Читать книгу Freiheit ist... - Lena Schneiderwind - Страница 8

Kapitel 5

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Am nächsten Tag werde ich erneut von flüsternden Stimmen auf der Galerie geweckt.

„Aber wie lange will sie denn noch schlafen, Maman?“, fragt eine hohe Mädchenstimme ungeduldig. „Sollen wir nicht besser mal nachsehen? Vielleicht geht es ihr nicht gut oder sie traut sich nicht raus.“

Trappelnde Schritte eilen in Richtung meines Zimmers und werden kurz vor meiner Tür von ihrem deutlich gemesseneren Pendant eingeholt. „Ah ah ah, mon chou chou, du lässt Madame schön schlafen. Sie `at eine `arte Tag hinter sisch.“

So viel Verständnis hätte ich von der langbeinigen Französin nicht erwartet.

Die Schritte entfernen sich wieder und nach einem Blick aus dem Fenster, vor dem die Sonne bereits hoch am Himmel steht und ihr Licht auf die verschneiten Wipfel des kleinen Wäldchens wirft, schwinge ich widerwillig die Beine aus dem Bett. Audrey Hepburn hebt kurz den Kopf von der Decke und sieht mich an als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dann lässt sie den Kopf wieder auf ihre weißen Pfoten sinken und ignoriert mein hektisches Hin und Her durch Schlaf- und angrenzendes Badezimmer.

Auf dem Stuhl liegt ein Haufen ordentlich gefalteter Kleidungsstücke, der am gestrigen Abend sicher noch nicht hier war: Eine dunkelblaue Jeans, ein einfaches weißes T-Shirt und ein kuscheliger, hellblauer Wollpullover, der hervorragend zum Zimmer passt. Außerdem ein Paar dicke Kuschelsocken.

Auch im kleinen en-suite Badezimmer wartet ein ordentlicher Stapel mit frischen Handtüchern, einem Bademantel, einer Zahnbürste und den notwendigsten Kosmetika auf mich. Wie es scheint wurde hier weit mehr getan als nur das Bett bezogen und dafür bin ich nach dem aufreibenden, gestrigen Tag sehr dankbar.

Ich schäle mich aus meinen leicht verschwitzten Sachen, stelle mich in die stilgerecht hellblau gekachelte Dusche und versuche, Stärke und Temperatur des Wasserstrahls durch drehen der beiden altmodischen Hähne auf ein akzeptables Level zu regulieren. Zunächst kommt nur ein dünnes, eiskaltes Rinnsal heraus, das vom knarzenden Protestieren der alten Wasserleitungen begleitet wird. Diese haben sich aber nach einigen Sekunden wieder an die ihnen zugewiesene Arbeit gewöhnt und ich darf eine recht angenehme Dusche genießen, die auch den letzten Rest Müdigkeit abspült.

Widerstrebend verlasse ich die warme Duschkabine, trockne mich ab und schlüpfe in die bereitgelegten Kleidungsstücke. Nachdem ich mir dann auch noch gründlich die Zähne am kleinen, hellblauen Waschbecken geschrubbt habe, fühle ich mich schon fast wieder wie ich selbst.

Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und werfe Audrey einen auffordernden Blick zu. Sie ignoriert mich weiterhin geflissentlich und stellt sich schlafend.

„Na gut, dann eben kein Frühstück für dich, du faules Stück.“, murmele ich und wende mich in Richtung Tür. Ich weiß, Katzen verstehen unsere Sprache nicht wirklich, aber es ist doch bemerkenswert, dass sie immer genau dann, wenn von Essen die Rede ist, plötzlich ganz folgsam werden. Ich habe den Satz jedenfalls noch nicht ganz beendet, da erhebt sich das Tier elegant vom Bett und streckt erst einmal gründlich die langen Beine, bevor sie sich dazu herablässt, mir in den Flur zu folgen.

Mit den kuscheligen Socken sind meine Schritte auf dem dicken Teppich fast genauso leise wie die von Audrey, die genüsslich ihre Samtpfoten in den weichen Untergrund sinken lässt. Bitte nicht kratzen, schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel. Obwohl wir uns noch nicht allzu lange kennen, ist das eine Macke an ihr, die mich in unseren eigenen vier Wänden schon immer in den Wahnsinn treibt.

Ich hoffe daher inständig, dass sie sich nicht auch hier an den antiken Bodenbelägen und wertvollen Möbeln zu schaffen macht. Sie tut mir den Gefallen und läuft brav hinter mir her zur Treppe.

Am oberen Ende bleibe ich kurz stehen und lasse die riesige Eingangshalle noch einmal aus dieser Perspektive auf mich wirken.

Das Deckengemälde strahlt in wunderschönen Blau- und Rottönen herab auf den ebenso strahlend weißen Marmorboden als würden die beiden um meine Aufmerksamkeit wetteifern. Zu meiner Verwunderung fällt aber kaum mehr Licht durch die Buntglasfenster der Eingangstür als am vergangenen Abend, weshalb der Kronleuchter auch zu dieser Zeit bereits von seinen warmen Glühbirnen beleuchtet wird.

Neugierig gehe ich die Treppe hinunter in Richtung der hohen Flügeltüre. Je näher ich komme desto deutlicher zeichnen sich hinter den Fenstern verworrene Schattengebilde ab, deren Ursprung sich mir nicht erschließen will. Als ich direkt davor stehe, presse ich meine Nase gegen das Glas, um besser hindurchsehen zu können.

„Sehr elegant.“, ertönt eine ironische Stimme direkt hinter mir und ich zucke vor Schreck zusammen.

Als ich mich wieder gefasst habe, drehe ich mich langsam um und blicke direkt in die stahlblauen Augen des Blondschopfes, der so freundlich gewesen war, meinen Aufenthalt in der Repro-Klinik zu verkürzen.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“, sagt er höflich, doch in seinen Augen glitzert immer noch der Spott. „Ich bin gestern in all der Eile gar nicht dazu gekommen, mich vorzustellen: Hi, Emilia, ich bin Fox. Schön, dich kennenzulenrnen.“, wieder streckt er mir seine Hand entgegen und dieses Mal greife ich ohne zu zögern zu.

„Vorstellen muss ich mich demnach wohl nicht mehr, aber die Freude ist ganz meinerseits.“, antworte ich im selben, leicht geschwollenen Tonfall.

Belustigt zieht er die rechte Augenbraue hoch und weist dann mit einem Nicken in Richtung Eingangstür: „Hast du ihn schon gesehen?“, fragt er geheimnisvoll.

„Ehm…“, antworte ich eloquent.

„Also nicht.“ Wieder macht er die Sache mit der Augenbraue und greift dann nach beiden Türklinken. „Aufgepasst! Und 1…2…3!“

Damit öffnet er beide Türen gleichzeitig und präsentiert mir den riesigen Baum, der direkt davor durch die Veranda und das Vordach des Einganges gewachsen ist. Seine ausladenden Äste reichen auf beiden Seiten gut acht Meter weit und der Stamm ist so dick, dass man sicher drei Erwachsene aneinanderreihen müsste, um ihn zu umarmen.

Passend zur Jahreszeit hat er sich ganz in elegantes Weiß gehüllt und sieht umso majestätischer aus.

„Das Baumhaus!“, schlussfolgere ich staunend.

„Richtig. Wenn du magst auch „zu Hause“, aber diese Entscheidung überlasse ich dir. Wie wäre es, wenn ich dir jetzt den Rest der Truppe vorstellen würde?“ Mit diesen Worten nimmt er mich wieder bei der Hand und zieht mich sanft in Richtung des Speisezimmers, aus dem fröhliches Stimmengewirr und Geschirrgeklapper zu hören sind.

Ich drehe mich noch einmal kurz nach Audrey Hepburn um, aber die ist noch vollauf damit beschäftigt, jeden Winkel ihrer neuen Umgebung zu beschnuppern und beachtet mich überhaupt nicht. Schulterzuckend überlasse ich sie ihrer Erkundungstour. Sie wird sich schon melden, wenn der Hunger doch wieder dringender wird als ihre Neugierde.

In dem Moment, in dem Fox die Tür zum Esszimmer öffnet, verstummen die heiteren Gespräche wie auf ein lautloses Kommando hin schlagartig. Rund um den großen Esstisch bleiben Besteck und Gläser erwartungsvoll in der Luft hängen und alle sehen zur Tür.

Sofort merke ich, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Ich studiere eingehend meine hübschen, hellblauen Kuschelsocken und hauche ein leises „Guten Morgen“ in den Raum.

Aus den Augenwinkel sehe ich wie Fox den anderen einen ermahnenden Blick zuwirft.

Günter löst sich als erster aus seiner gespannten Starre, legt seine Gabel, auf der sich ein beachtlicher Haufen Rührei türmt, zurück auf den Teller und klopft mit der Hand auf den freien Stuhl zwischen sich und Tristan, der ihm daraufhin einen kurzen, verzweifelten Blick zuwirft.

„Guten Morgen, Fräulein Schlafmütze“, lächelt er mich gutmütig an. „Setz dich doch hier zwischen mich und den guten Tristan!“ Seine freundliche Aufforderung scheint auch die anderen an ihre guten Manieren zu erinnern. Nachdem ich mich auf den angebotenen Stuhl gesetzt habe, beeilen sie sich, mir ebenfalls einen guten Morgen zu wünschen und mir von Orangensaft bis hin zu frischen Croissants, die wirklich verführerisch duften, alles anzubieten, was sich auf der reich gedeckten Tafel finden lässt.

Selbst die Französin hält mir eine dampfende Tasse entgegen und sagt in ihrer eigenen, kühlen Art: „Na endlisch, isch dachte schon, isch `ätte den `ier ganz umsonst gekocht. Normale Menschen trinken nämlisch Kaffee zum Frühstück, oui?“

„Ach Aurélie, chérie, was ist denn heutzutage schon normal?“, lenkt Fox ein. Während der Rest zustimmend nickt, quittiert sie seine Bemerkung zumindest mit einem kurzen, beipflichtenden Schulterzucken.

„Ich wusste, dass dir meine Sachen passen!“, platzt eine junge Frau, die mir direkt gegenüber sitzt erfreut heraus.

Als hätte sie etwas Falsches gesagt, wendet sie danach sofort den Blick von mir ab und rührt konzentriert in ihrer Müslischüssel. Ich erkenne sie sofort an ihrer Stimme und der blonden Lockenmähne: Das muss wohl Fox’ Schwester sein.

„Oh, die sind von dir?“, frage ich in meinem freundlichsten Tonfall. „Vielen, lieben Dank für’s Ausleihen!“ Sie sieht zwar nicht zu mir auf, aber das zufriedene Lächeln, das über ihr Gesicht huscht, ist trotzdem nicht zu übersehen.

„Ich glaube, wir wurden uns noch gar nicht vorgestellt.“, meldet sich der Mann neben ihr zu Wort. Seine blauen Augen sehen mich offen und freundlich an und er streckt mir quer über den Tisch die Hand entgegen. Ich stehe auf und will gerade danach greifen, um mich ebenfalls vorzustellen, als Günter sich neben mir ruckartig erhebt und den Mann mit mahnender Stimme auffordert: „Umdrehen!“ Dabei deutet er auf dessen ausgestreckte Hand.

Mit einem verschmitzten Zug um den Mund dreht der Mann, dem die unordentlichen hellbraunen Haare in die Augen fallen, seine Handfläche nach oben und präsentiert einen kleinen Gegenstand, der dort irgendwie befestigt zu sein scheint. Fragend blicke ich vom einen zum anderen.

„Nun, meine liebe Emilia, das ist Pan, unser Klassenclown. Und das“, Günter weist auf den Gegenstand in Pans Hand, „ist einer seiner ältesten Tricks.“

„Ich nenne ihn „die schockierende Begegnung“!“, äußert sich Pan nun auch selbst ganz stolz dazu und streckt mir erwartungsvoll die geöffnete Handfläche entgegen. Zögernd berühre ich den kleinen Gegenstand darin ganz leicht mit der Spitze meines Zeigefingers und zucke zurück als mich ein kleiner Stromstoß durchfährt.

„He!“, rufe ich in gespielter Empörung. Eigentlich bin ich ganz dankbar für die kleine Showeinlage, die die Stimmung am Tisch deutlich aufgelockert hat. „Sorry!“, Pan hebt entschuldigend beide Hände über den Kopf. „Ich kann nicht anders. Ist angeboren.“, erklärt er schmunzelnd.

Ich muss lachen und als der Rest mit einstimmt, habe ich fast schon das Gefühl, dazuzugehören.

Etwas gelöster wage ich es, nach einem der duftenden Croissants zu greifen. Da wird plötzlich die Türe aufgerissen und ein kleines rothaariges Mädchen mit niedlichen Sommersprossen auf Nase und Wangen kommt aufgeregt herein gehüpft.

„Mamam, mamam! Sieh mal, sie mag mich!“, ruft sie begeistert und zeigt stolz auf Audrey Hepburn, die mauzend hinter ihr her läuft. Die elegante Französin, die mit dem Rücken zur Tür neben Pan sitzt, dreht sich nach ihr um und sagt sanft: „Das ist sehr schön, mon chou chou, aber ´ast du nischt was vergessen?“

„Oh, Entschuldigung.“, antwortet die Kleine, sieht kurz betreten auf ihre Schuhspitzen und läuft dann artig um den Tisch herum, um mir höflich ihre kleine Hand entgegenzustrecken.

„Ich bin Madeleine, schön Sie kennenzulernen, Madame.“, sagt sie formvollendet. Ich stehe auf, hocke mich vor sie hin und schüttele ernst ihre Hand wie man es bei einem Erwachsenen tun würde.

„Hallo Madeleine, ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich bin Emilia und deine neue Freundin“, ich deute auf die Katze, die sich zu Füßen der Kleinen niedergelassen hat, „heißt Audrey, Audrey Hepburn um genau zu sein.“

„Audrey…“, überlegt das Mädchen laut. „Was für ein schöner Name!“ Sie mustert mich kurz von oben bis unten und scheint dann einen Entschluss zu fassen: „Du darfst mich Maddie nennen!“, verkündet sie und strahlt mich an. Ich freue mich sehr, über diese Ehre und muss unwillkürlich zurück lächeln.

„Wenn du magst, kannst du Audrey ja vielleicht etwas zu essen geben.“, schlage ich vor und werde mit leuchtenden Augen belohnt. Sicherheitshalber werfe ich aber noch einen fragenden Blick in Richtung ihrer Mutter, die mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen gibt, dass das in Ordnung wäre. Vielleicht täusche ich mich, aber ihr Blick scheint mir jetzt nicht mehr ganz so kühl und abweisend wie bisher.

„Sie würde sich sicher über ein bisschen Wurst oder Ei freuen.“, erkläre ich Maddie und fülle ihr einen Teller mit ein paar Happen Schinkenwurst und Rührei. Audrey fixiert diesen gierig und leckt sich in stiller Vorfreude die Lippen. Das Mädchen nimmt den Teller freudig entgegen und hüpft wieder Richtung Eingangshalle. „Komm Audrey“, flötet sie. „Ich hab lecker Happihappi für dich!“.

Das lässt sich meine immer hungrige Katze natürlich nicht zweimal sagen und läuft kläglich mauzend hinter der Kleinen her, als hätte sie seit drei Wochen schon nichts Essbares mehr gesehen. Kurz bevor die beiden aus der Türe schlüpfen können, hält die Französin ihre Tochter an der Schulter zurück. Das Mädchen bleibt folgsam stehen und ihre Mutter nimmt ihr Gesicht in beide Hände und sagt liebevoll: „Das `ast du wunderbar gemacht, meine großartige Kind!“

Der harte Zug um ihren Mund ist wie weggeblasen und in ihren Augen steht so viel Stolz und Liebe, dass ich gerührt wegsehen muss. Ich muss sofort an meine eigene Mutter und unsere eher schwierige Beziehung denken und spüle den Kloß, der sich in meinem Hals zu bilden droht, lieber schnell mit einem großen Schluck Tee herunter.

„Großartiges Kind.“, verbessert die Kleine ihre Mutter und drückt ihr schnell noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie davon eilt, um Audrey ihr „Happihappi“ zu geben.

„Ein tolles Mädchen.“, sage ich und meine es auch so.

„Danke, sie ist das Beste, das isch je zu Stande gebracht ´abe.“, antwortet ihre Mutter und in ihrem Gesicht spiegelt sich eine Flut widersprüchlicher Gefühle.

„So, da wir nun alle ausgeschlafen und einigermaßen satt sind“, meldet sich Fox zu Wort, „würde ich vorschlagen, wir spielen das lustige Spiel „Wer bin ich und was zum Teufel mache ich hier eigentlich?“. Wer ist dabei?“

In der Erwartung, endlich ein paar Antworten auf all die Fragen zu erhalten, die mir seit unserer spektakulären Flucht durch den Kopf spuken, reiße ich die Hand nach oben und ernte dafür beifälliges Gelächter.

„In Ordnung. Ich würde sagen, dann fange ich am Besten einfach mal an.“, leitet Fox die Vorstellungsrunde ein.

„Wie du sicher bereits vermutest, bin ich ein Level 5 Bürger und gehöre damit zum sogenannten Bodensatz der Bevölkerung.“. Er sagt das mit einer guten Portion Stolz und nimmt der abfälligen Bezeichnung so die Härte.

Rings um den Tisch werden Gläser und Tassen erhoben und alle prosten ihm zu als wollten sie ihn in ihrer eingeschworenen Gemeinschaft willkommen heißen. „Hua!“ Der Schlachtruf kommt von Günter, der seinen dampfenden Kaffee wie einen hart erkämpften Pokal Richtung Decke streckt.

Fox nimmt die Zustimmung mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und fährt dann mit der ihm eigenen Ironie fort: „Wie du weißt, gibt Väterchen Staat jedem Mitbürger dieselbe Chance und ich wurde demnach nicht als Level 5 geboren. Was habe ich mir also zuschulden kommen lassen, um so tief zu sinken? Nun, meine Geschichte ist wohl so alt wie die Zeit selbst: Ich verliebte mich in die falsche Frau. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte.“, wieder zieht er spöttisch die rechte Augenbraue hoch.

„Ihr Vater fand den Umgang, den wir hegten, allerdings alles andere als wünschenswert und mit Hilfe seiner guten Kontakte zur Regierung ließ er mich aus dem Wege räumen. Ich wurde in eine nette, kleine Besserungsanstalt irgendwo tief, tief im Nirgendwo gesteckt, in der ich den Rest meines minderwertigen Lebens fristen sollte.

Wie du unschwer erkennen kannst, ist es dazu nicht gekommen. Und damit wären wir bei meiner besseren Hälfte angekommen: Meiner Zwillingsschwester Flora.“, schließt er und überlässt der Frau mit der unverkennbaren, blonden Mähne und der spannenden Müslischüssel das Wort.

Sie wirkt ein wenig nervös als sie den Blick hebt und kurz ergänzt: „Hi, vorstellen muss ich mich dann, denke ich, nicht mehr und der Rest dürfte auch schon klar geworden sein: Ich hab` meinen Bruder da raus gehauen!“ Sie hebt kurz trotzig das Kinn, bevor sie meinem Blick schnell wieder ausweicht.

„Sei nicht immer so bescheiden.“, tadelt Fox sie liebevoll. „Sie hat denen gehörig den Allerwertesten aufgerissen und mich in einer spektakulären Nacht-und-Nebel-Aktion vor meinem traurigen Schicksal bewahrt. Ich schulde ihr sozusagen mein Leben.“

Das lockt Flora aus der Reserve. Sie hebt den Kopf und sagt energisch: „Du bist mein Bruder, verdammt! Ich konnte dich doch nicht diesen Barbaren überlassen!“

„Außerdem hatte ich Hilfe.“, setzt sie mit einem kurzen Blick zu ihrem Nebenmann mit den zerzausten, braunen Haaren hinzu. Dann sieht sie wieder den paar übrig gebliebenen Müslistücken zu, die noch in einem letzten Schluck Milch durch ihre Schüssel treiben.

Pan springt begeistert auf: „Gestatten, Pan. Vollzeit Querulant, Straßengauner, Weiberheld und Technikfreak. Stets zu Diensten, wenn es darum geht, etwas zu reparieren... oder zu zerstören; je nach dem, was gerade so angesagt ist.“ Der Text klingt ein wenig einstudiert, aber er ist sichtlich zufrieden mit seiner Performance.

„Ich hab‘ gestern deine Doppelgängerin gefahren. Wir haben die Jagdhunde der werten Frau Doktor ganz schön verarscht! Was für ein Spaß!“, setzt er mit einem breiten Grinsen hinzu.

Kurz blitzt das Bild des dritten Motorrads vor meinem inneren Auge auf wie es zeitgleich mit uns die Fata Morgana Mauer durchschießt.

„Leider muss ich mich jetzt auch schon verabschieden und meinen Sozius von der Arbeit abholen.“ Er winkt kurz in die Runde und verlässt das Zimmer. Wenige Sekunden später klingt entferntes Motorheulen durch die unzähligen, bodentiefen Fenster, die das Speisezimmer säumen.

„Was könnte es Wischtigeres geben als irgendeine Rock `interer ssu jagen.“ Die Französin verdreht theatralisch die Augen und fährt dann fort: „Dann mache isch wohl einfach mal weiter. Salut, meine Name ist Aurélie. Isch war Model, bevor diese Branche auf der schwarzen Liste der Regierung gelandet ist.“

Eine nicht wirklich überraschende Information in Anbetracht ihres bewundernswerten Äußeren. Models und alles, was man mit ihnen in Verbindung bringen kann, wurden vor circa zehn Jahren in die lange Reihe der „Objekte mit zu großem Abhängigkeitspotenzial“ aufgenommen und die Branche umgehend eingestampft. Zu diesem Zeitpunkt kein wirklich großer Verlust mehr, denn es gab ohnehin kaum noch etwas, was sie hätten bewerben können. Werbung war schon damals nur den Level-1-Bürgern vorbehalten und hier versuchte man, wenn möglich, auf Anreize wie hübsche, junge Frauen zu verzichten.

„Danach wurde isch Krankenschwester, isch verliebte mich, `örte auf ssu arbeiten und wurde `ausfrau und Mutter.“ Letzteres sagt sie mit unverkennbarem Stolz. Dann wird ihre Miene wieder ernst.

„Meine Mann, eine wie er ssu sagen pflegte `ohe Tier“ in die Regierung, kam mit die Druck auf der Arbeit nischt ssurescht. Er fing an ssu trinken und wurde gewalttätig.“ Unbewusst hebt sie wieder kurz die Hand zu der langen Narbe auf ihrer Wange.

„Nun und dann `abe isch,“ sie gerät ins Stocken. „Dann `abe isch ihn verlassen.“, schließt sie kurz, schiebt ruckartig ihren Stuhl zurück, steht auf und sagt mit brüchiger Stimme: „Isch sehe mal besser nach Maddie.“

Damit verlässt sie fluchtartig das Zimmer und hinterlässt betretenes Schweigen.

Günter ist wieder der erste, der sich fängt. „Gewalttätig!“, schnaubt er verächtlich. „Windelweich hat er sie geprügelt, der Bastard. Zum Ende hin mindestens einmal pro Woche, wenn er sich mit seinen Kumpels nach dem Dienst so richtig abgeschossen hatte.

Ihr Gesicht hat er natürlich immer verschont, um den schönen Schein zu waren. Aber ihre ehemaligen Kolleginnen mussten sie mehr als einmal wieder zusammenflicken. Es fing kurz nach der Geburt der Kleinen Maddie an. Offenbar kam er mit den Freuden des Vaterseins nicht zurecht. Er wurde regelrecht eifersüchtig auf das Kind und ließ den Frust an seiner Frau aus. Zunächst nur verbal, aber über die Jahre wurde es immer schlimmer und schlimmer.“

„Warum hat sie ihn denn nicht schon viel früher verlassen?!“, werfe ich aufgebracht ein.

„So ein „hohes Tier“ verlässt man nicht einfach so, wie du dir sicher denken kannst.

Wahrscheinlich hätte sie es trotzdem getan. Sie ist eine stolze Frau. Aber sie hatte wahnsinnige Angst, dass er ihr Maddie wegnehmen würde. Und das hätte er mit Sicherheit auch getan. Wenn nicht sogar Schlimmeres.“, antwortet Günter niedergeschlagen.

„Aber schließlich hat sie es doch getan!“, folgere ich.

„Richtig. Vor ungefähr zwei Jahren, Maddie war gerade fünf, setzte er Aurélie so heftig zu, dass unsere kleine Heldin es nicht mehr aushielt und dazwischen ging. In seiner Raserei machte der Irre nicht mal Halt vor seiner eigenen Tochter. Da hat Aurélie rot gesehen. Wie eine Furie ist sie auf ihn losgegangen.

Hat ihr eine hübsche Wunde im Gesicht beschert, aber gegen die Wut einer Mutter kommt eben selbst ein ausgebildeter Soldat nicht an. Hat ihn mit einer Blumenvase k.o. geschlagen und dann mit der Kleinen das Weite gesucht.

Fox` Freundin, Meiling - ich glaube, du hast sie gestern kurz kennenlernen dürfen - hatte schon länger ein Auge auf Aurélie und mehrfach versucht, sie zur Flucht zu bewegen. Sie kontaktierte uns, als die zwei verängstigt vor ihrer Tür auftauchten und dann haben wir sie, ähnlich wie bei dir gestern, da raus geholt.“

Als er zum Ende der Geschichte kommt, stelle ich fest, dass ich meine Finger in die Armlehnen meines Stuhls gekrallt habe, um das wütende Zittern zu unterdrücken, das meinen ganzen Körper erfasst hat.

„Naja, jetzt sind die zwei jedenfalls hier und in Sicherheit. Und, wie du gesehen hast, hat Maddie das Ganze mittlerweile recht gut verarbeitet.“, sagt Günter beruhigend. „Außerdem hat uns ihre Rettung auch um unser Genie hier bereichert.“

Er weist mit einem anerkennenden Blick rüber zu Tristan, der die ganze Zeit über still dagesessen und eine Scheibe Toast in perfekte, kleine Quadrate zerteilt hatte, die jetzt alle exakt dieselbe Größe haben.

„Wie er sie behandelt hat, das war nicht in Ordnung.“, sagt er bestimmt und ohne den Blick von seinen Toast-Quadraten zu wenden. „Wenn man die Möglichkeit hat, das Richtige zu tun, dann muss man das auch tun.“

„Der junge Mann hier hat uns damals auf jeden Fall ganz schön den Arsch gerettet. Ohne ihn säßen wir jetzt alle in irgendeiner Besserungsanstalt oder würden Frau Doktor Dorsch und ihrer Bande von hirnamputierten Stümpern als Versuchskaninchen dienen.“

„Ihr habt mich mitgenommen. Also sind wir wohl quitt.“, winkt Tristan ab. Dann steht er etwas linkisch auf und verlässt beschämt das Zimmer ohne noch einmal den Blick zu heben.

„Er war einer ihrer leitenden Wissenschaftler, musst du wissen. Auch wenn sie ihn nach allem, was ich bisher so aus ihm herausbekommen habe, eher wie einen dressierten Affen behandelt haben. Aber er war auf jeden Fall der klügste Kopf in dem ganzen Bumms da. Damals hieß es natürlich noch nicht Repro-Zentrum. Das haben sie ja offiziell gerade erst eröffnet.

Aber da liefen schon diverse Versuche und irgendwelche Studien. Alles nicht ganz koscher, wenn du mich fragst.

Aurélies Kolleginnen haben uns bei der Flucht geholfen, deshalb ging es damals nicht durch den Seiteneingang, sondern durch den Krankenflügel und die Labore. Wir saßen richtig in der Falle und wären niemals rechtzeitig entkommen. Da tauchte plötzlich Tristan auf und hat so eine Hochsicherheitschleuse zwischen uns und den Sicherheitsbeamten geschlossen. So ein Ding, das sich, wenn es einmal zu ist, erst nach Minuten wieder öffnen lässt.

Damit hat er uns den notwendigen Vorsprung verschafft, um doch noch heil da raus zu kommen. Natürlich haben wir ihn gleich mitgenommen. Wir hätten den armen Kerl ja auch kaum da lassen können. Nach der Aktion hätten sie weiß Gott was mit ihm angestellt.“

Ich bin ziemlich überrascht und ehrlich beeindruckt. So viel Courage hatte ich dem eher schüchternen und auf sozialer Ebene offensichtlich etwas unbeholfenen Tristan gar nicht zugetraut.

„So, nachdem ich jetzt mal wieder unaufgefordert in der Lebensgeschichte anderer Leute herumgestochert habe, wird es wohl Zeit, meine eigene zumindest kurz anzureißen. Leider ist die nicht halb so spannend, aber sie füllt wohl dennoch eine wichtige Lücke in der Entstehungsgeschichte unserer kleinen Rasselbande hier. Wie du bereits weißt, heiße ich Günter. Mein Nachname tut nichts zur Sache und der Rest nennt mich sowieso nur „Brockhaus“. Ich hab’s aufgegeben, mich dagegen zu wehren, also tu`, was du nicht lassen kannst.“, fährt Günter schulterzuckend fort.

„Ich war Geschichtsprofessor und kam eigentlich mit allen immer recht gut zurecht, bis ich anfing, gewisse Dinge zu hinterfragen. Ich motivierte meine Studenten, das ebenfalls zu tun. Bald schon diskutierten wir intensiv über die Entwicklungen der letzten zehn Jahre und stießen dabei natürlich früher oder später auch auf die Frage, ob die Maßnahmen der Regierung wirklich alle so berechtigt waren, wie man uns glauben lassen wollte. Einer meiner aufgeweckteren Studenten war übrigens der junge Fox hier.“, er nickt dem Lockenkopf kurz zu, der das Nicken höflich erwidert.

„Nun ja, es kam, wie es kommen musste. Sie nahmen mir alles: Den Job, das Haus, den guten Ruf und was sie sonst noch in die Finger kriegen konnten. Selbst meine Schallplatten-Sammlung! Das war, im Nachhinein betrachtet, im Grunde das Schlimmste an der ganzen Sache.

Ich zog mich daraufhin in das schöne, alte Gemäuer hier zurück, da ich wusste, dass mich hier wohl niemand suchen würde. Dazu war ich dann doch zu unbedeutend und während meiner Jahre als Professor hatte mir einmal ein Vögelchen gezwitschert, dass es hier im Wäldchen eine alte Villa gibt, die nirgendwo verzeichnet ist. Der perfekte Ort, um auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden.

Dachte ich. Bis es an einem verregneten Abend plötzlich an der Tür klopfte und mein ehemaliger Student hier samt Zwillingsschwester und dem vorlauten Pan triefnass auf der Türschwelle stand und um Asyl bat.

Wie drei ausgesetzte, völlig durchnässte Welpen standen sie da. Wer hätte da nein sagen können?!

Naja und so haben wir uns also alle gefunden: Eine große, glückliche Familie.“, schließt Günter seinen Redeschwall und lehnt sich zufrieden grinsend in seinem Stuhl zurück.

„Puuuh!“, seufze ich beeindruckt und erschüttert zu gleich. „Dagegen scheint mir meine Geschichte nun gar nicht mehr so spektakulär und unglaublich wie noch vor ein paar Stunden. Achso, der Vollständigkeit halber sollte ich mich wohl trotzdem auch kurz vorstellen: Hi, ich bin Emilia.“, sage ich in die nun deutlich kleiner gewordene Runde.

„Wissen wir doch.“, antwortet Fox und zwinkert mir geheimnisvoll zu.

„Wir wissen so ziemlich alles über dich. Wobei… eine Sache wäre da, die sich hier keiner so richtig erklären kann. Die Frage brennt mir seit gestern unter den Nägeln und ich muss sie jetzt einfach stellen: Deine Katze heißt Audrey Hepburn?!“

Er sieht mich an als wäre ich völlig bescheuert und ich muss unwillkürlich lachen.

„Naja, das ist eine lange Geschichte.“, antworte ich immer noch glucksend. „Ich will es mal so erklären: Manchmal spielt einem das Schicksal unzumutbaren Vanille-Pudding-Plunder Tee zu, aber manchmal auch einen romantischen schwarz-weiß Film, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt.“

Die drei sehen mich immer noch etwas verständnislos an, aber ich finde, es gibt im Moment Wichtigeres zu besprechen. Ich nehme all meinen Mut zusammen, blicke Fox fest in die Augen und stelle erneut die Frage, die mittlerweile ununterbrochen durch meine Gehirnwindungen kreist: „Hör mal, ich will wirklich nicht undankbar erscheinen. Im Gegenteil: Ich bin dir und euch sogar unendlich dankbar, dass ihr mich gestern da rausgeholt habt. Aber ich würde jetzt doch gerne wissen, was hier eigentlich los ist.“

Meine Stimme klingt verzweifelter als beabsichtigt und ich stelle fest, dass meine Nerven nach all der Aufregung und der Ungewissheit nun wirklich blank liegen.

Dafür ernte ich nun auch deutlich verständnisvollere Blicke als für den Namen meiner Katze.

Fox nimmt neben seiner Schwester Platz und setzt zu einer Erklärung an: „Glaub mir, Emilia, ich kann voll und ganz nachvollziehen, wie du dich gerade fühlst. Es tut mir unendlich leid, dass wir dich so überrumpelt haben, aber du wirst sicher verstehen, dass es keine andere Möglichkeit gab. Das Wichtigste daher schon einmal vorab: Wir sind auf deiner Seite. Keiner von uns will dir schaden und wir werden dich hier zu nichts zwingen.

Wir sind auf deine Hilfe angewiesen und wir hoffen, dass du uns diese freiwillig zuteil werden lässt. Wenn nicht, steht es dir frei zu gehen, wann immer du willst. Wie du also schon richtig vermutet hast, bist du aus einem bestimmten Grund hier. Ich muss leider etwas ausholen, um alles…“.

In diesem Moment hören wir ein Fahrzeug, das mit Vollgas über den Kiesweg auf der Rückseite des Gebäudes rast und mit quietschenden Reifen unsanft zum Stehen gebracht wird.

Fox, Flora und Günter springen alle gleichzeitig auf und postieren sich schützend um mich herum. Dann wird die kleine Seitentür des Esszimmers aufgerissen und Pan steht völlig abgehetzt im Türrahmen.

Er ist kreidebleich und zittert am ganzen Körper.

„Meiling!“, bringt er völlig atemlos hervor. „Sie wissen es!“

Freiheit ist...

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