Читать книгу Ceras Abenteuer - Das Geheimnis der schwarzen Stute - Lena Wege - Страница 12
2. Das Hindernis
ОглавлениеEin paar Minuten später stapfte Cera aus dem Haus. Sie trug schwarze, wenn auch etwas dreckige Reitstiefel sowie eine abgenutzte hellbraune Reithose und ein graues T-Shirt. In ihrem Rucksack befanden sich eine Wasserflasche, ein Apfel für den kleinen Hunger und zwei Karotten für den kleinen Hunger von ihrem Lieblingspferd Apple. Sie setzte sich den Rucksack auf den Rücken und den Reithelm auf den Kopf, holte ihr altes Fahrrad aus der Garage und schwang sich in den Sattel. Cera bretterte den staubigen, schmalen Feldweg hinunter und holperte ins Dorf.
Cailie wartete schon am Ortsrand am Ende des Feldwegs. Sie saß bereits auf ihrem hübschen Wallach. Cailie hieß mit vollem Namen Acalia Blautann. Cailie war nur ihr Spitzname, der ihr irgendwann in der zweiten Klasse von einem gehässigen Viertklässler verpasst worden war, weil dieser der Ansicht war, sie würde aussehen wie ein amerikanischer Teenie-Star und bräuchte deswegen auch einen englischen Namen. Cailie wurde nämlich genauso ausgesprochen wie Keili. Cailie war ziemlich hübsch, schlank und eigentlich immer gut gelaunt. Sie hatte weißblondes, schulterlanges Haar, helle Wimpern und Augenbrauen, die ihre großen tiefblauen Augen umrahmten. Ihre Haut war wie Ceras sehr blass. Deswegen sahen ihre Lippen manchmal ein bisschen zu rot aus, fast so, als wären sie mit kirschrotem Lippenstift angemalt. Genau aus diesem Grund stand ihr die Farbe sehr gut.
„Hallo Cera!“, rief Cailie schon von Weitem und trabte mit Prince Danny auf sie zu.
Oh Mann, wie leicht das aussah! So elegant ... Cera betrachtete das Warmblut mit einem verliebten Blick, sodass sie gar nicht merkte, dass sie beinahe eine Katze mit dem Fahrrad überrollt hätte, wenn Cailie nicht „Achtung!“ gerufen hätte. Cera zog augenblicklich die Bremse an und purzelte über den Lenker. Keuchend blieb sie auf der Straße liegen. Zum Glück kam hier nur jede Viertelstunde ein Auto entlanggetuckert.
Cailie stieg kopfschüttelnd ab und half Cera lächelnd auf. „Du und dein Tick, von dem wirst du noch ganz verrückt!“ Sie nannte Ceras Schwäche, immer mit den Gedanken bei den Pferden zu sein, ihren Tick.
„Ich hab das eigentümliche Gefühl, dass ich schon längst verrückt bin. Wenn ich jetzt ein Pferd hätte und du keins, dann würde ich nicht mehr so leicht in meinen Träumen verschwinden“, jammerte Cera gekränkt und kratzte sich am Kopf.
„Schon gut“, lachte ihre Freundin. „Dagegen gibt es nur eine Medizin: Ich leih dir mein Dickerchen aus und du gibst mir das Fahrrad.“
Schlagartig hellte sich Ceras Mine wieder auf. Blitzschnell saß sie im Sattel, ohne auch nur einen Steigbügel zum Aufsteigen benutzt zu haben. Und ehe sich Cailie versah, hatte Cera sie zu einem Wettrennen herausgefordert. Als Cailie gerade auf Ceras Drahtesel gestiegen war, befanden sich diese und Prince Danny schon am Ende der Straße. Cailie versuchte, Schritt zu halten oder zumindest aufzuholen, doch irgendwann blieb sie erschöpft zurück und Cera wartete auf sie. So fuhren beziehungsweise ritten sie zum Reitstall.
Der Borninger Reitstall war groß und aus festem Stein gemauert. In den weißen Putz waren glitzernde Mineralien und Strohhalme eingelassen, die roten Ziegel lagen ein wenig krumm auf dem flachen Dach. Es gab eine große Koppel, die an den Stall angeschlossen war, und einen kleinen, sumpfigen Reitplatz. Eine Reithalle gab es nicht, man ritt bei jedem Wetter draußen. Das war auch die Erklärung, weswegen der Platz so aufgeweicht war, von den schweren Pferdehufen zertrampelt und umgegraben. Cailie stellte prustend das Rad ab und Cera überreichte ihr die Zügel.
Sogleich rannte Cera zum Stall und schnappte sich ein Halfter. Knarzend schob sie die schwere Stalltür beiseite. Apple wieherte ihr von einer der letzten Boxen am Ende des Gangs zu. Schnaubend wippte er mit dem Kopf, froh, sie zu sehen. Apple war ein deutsches Reitpony, wenn auch kein reinrassiges, und hatte graues Fell, das an der Kruppe hell geäpfelt war. Cera strubbelte ihm durch den cremefarbenen Schopf und zog ihm das notdürftig geflickte Halfter über die Ohren. Sie schloss das Halfter auf der anderen Seite des Kopfes und hängte einen Strick in den Ring. Cera öffnete die Boxentür und führte Apple die staubige Stallgasse entlang. Draußen band sie ihn an und putzte ihn.
Apple hatte das Glück, apfelschimmelgraues Fell zu haben, das war eine von vielen praktischen Tarnfarben. Man sah nie irgendwelchen Schmutz, aber wenn man einmal mit der Bürste drüberfuhr, meinte man, das Pferd wäre jahrelang eingestaubt. Leider hatte Apple auch das Pech, dass Cera ihn immer putzte, denn bei ihr musste man so lange stehen bleiben und dieses Schrubben über sich ergehen lassen, bis man schrecklich sauber war. Apple konnte das nicht leiden. Deswegen wälzte er sich immer gleich wieder im Dreck, nachdem Cera weg war. Als Cera nach dem Putzen den Sattel und die Trense holte, versuchte er, den Huf wieder in einen Pferdemisthaufen zu stellen, aber bedauerlicherweise war dieser zu weit entfernt.
„So, jetzt alle mal aufsteigen!“, rief Maggy, die Reitlehrerin, die gerade um die Ecke kam. Maggy war auch nur ein Spitzname, eigentlich hieß sie Magdalena. Sie war kaum älter als zwanzig. Sie trug blaue Reithosen und hatte wie immer einen braunen Pferdeschwanz.
Cera gurtete gerade noch einmal nach. Apple war Ceras Meinung nach der, der sich immer am meisten aufblies, kaum dass man einen Sattel auf seinen Rücken legte. Und zwar schrecklich. Doch wie immer ging es irgendwie, den Gurt noch ein Loch enger zu schnallen, und Cera führte Apple auf den Platz.
Die Reitgruppe bestand aus sechs Mädchen. Einige davon hatten ihre eigenen Pferde mitgebracht, denn an Turnieren durfte man sie immer teilnehmen lassen. Zuerst machten sie eine Aufwärmübung und sprangen über ein paar kleine Kreuze. Die Reitgruppe übte für das Mannschaftsturnier. Dabei traten viele kleine Reitgruppen gegeneinander an. Es gab verschiedene Spiele, bei denen jeweils einer der Gruppe an den Start ging. Wenn er gewann, wurden diese Punkte seiner Mannschaft gutgeschrieben.
Als die Mädchen alles Mögliche ausprobiert und geprobt hatten, meinte Maggy: „Ich denke, ihr seid jetzt bereit und sehr gut vorbereitet. Ich bin mir sicher, dass wir einen guten Platz erzielen werden ... Am letzten Sonntag jedoch kam ein Brief von dem Veranstalter des Turniers, ein Mann namens Herr Borkin. Er hat geschrieben, er hätte sich schon viele Spiele ausgedacht, aber es gäbe da noch was. Es wäre nämlich noch ein Teil des Wettkampfs, dass jede Mannschaft sich eine eigene persönlich entworfene Aufgabe ausdenkt. Es kann ein Spiel sein, ein Hindernis oder sonst etwas, wobei man gegeneinander antreten kann. Auch wir müssen das natürlich tun. Ich denke, wir machen es uns erst mal gemütlich.“
Nach dieser Feststellung banden alle die Pferde an. Dann lief Maggy in die Sattelkammer und holte Papier und Stifte. Eva und Sally stellten einen großen Klapptisch im Schatten der Bäume auf und verteilten Stühle darum. Da es aber zu wenig Stühle waren, kraxelte Cera eben auf die große Eiche über den anderen, lehnte sich an einen Ast und schaute zu.
Zuerst mal waren sich alle einig. Sie würden sich ein Hindernis einfallen lassen. Es sollte etwas richtig Außergewöhnliches werden.
„Ich denke, wir bauen eine Mauer aus Steinen, die schön bunt und knallig sind“, überlegte Paulette.
„Aber nein, wie wollen wir denn dieses Hindernis zum Turnier bringen? Wir müssten es vielleicht zusammenkleben oder ... einfrieren.“ Maggy schüttelte den Kopf.
„Einfrieren! Das ist es doch“, rief Nika laut. „Wir machen einen ganz großen Eisklotz und darin frieren wir Playmobilfiguren ein!“
„Playmobilfiguren? Also, zu verrückt sollte das nicht rauskommen ...“, ereiferte sich Sally misstrauisch und beäugte eine Fliege, die auf dem Tisch herumkrabbelte.
„Oder ... na ja, vielleicht ein bisschen Obst, Birnen oder so. Was Pferde eben auch fressen“, legte Nika nach.
„Na also, Nika, hör mal, für den Eisklotz müssten wir schon Wochen zuvor anfangen, Wasser einzufrieren. Allerdings haben wir jetzt nur noch zwei Tage Zeit bis zum Wettkampf“, sprach sich Eva dagegen aus.
„Dann schlagen wir zwei Holzpflöcke in die Erde, legen eine Plane darüber und dahinter kommt eine kleine Hecke. Das ist zwar nicht sehr originell, aber es ist wenigstens schwierig genug, gleichzeitig über die Plane und die Hecke zu kommen!“, schlug Sally achselzuckend vor.
„Ach nö, dann machen wir es so ...“, fing wieder die Nächste an.
Und während die anderen noch diskutierten und immer weiterredeten, war Cera schon wieder in ihre Pferdeträume versunken. Nur ganz oberflächlich dachte sie über ein neues Hindernis nach. Vor ihren Augen musste sie nämlich gerade ihren Andalusierschimmel zwischen vielen Feuerwänden auf dem Boden hindurchlenken. Cera befand sich in ihren Gedanken gerade in einer Show und alle Zuschauer hielten den Atem an. Ihr lief der Schweiß in den Nacken und der feurige Hengst befand sich in einem scharfen Galopp. Er hatte keinen Sattel auf dem Rücken und Cera benötigte ihre meiste Kraft dafür, sich mit den Beinen festzuklammern. Nun kam der Höhepunkt der Nummer. Cera trieb den Hengst noch einmal an und galoppierte geradewegs auf eine der hohen Flammen zu. Sie gab dem Andalusier die Hilfe zum Sprung und ...
Dann wurde sie von einer Stimme abgelenkt. „Schau mal, Cera hat einen Krampfanfall!“ Sie wurde aus ihrer Konzentration gerissen und fiel vom Rücken des Hengstes, er scheute und Cera schrie. Sie fiel weiter, viel zu weit, und dann prallte sie auf den Rücken. Die große Showhalle verschwamm vor ihren Augen, das Publikum schrie auf und der Hengst verschwand in den Flammen ... Der Schmerz presste Ceras Lungen zusammen. Sie rang verzweifelt nach Luft, doch es half nicht, sie würde ersticken.
Plötzlich wurde sie an den Armen hochgezogen und auf einen Stuhl gesetzt. Nun bekam sie wieder Luft. Ihre Lungen füllten sich und Cera nahm einen tiefen Atemzug. Und noch einen. Und noch einen. Jetzt konnte sie wieder klar sehen. Es waren Maggy und die anderen Mädchen, die um sie herumstanden und sie wie Eulen anglotzten.
„Cera, was ist passiert? Du bist vom Baum gefallen“, rief Paulette.
Cera schwirrte der Kopf.
Cailie drängte sich dazwischen. „Sag mal, spinnst du?“, fuhr sie Paulette an. „Ihr solltet jetzt aber alle langsam mal wissen, dass Cera eine ganz schlimme Krankheit hat!“
„Eine Krankheit? Das merkt man ihr aber gar nicht an“, murmelten die anderen.
„Ach ja, und was war das gerade? Du hast das Schlimmste getan, was man tun kann. Ceras Krankheit kann nur von einem eigenen Pferd geheilt werden. Sie träumt nämlich immer von Pferden, überall, wo sie ist. Sie kann jederzeit in die Welt der Pferde eintauchen. Und wenn sie jemand auch nur versehentlich mit irgendeinem dummen Spruch aus ihrer ganzen Konzentration reißt, dann erschrickt sie sich, sodass schlimme Sachen passieren. Vorhin hätte sie deswegen fast eine Katze überfahren, gestern ist sie eine Treppe hinuntergefallen und jetzt ist sie vom Baum gestürzt. Sie taucht vollständig in ihre Träume ein. Na ja, die einzige Medizin wäre ein eigenes Pferd, so könnte sie nämlich diese Träume leben“, erklärte Cailie schnell und gestikulierte wild mit den Händen.
„Ja, ich war gerade mitten in einer Show, umgeben von Feuerwänden. Der Hengst hatte keinen Sattel und ist galoppiert, deswegen hab ich mich wahrscheinlich so am Ast festgeklammert. Tja, und heute Mittag bin ich auf dem Feldweg hingefallen. Da hab ich nämlich meinen Andalusierhengst trainiert. Und gerade eben, als ihr diskutiert habt, war ich mitten in einem Zirkus. Dann hat irgendwer was gesagt und ich hab mich erschrocken“, sagte Cera seufzend und rieb sich die Augen. Eine einfache Sache war es auch nicht gerade, tagtäglich irgendwo herunterzufallen.
Die Mädchen schwiegen, bis Maggy sagte: „Das tut mir sehr leid für dich, Cera, aber wir können trotzdem nicht einfach eins von unseren Pferden verschenken. Außerdem haben wir noch immer keine Lösung für unser Hindernis-Problem.“
„Ihr habt mich noch nicht gefragt“, lächelte Cera. Urplötzlich in dem Moment, in dem sie keinen Boden mehr unter den Füßen gespürt hatte und vom Ast gekippt war, war ihr eine zündende Idee gekommen. „Ich hab nämlich einen Vorschlag. Der Hengst sollte gerade durch Feuer gehen, als ich vom Baum gefallen bin. Als ich nicht mehr da war, hat er gescheut. Deswegen meine ich, wir sollten ein Hindernis machen, das Vertrauen fordert. Wir stapeln einfach bemalte Schuhkartons in Form einer etwa hüfthohen Mauer übereinander. Vor den Schuhkartons liegt eine Plane, darunter eine große Feder. Diese ist mit einem langen Klöppel oder Stab verbunden, der unter dem Stapel liegt und bei Auslösung nach oben springt und mit einer schnellen Bewegung den Kartonstapel umwirft. Tritt also das Pferd auf die Plane vor dem Hindernis, wird die Feder, die den Klöppel betätigt, nach unten gedrückt und die Kartons fallen in sich zusammen. Das fordert viel Vertrauen zwischen Pferd und Reiter, denn das Pferd muss sich erst mal auf die Folie trauen und darf nicht zögern. Außerdem schrecken die knalligen Kartons das Pferd ab, weil es diese nicht gewohnt ist. Haben Pferd und Reiter kein Vertrauen zueinander, würden sie erschrecken. Das Pferd dreht vielleicht sogar durch, rennt durch die Kartons und schmeißt dabei den ganzen Stapel um. Aber selbst dann ließen sich die Kartons schnell wieder aufbauen. Und wenn wir alle Personen aus einer Gruppe hintereinander springen lassen, können wir noch etwas beweisen. Wenn ein Pferd scheut, tun es ihm normalerweise auch die anderen hinter ihm gleich. Wenn das Tier dem Reiter zutraut, dass er weiß, was er tut, bleibt es ruhig. Das ist doch ein super Hindernis, oder? Und wir können es auch jetzt schnell aufbauen.“ Cera war begeistert. Auch die anderen waren einverstanden. Das klang vielversprechend.
Schon zerstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Paulette, Cailie, Sally und Nika suchten in der Sattelkammer nach alten Schuhkartons von Reitstiefeln. Eva fand eine große, knisternde blaue Plastikplane und Maggy zeichnete unterdessen anhand von Ceras Anweisungen den Plan und den Grundriss des Hindernisses. Schließlich fanden sich alle wieder am Tisch ein. Cera holte Malfarben, Pinsel und Putzlumpen und dann wurden die Schuhverpackungen mit den abstraktesten Mustern bemalt. Als alles angestrichen war, die Kartons ebenso wie die Mädchen, legte Maggy mit ihrem Freund Reiko die Sprungfeder unter die Plane. Die Mädchen verbanden durch starke Drähte einen langen Holzlöffel, der als Klöppel dienen sollte, mit der Feder. Anschließend wurde der Löffel flach auf den Boden gelegt und die Kartons direkt darüber gestapelt. Nun mussten sie das Hindernis nur noch ausprobieren. Bei Cera und einigen anderen klappte es sofort, nur Sallys Haflinger Max musste bei jedem Mal erst die Plastikfolie ansabbern.
Dann war das Training zu Ende. Sie sattelten die Pferde ab und wollten sie mit Stroh abreiben, doch sie waren so verschwitzt, dass sie doch zum Abspritzen gingen. Apple bockte und stemmte seine Hufe in den Boden. Er war doch gar nicht dreckig! Oder vielmehr – nicht schon wieder dreckig. Da ließ Cera ihn einfach stehen und ging davon. Ha, sie hatte zum ersten Mal aufgegeben! Er hatte gewonnen! Apple lief zur Weide und begann, neben seinem guten Freund Tamino zu grasen. Auf einmal traf ihn ein Wasserstrahl von hinten. Er fuhr herum und sprang nach vorne. Da stand Cera und die lachte so sehr, dass sie sich auf die Schenkel schlug. In ihrer Hand hielt sie einen Wasserschlauch und spritzte seine Beine nass. Das war so fies! Aber er hatte Cera trotzdem gern. Liebevoll gab er ihr einen Stups in den Rücken. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und schmuste mit ihm. Er war so kuschelig und so süß!
Da hörte Cera Cailies Stimme: „Ich reite jetzt heim, Cera. Du kannst wieder mit mir tauschen.“
„Oh ja, gerne!“ Cera lief zum Zaun und Apple folgte ihr. Er konnte diesen groß gewachsenen Typen von einem Hannoveraner nicht leiden. Er sah so hochnäsig auf ihn herab. Und Cera mochte diesen Egoisten auch noch! Ponys wie er waren doch viel besser. Eifersüchtig drängte er sich an Ceras Seite. Sie umarmte ihn und flüsterte in seine Mähne noch ein Abschiedswort, dann kletterte sie über den Zaun und stieg auf Prince Dannys Rücken. Das war doch bescheuert. Der Hannoveraner war doch gar kein Prinz. Apple schnaubte verächtlich und gesellte sich wieder zu seinem Freund Tamino, um ihm zu erzählen, dass er der Erste gewesen war, der über ein Hindernis gesprungen war, das es zuvor noch nicht gegeben hatte.
Nachdem Cera wohlbehalten zu Hause angekommen war, ging sie erst mal nach drinnen und zog sich um. Am liebsten würde sie ihre Reitsachen immer anlassen, doch ihre Mutter duldete keinen Pferdemist im Haus. Als ob das ein so großes Problem wäre, wenn sowieso alle Familienmitglieder auf dem Hof ständig mit Tieren in Kontakt waren. Ceras Mutter war aber gerade weg, um Terry vom Fußballtraining abzuholen. Nur Ceras Vater war draußen, um die Kühe in den Stall zu treiben.
Cera hatte einen Bärenhunger und tigerte wie eine hungrige Raubkatze auf Nahrungssuche durch das Haus. In der Küche lag noch eine kleine Scheibe ihres selbst gebackenen Kuchens. Sie hatte sich das Rezept dazu selber ausgedacht. Es war ein Schokoteig mit Apfelschnitzen, Paprikachips und grünen Froschgummibärchen. Der Kuchen schmeckte zwar nicht ideal, war aber mit einer Mischung aus Zitronenschalenpulver und Zitronensaft glasiert.
Leider warteten in ihrem Zimmer noch ein Stapel Hausaufgaben und Englisch-Vokabeln, die abgeschrieben und gelernt werden wollten. Cera erledigte alles, ohne zu überlegen, und belohnte sich mit einem neuen Schoko-Apfel-Chips-Gummibärchen-Kuchen. Sie bot ihn Terry und ihren Eltern zum Abendessen an, aber sie lehnten ab. Vielleicht war er etwas zu schwarz geworden. Ihre Familie hatte unverständlicherweise an jeder ihrer Mahlzeiten etwas auszusetzen.
Am Abend ging Cera in ihr Zimmer. Sie war sehr müde und blieb nicht mehr lange wach. Sie spielte noch mit Smokey und einer selbst gebastelten Katzenangel und schlief schließlich mit dem Kater auf ihrem Bauch ein.
Am nächsten Morgen stand Cera wie gewöhnlich um sieben Uhr auf. Sie ging auf den Balkon, um sich durch die kalte Morgenluft aufwecken zu lassen, und legte sich danach im Bad auf den Boden, der durch die Fußbodenheizung angewärmt war. Sie kämmte sich die langen roten Haare, die ihr fast bis zu den Ellenbogen reichten, und band sie zu einem blütenartigen Knoten zusammen, der an ihrem Hinterkopf thronte. Schnell schnappte sie sich ihren Rucksack und nahm sich vom Küchentisch ein Schokocroissant mit. Dann holte sie ihre Jacke mit einem gezielten Tennisballwurf vom Garderobenständer herunter und ging mit Terry zur Bushaltestelle. Obwohl Terry noch in der Grundschule war, fuhr sein Bus zur gleichen Zeit ab wie Ceras.
Der Schultag war recht kurz. In der Aula war ein Wasserrohr aufgebrochen und der ganze Flur war überschwemmt. Cailie rief zu Hause an, um sich abholen zu lassen, und Cera durfte mitfahren.
„Treffen wir uns heute?“, fragte Cailie.
„Klar, warum nicht? Morgen ist Wochenende, lernen kann man da auch noch. Komm doch zu mir und bring Prince Danny mit, dann können wir noch ein bisschen für morgen üben! Die Kühe sind sowieso auf der Alm, da ist die Koppel frei, außer Simon macht sich mal wieder breit. Und an dem sollten wir uns nicht stören.“
Als Cera zu Hause war, gab es erst mal Mittagessen. Smokey war zur Sicherheit ausgesperrt worden, denn es gab Schinkennudeln, gekocht nach dem uralten Familienrezept von Ceras Urgroßmutter. Aber Terry schien gestern seine Lektion gelernt zu haben, dieses Mal landete sein Essen nicht unter dem Tisch. Stattdessen berichtete er, dass er nach dem Mittagessen zum Fußballtraining fahren würde.
„Gut so“, dachte Cera, „dann haben wir wenigstens unsere Ruhe vor ihm.“
Nach dem Essen machte Cera in ihrem Zimmer die wenigen Hausaufgaben, die sie an diesem kurzen Schultag aufhatten. Sie hatte Lust, ein wenig zu klettern. So ging sie nach draußen in den Hof und stieg auf den alten Apfelbaum. Cera traf dort oben Smokey, der seine Krallen am Baumstamm wetzte. Sie streichelte sein rauchgraues Köpfchen und schnurrend rekelte er sich in ihrem Schoß.
Nach einiger Zeit erschien unten in der Zufahrt ein kleiner rotbrauner Punkt. Er bewegte sich schnell auf das Haus zu. Es war Cailie. Prince Danny lief seinen weiten, muskulösen Trab aus und kam schnaubend zum Stehen.
„Hallo Cailie! Komm auch rauf!“, rief Cera zur Begrüßung und winkte.
Cailie blickte sich verdutzt um. Hatte sie nicht eine Stimme gehört? Mit einem dumpfen Plopp landete ein Apfelstrunk neben ihr auf dem Hof. Der Apfel war natürlich noch keine Frucht des blühenden Baumes, auf dem Cera saß, dennoch hatte sie tatsächlich gerade einen Apfel aus dem Hausvorrat verspeist. Cailie blickte nach oben und sah ihre Freundin mit wehender roter Mähne wie eine Elfe zwischen den Ästen sitzen. Cailie band Prince Danny an, rannte über den hügeligen Grasstreifen und kam unter dem weißen, blühenden Baum zum Stehen. Grinsend packte sie einen Ast und zog sich hoch zu Cera. Sie saßen eine Weile dort oben. Das Einzige, was sie hörten, war Smokeys Schnurren und der Wind, der die Apfelblütenblätter über das Pflaster fegte. Nach einiger Zeit tat Cera der Hintern weh. Äste mit rauer Rinde waren schließlich nicht das Bequemste auf Erden. Deshalb fragte sie: „Wollen wir ein bisschen reiten?“ Natürlich stimmte Cailie zu. Sie holten Prince Danny von der Koppel und entschlossen sich, noch ein wenig auszureiten. Sie ritten zu zweit durch den Wald, der im Westen an den Hof angrenzte.
Hinter dem Wald begannen die großen Berge, nicht mehr die runden, bewaldeten, auf denen die Dörfer und Häuser standen und wo sich die Almen befanden. Es waren graue, zackige und scharfe Felsspitzen, die weit hinauf in den Himmel ragten. Diese dunklen Felsen waren so steil, dass sich kein Schnee darauf niederlegen konnte. Mitten durch die Gebirgszacken zog sich eine tiefe schwarze Schlucht. Dunkel und mit Geröll verschüttet. Ein Wasserfall, hoch oben in einer dunklen Wolke beginnend, die die Bergspitzen verhüllte, rann dunkel und eiskalt die steile Kluft hinab. Davor war eine Wiese, doch sie gehörte niemandem, keiner ließ seine Kühe darauf grasen. Die Weide blühte in den prächtigsten Farben und darin tummelten sich Schmetterlinge, Käfer, Dachse, Füchse und auch manchmal Rehe. Diese von Leben erfüllte Wiese passte gar nicht zu den eintönigen spitzen, dunklen Bergen, die stumm dastanden und die Welt von oben besahen.
Kaum hatten die beiden Mädchen den Wald durchquert, galoppierten sie über diese Wiese voller Blumen und kamen auf der anderen Seite zur Schlucht. Von Nahem war sie noch unheimlicher. Der Wasserfall dröhnte von oben herab und verschwand irgendwo in einem Loch in der Erde. Ein tiefes Stöhnen drang aus der Schlucht und hin und wieder sauste ein Steinbrocken in die Tiefe.
„Mir ist das unheimlich!“, jammerte Cailie ängstlich und krallte sich mit den Fingern in Prince Dannys Mähne fest.
„Hm, ja, mir kommt es so vor, als hätte die Schlucht Mundgeruch!“, lachte Cera neckend. Tatsächlich ging von den gezackten Felswänden ein leicht muffiger Geruch aus.
„Das ist nicht witzig, ich finde das gruselig!“, beschwerte sich Cailie. „Reiten wir lieber zurück, mein Prince schüttelt sich ja auch schon!“
„Genau, hier ist es langweilig!“, gestand Cera und rollte genervt mit den Augen wegen Cailies Spießigkeit.
Cailie wendete ihren Wallach und sie trabten eilig zurück zum Hof. Cera drehte sich noch einmal um und runzelte die Stirn. Auch ihr war diese Gebirgskette nicht ganz geheuer. Man nannte sie im Dorf nicht umsonst Gürtel des Jenseits. Schon mancher, der aus Spaß versucht hatte, dort zu klettern, hatte mit dem Leben bezahlt. Deswegen wurde die Gebirgskette so gut wie möglich gemieden. Die Mädchen ritten zurück durch den Wald zum Hof.
„Und schon haben wir ein bisschen deine Kondition trainiert, mein Dicker“, lachte Cailie und klopfte den verschwitzten Hals des Tieres.
„Cailie“, rief Ceras Mutter aus dem Haus, „willst du noch mit uns zu Abend essen?“
„Gerne, aber nicht zu lange, wir müssen nämlich heute Abend noch weg!“ Mit diesen Worten sattelten sie Prince Danny ab und stellten ihn auf die Koppel.
Wie immer bei gutem Wetter gab es draußen im Garten Abendessen. Cera konnte kaum genug bekommen von dem selbst gemachten Brot ihrer Mutter, sodass sie am Abend stöhnend auf dem Sofa lag und sich über einen überfüllten Magen beklagte. Als ihr Vater das Gejammer nicht mehr ertragen konnte, schickte er sie in ihr Zimmer und dort blieb sie den ganzen Abend lang auf dem Teppich liegen. Aber das lag daran, dass sie sich gerade vorstellte, ein Pferd mit Kolik zu sein und daran zu sterben. Und dort schlummerte sie auch ein, fest in dem Glauben, ein schlafendes Pferd zu sein.