Nasenwurzel und schließt kurz die Augen, die sie ohnehin nur noch mit Mühe aufzuhalten scheint.
Dann steht sie energisch auf: „Isch muss nach Maddie sehen. Ihr könnt ins Bett gehen, wenn ihr wollt. Isch überwache die Passientin.“
Sie nimmt sich eine Art kleinen Computer von einem der Tische, schaltet diesen ein und hängt ihn sich an den Gürtel. Auf dem Display erkenne ich die gleichen Linien und Werte wie auf einem größeren Pendant neben dem belegten Krankenbett, an das die junge Frau mit diversen Kabeln angeschlossen ist. So hat Aurélie ihre Vitalwerte wohl auch außerhalb des Zimmers immer im Blick.
Sie macht sich auf den Weg in die Eingangshalle. Günter und ich schlurfen geschafft hinterher. Als sich Aurélie gerade zur Treppe wendet, um mach oben zu gehen, hole ich sie ein: „ Sie liegt auf dem Sofa im Esszimmer.“, halte ich sie auf.
Sie sieht mich kurz fragend an, geht dann aber wortlos weiter in Richtung Speisesaal. Ich folge ihr und auch Günter kommt nach einem kurzen, sehnsüchtigen Blick zur Treppe hinterher. Leise schlüpfen wir in das inzwischen stockdunkle Zimmer, in dem nur noch die kleine Leselampe brennt, die ich für Maddie angelassen habe.
Aurélie geht zu ihrer Tochter und streicht dem schlafenden Mädchen zärtlich ein paar Strähnen aus der Stirn. Dann drapiert sie die inzwischen heruntergerutschte Decke vorsichtig wieder um ihre schmalen Schultern und kassiert dafür einen kurzen, strafenden Blick von Audrey Hepburn, die der Kleinen immer noch zu Füßen liegt.
Schließlich dreht sie sich zu mir um und sieht mich an als würde sie mich zum ersten Mal sehen:
„ Du ´ast sogar dafür gesorgt, dass sie ihre Schlafanssug anssieht! Merci, das war wirklisch lieb von dir!“
Ihr Blick ist nun gar nicht mehr kalt und streng, sondern absolut offen und ich sehe darin so viel echte Mutterliebe, dass ich mich schnell wieder abwenden muss, um nicht von meinen eigenen Gefühlen übermannt zu werden.
Aurélie deutet meine Reaktion offenbar falsch und beeilt sich zu sagen: „´ör mal, es tut mir leid, dass isch so un’öflisch war. Isch vertraue die Menschen einfach nischt mehr so schnell wie früher einmal. Aber du scheinst wirklisch nett zu sein. Entschuldige bitte.“
„Nein, nein, das ist es nicht. Alles gut. Das hab ich wirklich gern gemacht.“, antworte ich. Nach den letzten beiden Tagen liegen meine Nerven so blank, dass ich etwas länger brauche, um mich wieder zu fangen. Meine Stimme zittert und die Tränen, die ich sonst immer so gut zurückhalten kann, schießen mir wie kleine Sturzbäche in die Augen.
„Wenn ich euch zwei zusammen sehe, muss ich nur immer an meine eigene Mutter denken. Leider war unser Verhältnis nicht so gut wie eures. Ich habe zu spät erkannt, was für ein toller Mensch sie war und ich schätze, ich habe sie nicht besonders fair behandelt. Ich wünschte, ich hätte ihr deutlicher gezeigt, wie wichtig sie für mich ist.“, erkläre ich meinen unpassenden Gefühlsausbruch.
Ich setze mich auf einen der Stühle am Esstisch und versuche, mich zu beruhigen. Aurélie zieht sich einen Stuhl zu mir heran und nimmt ebenfalls Platz. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Glaub mir, sie ´at es gewusst. Du warst die Liebe ihres Lebens und sie ´ätte dir ohne´in alles verziehen.“
Sie legt mir tröstend die Hand aufs Knie und schmunzelt ein wenig:
„Das ist die Kreuss, die alle Eltern tragen müssen, weißt du. Isch bin sischer, eines Tages wirst du das verstehen.“
Dann steht sie plötzlich wieder auf und sieht sich voller Tatendrang im dunklen Zimmer um: „So, isch weiß nischt, wie es eusch geht, aber isch muss jetzt erstmal was essen!“
„In der Küche steht noch Milchreis auf dem Herd.“, lasse ich sie wissen.
„Oh, mon dieu! Du, chérie, bist eine Engel!“
Mit diesen Worten läuft sie durch die kleine Seitentür in Richtung Küche und kurz darauf hören wir das eifrige Klappern von Geschirr. Ich sehe zu Günter herüber, der sich an die andere Seite des Tisches gesetzt hat. Jetzt erst fällt mir auf, wie blass und übermüdet er aussieht. Seine Hände zittern und auf seiner Stirn glitzern ein paar kleine Schweißperlen, obwohl es im Haus nun wirklich nicht besonders warm ist.
„Ist soweit alles in Ordnung?“, frage ich besorgt.
Ich kann in seinem Gesicht ablesen, wieviel Kraft es ihn kostet, sich zusammenzunehmen und mir in die Augen zu sehen: „Ja, es geht schon. Ich habe in meinem Leben schon wirklich viel gesehen, aber mit einigen Dingen werde ich wohl nie klar kommen.“
„Ich finde, mit einigen Dingen sollte man auch nicht klarkommen müssen.“, erwidere ich verständnisvoll. Aurélie, die mit einem Tablett mit drei dampfenden Tellern in der Tür steht, eilt zu uns herüber und stellt einen Teller vor Günter auf den Tisch. Dann drückt sie ihm einen Löffel in die Hand und ordnet liebevoll an: „Jetzt isst du erst einmal etwas und dann geht es `usch `usch in die Bett, non?“
„Ja, Madame.“, antwortet Günter und löffelt brav seinen Milchreis.
Ich war der festen Überzeugung, nicht einen Bissen herunterzubekommen, aber sobald der Teller vor mir steht, meldet sich mein vernachlässigter Magen und ich stürze mich auf die wärmende Süßspeise.
Obwohl ich wirklich ordentlich zulange, ist Günter als erster fertig. Er steht auf und will nach seinem Teller greifen, wird aber mitten in der Bewegung von Aurélie gestoppt:
„Das mache isch. Zeit für’s Bett!“
Wie ein kleiner Junge gehorcht Günter auf’s Wort und verlässt mit schleppenden Schritten und hängenden Schultern das Zimmer.
„Der arme Kerl.“, sage ich mitleidig. „Also ich fand den Tag ganz schön heftig, aber ihn scheint es fast noch mehr mitzunehmen.“
„Er ist sensibler als man zunächst denken würde, tu sais? Nachdem sie ihm seine Stelle und alles andere genommen `aben, `at er sisch hier verkrochen und sisch fast ssu Tode getrunken. Wären Fox, Flora und Pan nischt aufgetaucht und `ätten ihn aus seiner Lethargie gerissen, ´ätte er es wahrscheinlisch auch geschafft. Seitdem ist er trocken, aber gerade in schwierigeren Situationen muss man immer noch eine bischen auf ihn aufpassen.“, erzählt Aurélie und zieht zum Schluss verständnisvoll die Schultern hoch.
Je länger ich hier bin, desto klarer wird mir, dass wohl jeder in diesem Haus ein ordentliches Päckchen mit sich herum trägt.
Umso schöner ist es, zu sehen, dass sie alle irgendwie zueinander gefunden haben und sich nun gegenseitig unterstützen. Wie Günter sagte: Eine große, glückliche Familie.
Aurélie und ich bleiben noch eine Weile am Esstisch sitzen und sie erzählt mir ein bisschen mehr über die einzelnen Mitglieder dieser ungewöhnlichen Formation.
Fox hat sich wohl relativ schnell als eine Art Anführer herauskristallisiert. Seine ruhige, bedachte Art gepaart mit großem Organisationstalent, einem beeindruckenden Verhandlungsgeschick und der Fähigkeit, mitreißende Motivationsreden zu schwingen, halten das ganze Unternehmen - wie Aurélie es nennt - auch in schwierigen Zeiten auf Kurs.
Von seiner Freundin Meiling schwärmt Aurélie richtig. Sie erzählt mir, wie mutig und selbstlos die zierliche Asiatin ist und dass sie ihr ohne zu Zögern geholfen hat, ihrem brutalen Ex-Mann zu entkommen. Auch vor diesem Ereignis hatte sie schon als Insiderin für die Gruppe im Repro-Zentrum spioniert und sich hierdurch immer wieder in große Gefahr gebracht. Selbst die Schusswunde, die ihr der arme Fox nur mit großem Widerwillen zugefügt hatte, war ihre eigene Idee gewesen. So sollte jeder Verdacht, sie hätte irgendetwas mit meiner Flucht zu tun, im Keim erstickt werden.
„Wie es aussieht, `at sie diese Opfer umsonst gebracht.“, seufzt Aurélie niedergeschlagen. „Aber keine Sorge, wenn sie jemand retten kann, dann unsere vier einssischartige Freunde!“
Flora, Fox acht Minuten jüngere Zwillingsschwester, ist im Gegensatz zu ihm Fremden gegenüber zunächst skeptisch, aber, wenn man sie besser kennt, wohl eher der Typ quirliger Freigeist. Neben ihrer Kreativität und Offenheit ist sie außerdem eine echte Kämpfernatur und das tatsächlich im physischen Sinne, klärt Aurélie mich auf.
Sie beherrscht diverse Kampfsportarten und einige eigene Tricks, die sie im Ernstfall auch ohne zu Zögern einsetzt.
Wenn ich an die zierliche, zurückhaltende Frau denke, die mir beim Frühstück gegenüber saß, kann ich mir das so gar nicht vorstellen. Dann erinnere ich mich aber auch an die Euphorie, mit der sie bei meiner Rettung unsere Verfolger immer wieder abgeschüttelt hat, und muss einräumen, dass sie tatsächlich ein sehr vielschichtiger Mensch zu sein scheint.
Pan ist einer ihrer ältesten Freunde. Ihnen wurde schon oft eine intimere Beziehung nachgesagt, aber Aurélie ist sich sicher, dass die zwei sich dazu viel zu ähnlich sind. „Er ist mit der Sseit quasi ssu die dritte Sswilling geworden.“, sagt sie kichernd.
Alle anderen Frauen sollten sich vor ihm jedoch besser in Acht nehmen, warnt sie mich mit einem Augenzwinkern: Seine eigene Bezeichnung als Weiberheld scheint nicht übertrieben. Auch die weiteren von ihm benannten Interessenfelder scheinen alle korrekt zu sein. In Anbetracht seines besonderen Talentes, Tatsachen glaubwürdig zu seinem Vorteil zu verdrehen und anzupassen, fühle ich mich durch seine offenbare Ehrlichkeit mir gegenüber ein wenig geschmeichelt.
Außerdem rät mir Aurélie noch dringend davon ab, ihm irgendwelche noch so wertlosen Besitztümer zu überlassen. Von Mitgliedern der Gruppe würde er zwar niemals stehlen, jedoch hat er einen Hang dazu, alles, was er in die Finger bekommt, auseinanderzunehmen und macht sich einen Spaß daraus, es hinterher nicht wieder ganz korrekt zusammenzusetzen.
Das klingt erst einmal lustig, aber die strenge Französin scheint von dieser Eigenschaft inzwischen ziemlich genervt zu sein. Seine kindliche Art hat ihm auch seinen Spitznamen eingebracht:
„Pan, so wie Peter Pan, tu sais?“, erklärt Aurélie.
Günter hat seinen hingegen wegen seiner schier unermesslichen Geschichtskenntnisse. Gerade die Ereignisse der letzten 25 bis 30 Jahre sind allzeit abrufbereit in sein Gedächtnis eingebrannt. „Anfangs ´aben wir ihn einmal mitten in der Nacht geweckt, nur um ssu sehen, ob er die ganssen Daten und Fakten tatsäschlisch auch im Schlaf beherrscht wie er immer be`auptet.“, erzählt Aurélie mit einem schelmischen Grinsen, das sie schlagartig 10 Jahre jünger wirken lässt.
„Zuerst war er rischtisch sauer, aber dann `at seine Stolz doch gesiegt und er `at uns seine geballte Wissen nur so um die Ohren ge`auen!“
Bei der Erinnerung an seine Reaktion muss sie ein herzhaftes Lachen unterdrücken.
„Naja, wir sind schon alle auf unsere Art rescht clever, aber die wahre Genie `ier ist Tristan.“, führt sie weiter aus. Er scheint an irgendeinem bahnbrechenden Projekt zu arbeiten, zu dem sie mir aber keine Details nennen möchte.
„Du wirst schon sehen! Es ist erstaunlisch!“, sagt sie nur geheimnisvoll.
Wie ich bereits vermutet hatte, mangelt es ihm dafür aber leider ein wenig an sozialer Kompetenz. Autismus wurde zwar nie offiziell diagnostiziert, aber je nach Tagesform scheint sein Verhalten stark in diese Richtung zu tendieren.
„Und dann sind da noch meine Wenischkeit und natürlich Maddie.“, schließt Aurélie ihre Ausführungen ab. „Isch bin `ier so eine Art Mamam für alle und achte darauf, dass sie nischt völlisch außer Rand und Band geraten. Und Madeleine… nun ja sie ist wie die Sonne: Sobald sie auftaucht sind alle glücklisch.“
Sie lächelt gedankenversunken. Gerade als ich fragen will, wie ich in diese spezielle Konstellation hineinpasse und worum es bei diesem ganzen „Unternehmen“ überhaupt geht, reckt sie sich und gähnt herzhaft.
„Isch bringe Maddie und misch mal besser in unsere Bett. Ansonsten bin isch morgen ssu Nischts ssu gebrauchen und ich fürschte, es wird keine leischte Tag werden. Du solltest auch sehen, dass du noch eine bischen Schlaf bekommst, chérie!“
Damit steht sie auf und geht zum Sofa, von dem sie ihre schlafende Tochter mit einem geübten Griff hochhebt und aus dem Zimmer trägt.
Ich sehe noch, wie Maddie ganz kurz die Augen öffnet, in das Gesicht ihrer Mutter blickt, sich fest an ihre Schulter schmiegt und dann einfach weiterschläft.
Ich fühle mich auch völlig ausgelaugt und erschöpft, aber ich weiß genau, dass ich kein Auge werde zumachen können, solange der Rest nicht wieder wohlbehalten zurückgekehrt ist.
Also beschließe ich, nicht ins Bett zu gehen und kehre stattdessen in das Krankenzimmer zurück, wo ich mit Audrey auf dem Schoss neben unserer Patientin Wache halte.