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Kapitel 4

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Jemand rüttelt sanft an meiner Schulter, ich schrecke ruckartig hoch und schaue mich schutzsuchend um. „Alles gut“, sagt Günter neben mir. „Du hast geschlafen. Wir sind jetzt da.“

Erleichtert atme ich aus und schaue nach rechts zu Tristan, der verlegen meinem Blick ausweicht und dann fluchtartig aus dem Wagen huscht.

„Hast deinen Kopf an seine Schulter gelehnt. Der arme Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschieht“, schmunzelt Günter. „Na komm, bringen wir euch zwei Schlafmützen mal rein, damit ihr was in den Magen und ein ordentliches Bett bekommt.“

Ich blicke runter auf meine Katze, die sich in meinem Schoß zusammengerollt hat und selig vor sich hin schnarcht und muss unwillkürlich lächeln.

„Scheint den Schreck gut verkraftet zu haben.“ Günter zwinkert mir kurz zu, steigt aus und läuft um das Auto herum, um mir die Türe zu öffnen.

Dankbar greife ich wieder nach seiner Hand und steige aus. Audrey Hepburn schaut sich kurz verschlafen um, kuschelt sich wieder an mich und lässt sich dann, ganz herrschaftliche Katze, weiter von mir tragen anstatt sich die Mühe zu machen, selbst zu laufen.

Ich folge Günter über einen kurzen Kiesweg zum Eingang eines großen, baufälligen Gebäudes. In der Dunkelheit kann ich keine Details erkennen, aber es scheint sich um eine Art alte Villa zu handeln, die ziemlich zugewuchert in einem kleinen Wäldchen liegt.

Die Türe steht offen und warmes Licht fällt von innen auf das Ende des schmalen Weges. Günter bleibt kurz stehen und bittet mich mit einer einladenden Geste einzutreten. Dann folgt er mir hinein und schließt die schwere Eichentür hinter uns.

Es scheint sich um eine Art Dienstboten- oder Hintereingang zu handeln, der nicht direkt in den Hauptteil des stattlichen Hauses führt, sondern in einen kleinen Anbau mit dunkler Holzvertäfelung an Wänden und Decke. Der Boden besteht aus einfachen schwarz-weißen Fliesen in nicht mehr ganz intaktem Schachbrettmuster.

Auf der linken Seite hängt eine kleine Garderobe, von der ein vergessener, ausgebeulter Zylinder als stummer Zeuge besserer Zeiten auf uns herabblickt. Neben der Garderobe und auf der ihr gegenüberliegenden Seite befinden sich schlichte, schmale Türen aus dem selben dunklen Holz wie Wände und Decke. In der Schwingtüre zu unserer Rechten ist eine Art Bullauge eingelassen, das den Blick auf einen antiken Ofen und eine Wand voll alter Töpfe und Pfannen freigibt. Offensichtlich führt diese in die Küche, daher vermute ich hinter der anderen Türe das Speisezimmer.

„Willkommen im Baumhaus!“. Günter schenkt mir ein warmes, leicht entschuldigendes Lächeln. „Ist schon ein bisschen älter, das gute Stück, aber ich bin sicher, du wirst dich hier genauso wohl fühlen wie wir.“

Die Tür am anderen Ende des kurzen Flures fehlt und die Angeln hängen verlassen am noch vorhandenen Türrahmen. Dahinter ist eine große Eingangshalle zu sehen, die von einer riesigen Holztreppe mit allerlei Schnörkeln und Schnitzereien dominiert wird. Auch der jahrelange Verfall kann den imposanten Gesamteindruck nicht schmälern und ich erwische mich dabei, wie ich mich mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen um die eigene Achse drehe wie ein staunendes, kleines Mädchen im Süßigkeitenladen.

Die gewaltige Treppe gabelt sich und endet dann in einer Galerie mit hölzerner Brüstung, die sich beinahe über die gesamte Länge des ersten Stockwerks erstreckt. Auch in den beiden Etagen darüber ist dieselbe Brüstung zu erkennen. Die Treppen dorthin befinden sich offenbar seitlich der Galerie, sodass der Eingangsbereich nach oben hin offen bleibt. Von der Halle blickt man somit ungehindert auf die meterhohe, kunstvoll bemalte Decke in deren Mitte ein gigantischer, silberner Kronleuchter prangt. Ein großer Rußfleck in dem aufwändigen Deckengemälde darüber zeugt von den unzähligen Kerzen, die diesen früher einmal gesäumt haben müssen. Mit der Zeit wurden diese aber durch elektrische Glühbirnen ersetzt, die nun ein warmes, einladendes Licht verbreiten.

Der leider ebenfalls schon etwas lädierte Fußboden besteht aus großen weißen Marmorplatten , die von roten und grauen Adern durchzogen sind und zum Teil von einem abgewetzten, rot-goldenen Teppich mit floralen Ornamenten verdeckt werden.

Die Eingangstür ist deutlich eindrucksvoller als die kleine Hintertür, durch die wir hereingekommen sind. Gut drei Meter hohe, weiße Holzrahmen mit aufwendigen Schnitzereien halten wunderschöne Buntglasfenster. Leider kann ich die hierauf verewigten Bilder vor dem dunklen Nachthimmel, der dahinter auszumachen ist, nicht genau erkennen. Das muss ich mir unbedingt im Tageslicht noch einmal genauer ansehen. Überwältigt und mit tausenden Fragen auf den Lippen drehe ich mich wieder zu Günter um, der mich mit einem zufriedenen, kleinen Lächeln beobachtet.

„Wurde aber auch Sseit!“, ertönt da plötzlich eine gereizt klingende Stimme mit starkem französischen Akzent von irgendwo aus dem Erdgeschoss des beeindruckenden, viktorianischen Baus.

„Aurélie, ma chère, ich freue mich auch, dich unversehrt wiederzusehen!“, feixt Günter die große, rothaarige Frau an, die in diesem Moment aus einem der angrenzenden Räume in die große Halle tritt und elegant wie ein Model auf dem Laufsteg auf uns zuschreitet.

Sie ist bildhübsch. Selbst die dünne, blasse Narbe, die quer über ihre rechte Wange verläuft, vermag ihre ansonsten makellose Schönheit nicht zu trüben. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bohren sich ihre hellblauen Augen mit einem stechenden Blick in meine und sie hebt unbewusst ganz kurz die Hand an ihr Gesicht.

„Auf die Tisch stehen ein paar Sandwiches. Das muss reischen. Zu kochen hatte isch keine Lust.“, sagt sie und wirft provokant ihre rote Mähne über die Schulter.

„Hervorragend! Ganz perfekt sogar! Sandwiches, meine absolute Leibspeise!“, jubiliert Günter mit absichtlich übertriebener Euphorie. „Hast du wunderbares Geschöpf auch ein hübsches, kleines Zimmerchen für unseren Gast vorbereitet?“

„Ja, isch ´abe das Bett im blauen Ssimmer bezogen. Isch möschte aber noch einmal darauf `inweisen, dass isch hier nischt die Ssimmermädchen bin! Isch ´abe sischer viele Talente, aber das ist nischt meine Job, non?!“, ereifert sich das „wunderbare Geschöpf“, macht auf dem Absatz kehrt und schreitet mit wütenden, aber immer noch äußerst eleganten Schritten davon.

Auf halbem Weg zur Treppe wirft sie noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter: „Wenn es genehm ist, gehe isch dann nun endlisch ins Bett!“

Kopfschüttelnd läuft sie weiter und verschwindet am Ende der Treppe aus unserem Blickfeld. Nur ihre energischen Schritte und das Öffnen und Schließen einer Türe sind noch aus dem Stockwerk über uns zu vernehmen.

„Mach dir nicht draus.“, seufzt Günter und verdreht theatralisch die Augen. „Sie kann nicht anders. Die Gene oder so. Eigentlich ist sie aber ganz nett, wenn man sie erst einmal richtig kennt.“

Ich bezweifle das stark, will meinem Gastgeber aber höflichkeitshalber lieber nicht widersprechen. „Hat sie was von Sandwiches gesagt?“, frage ich stattdessen hoffnungsvoll.

Günter lacht wieder sein freundliches Lachen, wenn auch diesmal etwas leiser aus Rücksicht vor der eleganten Französin. Oder vielleicht auch aus Angst.

„Folge mir“, fordert er mich auf und geht in die Richtung, in der ich den Speisesaal vermute.

Wir betreten den schummrig erleuchteten Raum durch eine von zwei großen, dunklen Flügeltüren an der rechten Seite der Eingangshalle. Mein Blick fällt sofort auf das silberne Tablett, das den langen, reichlich verzierten Tisch schmückt, der den Saal zu einem guten Teil ausfüllt. Darauf stapeln sich die angekündigten Sandwiches. Bei dem Anblick wird mir schlagartig schlecht vor Hunger und mein Magen meldet sich mit lautem Protestgeheul zu Wort.

„Hau rein!“, fordert mich Günter schmunzelt auf und ich vergesse meine guten Manieren, eile zum Tisch und nehme je eins der ganz köstlich aussehenden Brote in jede Hand.

Tristan, den ich im Dunkeln am Ende des Tisches völlig übersehen hatte, springt auf und verlässt schon wieder fluchtartig den Raum. Scheinbar hat er mir noch nicht verziehen, dass ich ihn während der Fahrt als Kopfkissen missbraucht habe, der arme Kerl. Ich hoffe, dass ich das irgendwann wieder gut machen kann. Im Moment bin ich aber deutlich zu hungrig, um mir deswegen ernsthaft Sorgen zu machen. Im Stehen verschlinge ich vier Sandwiches so hastig, dass mir der letzte halbherzig zerkaute Bissen fast im Hals stecken bleibt und ich geräuschvoll schlucken muss, um ihn meine Speiseröhre hinunter zu befördern.

Belustigt reicht mir Günter wortlos ein Glas Wasser, dass ich ebenso schnell herunterstürze.

„Danke!“, bringe ich danach atemlos hervor und weise dabei auch mit einem Kopfnicken zu Audrey Hepburn, die er netterweise ebenfalls mit einem Sandwich und etwas Wasser versorgt hat, während ich so egoistisch mit meinen eigenen Bedürfnissen beschäftigt war.

Nachdem diese nun erfüllt sind, übermannt mich wieder die Müdigkeit und ich versuche vergebens das in mir aufsteigende Gähnen zu unterdrücken.

„Wie wär’s, wenn ich euch zwei Hübschen mal euer Zimmer zeige?“, fragt Günter und zwinkert mir verständnisvoll zu.

„Das wäre ganz wundervoll!“, antworte ich wahrheitsgemäß und nehme Audrey wieder auf den Arm, die sich zustimmend an mich kuschelt und schnurrend die Augen schließt.

Wir folgen Günter zurück in die Eingangshalle, die Treppe hinauf in den ersten Stock und dann nach rechts den Flur hinunter bis zur letzten Türe auf der linken Seite. Ich bin froh über den dicken, roten Teppich, der unsere Schritte dämpft und mir eine erneute, sicher unerfreuliche Begegnung mit der zornigen Französin erspart.

Mit weit ausholender Geste öffnet Günter die Tür und präsentiert mir das dahinter liegende Zimmer: „Voilà, la chambre bleue!“, sagt er und schaltet das Licht an. Meine Frage bezüglich der interessanten Bezeichnung des Zimmers erübrigt sich in eben diesem Moment.

Ein übergroßes Himmelbett mit hellblauem Baldachin hebt sich dunkel vor dem ebenfalls hellblauen Teppich und der hellblau-weiß-gemusterten Tapete ab. Dahinter kann ich ein großes Fenster mit breiter Fensterbank ausmachen, auf der man bestimmt prima lesen oder seltenen Schneefall bewundern kann. Abgesehen von dem monströsen Bett gibt es nur wenige weitere Möbel: Einen doppeltürigen Kleiderschrank, zwei kleine Nachtischchen mit süßen Schirmlampen darauf, einen einfachen Stuhl und einen hölzernen Paravent mit fragilem Schnitzmuster. Alle aus dem gleichen dunklen Holz wie das Bett.

„Ich lass euch dann mal allein.“, zieht sich Günter höflich zurück als ich erneut erfolglos versuche ein übermächtiges Gähnen zurückzuhalten. Leise schließt er die Tür hinter sich.

Kaum ist sie ins Schloss gefallen gehe schnurstracks zum Bett, setze Audrey behutsam darauf ab und lege mich dann samt Klamotten unter die dicke, natürlich ebenfalls hellblaue Bettdecke.

Die Aufregung des Tages und mein übervoller Magen fordern ihren Tribut und trotz der ungewohnten Umgebung schlafe ich fast augenblicklich ein.

Ein Geräusch reißt mich aus dem traumlosen Schlaf der Erschöpfung. Es ist stockdunkel und zuerst weiß ich nicht, wo ich bin. Das ist definitiv nicht meine Wohnung, stelle ich erschrocken fest und sehe mich panisch nach einer Lichtquelle um.

Dann greifen die müden Zahnräder in meinem Kopf langsam wieder ineinander und mein rasendes Herz beruhigt sich etwas. Das leise Ein- und Ausatmen, der offensichtlich tiefenentspannten Katze am Fußende des Bettes überzeugt es schließlich, zu einer gesunden Frequenz zurückzukehren. Ich konzentriere mich nun stattdessen wieder auf den Ursprung des Geräuschs, das meine wohlverdiente Nachtruhe unterbrochen hat.

Schritte. Schritte auf dem Kiesweg, über den mich Günter wenige Stunden zuvor in das Haus geführt hat. Mein Herzschlag will gerade zu einem neuen Marathon ansetzen, als sich eine aufgekratzte Stimme dazugesellt, die mir wage bekannt vorkommt:

„Oh Mann, das war großartig! Viel besser als ich erwartet hatte! So ein Spaaaß, Freunde!“, trällert sie ausgelassen.

Es folgt zustimmendes Lachen und dann eine weitere bekannte Stimme, die die euphorische Horde ermahnt: „Leise jetzt! Ihr weckt noch das Ganze Haus auf.“

„Spielverderber!“, schallt es beleidigt zurück und wieder wird ausgelassen gelacht.

Eine Tür auf meinem Stockwerk wird leise geöffnet und ich höre die Französin ungehalten zischen: „Sch sch sch, ihr ungehobelten Trampel! Oder wollt ihr Maddie wecken?!“

„Entschuldige, Aurélie.“, kommt die betretene Antwort jetzt aus der Eingangshalle.

„Ja, ja, ab ins Bett mit eusch Streunern!“, vielleicht irre ich mich, aber ich meine einen Hauch von mütterlicher Nachsicht herauszuhören. Dann wird die Türe wieder geschlossen und auch unten kehrt Ruhe ein.

Ich lausche noch ein Weilchen in die Stille. Als ich mich gerade wieder in die weiche Decke kuscheln will, höre ich leise Schritte auf dem Flur, die ganz in der Nähe meines Zimmers stoppen.

„Du Fox...“, die sonst so laute Stimme ist jetzt ganz zart und zerbrechlich wie die eines kleinen Mädchens: „Können wir es ihr wirklich nicht sagen?“

„Das haben wir doch schon hundertmal besprochen, Schwesterchen. Du weißt genau, dass das nicht geht. Und jetzt ab ins Bett mit dir!“, wird sie mit liebevoller Strenge von ihrem Bruder zurechtgewiesen.

Weitere Türen werden geschlossen und während ich versuche, diesem kurzen Gespräch einen Sinn abzugewinnen, fallen mir auch schon wieder die Augen zu.

Freiheit ist...

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