Читать книгу Ceras Abenteuer - Das Geheimnis der schwarzen Stute - Lena Wege - Страница 18

4. Der Unfall

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Ein Stromstoß schien die Leute zu durchzucken. Plötzlich schrien alle auf einmal entsetzt auf.

„Arzt! Wir brauchen einen Arzt!“, brüllte der Ansager heiser in das Mikrofon. Sanitäter eilten mit einer Trage herbei und liefen auf den Platz.

„Kommt zu mir, ich bin schwer verletzt! Erst zu mir, nicht das Pferd!“, schrie der Junge im Sand. Die Helfer legten ihn auf die Trage. „Fasst mich nicht an, ihr Tölpel!“ Er stöhnte, obwohl man nichts erkannte, was nach einem Bruch oder einer Verrenkung aussah.

Cera konnte nicht anders. Sie riss sich los und lief zu dem Pferd. Viele Leute aus dem Publikum und andere Teilnehmer taten es ihr gleich, doch sie alle standen bloß herum und gafften, keiner tat etwas. Cera bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und kniete sich in den weißen Sand. Sie nahm den Kopf des Pferdes in den Schoß. Es schwitzte heftig und die Trense hatte sich im Maul an der Zunge verhakt, sodass Blut in den Sand sickerte. Cera nahm ihm vorsichtig die Trense ab. Der wundervolle Hengst stöhnte. Er atmete schwach und sein Vorderbein war dick angeschwollen. Apple, der Cera hinterhergelaufen war, berührte das gestürzte Pferd am Maul. Es schnaubte schwach.

„Na, kommt denn kein Tierarzt?“, drang es panisch aus den Lautsprechern.

„Du armes Tier“, flüsterte Cera in das schlaff herabhängende Ohr des cremefarbenen Hengstes. „Du hast es nicht verdient, von so einem Jungen gequält zu werden!“

Dann kam endlich ein Tierarzt aus dem Stallgebäude herbeigeeilt. Er war klein und dick, und hatte ein teigiges, aufgedunsenes Gesicht. Graubraune Haare hingen in fettigen Büscheln in seine Stirn. Genau genommen sah er aus wie ein riesiger Frosch mit Hornbrille. Cera hatte ihn noch nie gesehen und fand ihn sofort unsympathisch. Sie traute ihm gar nicht zu, ein richtiger Tierarzt zu sein.

Als er sich neben das Pferd kniete, bekam Cera auf einen Schlag ein flaues Gefühl im Magen. Sie riss die Augen auf. Der Tierarzt hatte die Ärmel seines weißen Kittels hochgekrempelt. Erst hatte sie gedacht, das hätte er getan, weil er so besser arbeiten könne, doch die nach innen gekrempelten Seiten waren mit Blut befleckt. Sie wischte den Gedanken sofort weg. Er hatte bestimmt nur eine Ente oder so etwas sezieren müssen. Sie zwang sich wegzusehen und blickte in die Augen des Pferdes, doch da bekam sie noch mehr Angst.

Der Arzt ließ seine schwere Tasche neben Cera in den Sand plumpsen und betastete das verletzte Bein des Tieres. Als er es berührte, stieß es einen leisen Schrei aus. „Dürfte ich Sie alle bitten, wieder auf Ihre Plätze zu gehen!“, rief der Tierarzt ein wenig ungeduldig in die Menschentraube, die glotzend dastand.

„Darf ich hierbleiben? Bitte! Einer muss doch das Pferd beruhigen, ich sehe hier keinen anderen, der das tun würde“, flehte Cera und kauerte sich neben den Kopf des Hengstes. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass mit dem Tierarzt etwas nicht stimmte und dass sie unbedingt bei dem Tier bleiben musste.

„Na gut“, gab der Arzt widerwillig nach. „Aber du musst verstehen, dass du nicht das ganze Turnier bei ihm bleiben kannst.“

„Ja klar!“, versicherte Cera hastig und strich beruhigend über den Hals des Pferdes. Es kamen noch einige Helfer aus dem Stall, die den Hengst gemeinsam auf einen riesigen Wagen legten, den sie unter Anstrengungen und Schweiß in den Stall karrten. Die Räder blieben fast immer in Sandlöchern stecken und jedes Mal musste man die Trage mühevoll anheben und weiterschieben. Cera erhob sich schwankend und beeilte sich hinterherzukommen. Ihre Beine waren eingeschlafen und das stechende Prickeln, das einen ganz verrückt machte, durchfuhr sie nun.

In der nächsten halben Stunde bekam Cera gar nichts von dem Pferd zu Gesicht. Sie saß klein, verlassen und unbemerkt von jedermann auf einem Strohballen in der gegenüberliegenden Box der Quarantänekammer, in die man das leidende Tier gebracht hatte. Alle möglichen Ärzte, Helfer und Stallarbeiter wimmelten um das Pferd herum, brachten Röntgengeräte, Wassereimer, Tücher und Medizinkoffer voller seltsamer Instrumente, von denen Cera gar nicht wissen wollte, was man damit anstellte. Irgendwann nach 20 Minuten kam ihr zu Ohren, dass das Vorderbein ganz sicher verletzt war und man nun einen elastischen Verband anlegen müsse. Als sich die Menschen langsam zerstreuten, sah Cera, wie der Arzt das Pferd noch einmal untersuchte und ihm etwas aus einer langen Spritze injizierte. Hoffentlich war es nur ein Schmerzmittel.

Dann verließen die Helfer den Stall und Cera blieb alleine mit dem Tierarzt in der Box. „Hol mir sofort einen Eimer mit Wasser!“, befahl er ihr.

Der Hengst hatte den Kopf auf den Rücken des Tierarztes gelegt, während dieser das verletzte Bein versorgte. Cera kam mit einem großen Eimer Wasser zurück zur Box.

„Hier, mach diese Tücher nass und lege sie dem Hengst auf den Hals, damit er sich abkühlt“, wies sie der Tierarzt an.

Cera tunkte eines der weißen Tücher, die er ihr gegeben hatte, in das eiskalte Wasser. Von draußen hörte man Pferdegewieher und die Stimme aus dem Lautsprecher. Cera hörte, wie der Ansager die Leute beruhigte und ihnen mitteilte, dass der Junge des Hafen-Reitvereins im Krankenhaus angekommen sei. Vom Pferd sagte er nichts.

Cera seufzte, tunkte einen Lappen nochmals in den großen Eimer und legte das triefende Tuch auf den verschwitzten Hals des Hengstes. Er zuckte zusammen und wieherte.

„Ist ja gut, es ist nur ein Lappen, der dir hilft, dich abzukühlen“, beruhigte Cera ihn. Nach einer kurzen Pause legte sie einen neuen Lappen auf seinen Hals.

„So“, sagte der Tierarzt und richtete sich auf, „das Bein dieses Pferdes ist verstaucht und muss ruhiggestellt werden. Ich werde jetzt gehen und in meiner Praxis anrufen, dass sie einen Wagen her schicken, um das Pferd abzuholen. Ich komme in einer Viertelstunde wieder. Deine Aufgabe ist es jetzt, aufzupassen, dass dieser Prachtkerl sein Bein stillhält. Ich habe ihm eine Binde um das Bein und die Schulter gebunden, so kann er es locker lassen und trotzdem belastet er es nicht. Gib ihm zu trinken, ich komme bald wieder, um nach ihm zu sehen.“ Damit stand er ächzend auf, nahm seine Tasche und verließ das Stallgebäude.

Nun waren Cera und der Hengst allein im Stall. Der Hengst blieb weiter mit hängendem Kopf stehen. Cera kraulte seinen Hals und sprach mit ihm. „Du bist aber auch wirklich arm dran. Was stellt denn dieser Junge mit dir an? Du bist doch ein wundervolles Pferd! Der denkt doch nur an sich selber ... Hast du gehört, was er gesagt hat? Erst zu mir, nicht das Pferd! So ein Schwachsinn! Dabei hat er doch ganz genau gewusst, dass du dir viel mehr wehgetan hast und dich schwerer verletzt hast als er. Der quält dich bestimmt die ganze Zeit, was? Bist du überhaupt sein Pferd? Oh, warte, ich mache dir neue Tücher!“ Sie hatte an den Bauch des Hengstes gefasst und bemerkt, dass die Lappen schon ganz warm waren.

Cera tunkte die Wickel erneut in das Wasser und spürte, dass auch dieses nicht mehr ganz kühl war. Sogar eine Fliege schwamm schon auf der Oberfläche. Sie sagte zu dem Palomino, dass er kurz warten solle, und lief zum Wasserhahn, um frisches Wasser nachzufüllen. Dann ging sie zurück und machte neue nasse Lappen. Der Hengst zuckte immer wieder zusammen, wenn sie ein kaltes Tuch auf seinen Körper legte.

„Wie heißt du überhaupt?“, begann sie wieder. „Wenn dieser Typ dir überhaupt einen Namen gegeben hat ... Bestimmt so was wie Pferd 13 oder so. 13 ist ja eine Unglückszahl. Aber ich glaube, wenn dieser verzogene Kerl 13 Pferde hätte, dann würde er sogar alle so schlimm behandeln. Ich hasse es, wenn man Tiere quält! Oh, sieh mal hier, man erkennt die Abdrücke von seinen Absätzen.“ Cera berührte die Druckstelle an der Flanke mit dem Finger. Sofort fuhr das Pferd auf. „Oh, Entschuldigung, ich wollte dir nicht wehtun“, sagte sie schnell.

Schon wieder waren die Wickel warm geworden. Cera tunkte sie noch einmal in kaltes Wasser. Sie stellte den Bottich neben dem Tier ab. Der Hengst wollte daraus trinken, doch Cera gab ihm frisches Wasser. In einem Sack in der Stallgasse fand sie noch ein bisschen Heu und ein paar Brotrinden. Das Heu duftete und die Brotrinde war noch nicht ganz steinhart. Cera gab beides dem Pferd.

Es belastete das vordere rechte Bein nicht, sondern stellte es auf die Hufkante. Zum Glück war nur das Schienbein oder so etwas Ähnliches verstaucht. Wenn das Bein weiter oben gebrochen wäre, müsste Cera nun bangen. Das wäre sehr schlecht gewesen, denn der obere Teil des Beins trug das ganze Körpergewicht und solch ein Bruch verheilte ganz schlecht.

Das Pferd sah sie müde und mit hängenden Ohren an. Es hatte rehbraune Augen. An diesen Blick würde sich Cera noch jahrelang erinnern. „Du hast einen Blick wie ein Reh, weißt du das? Sag mal, wenn du schon keinen richtigen Namen hast, bekommst du wenigstens von mir einen. Du kannst ziemlich gut springen ... Obwohl ich Springen eigentlich auch Tierquälerei finde, kleine Hindernisse sind aber ganz okay. Und du hast so wunderschönes Fell, das strahlt und glüht im Licht so schön wie Gold ... Deswegen nenne ich dich am besten Firefly, wie das Glühwürmchen“, überlegte sie laut. Sie grinste über den passenden Namen und flüsterte in das linke herabhängende Ohr: „Das bleibt aber unter uns.“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht in seine nach Pferd duftende Mähne. Sie war so weich. Cera hätte so gern dieses Pferd einfach mit nach Hause genommen. Aber es ging ja nicht. Sie seufzte. Plötzlich ertönten Schritte aus dem Stallgang und Maggy kam herein. Cera schrak auf.

„Hallo Cera“, begrüßte Maggy sie. Sie lehnte sich an die geschlossene Boxentür und blickte Firefly respektvoll an. „Das ist aber ein hübsches Kerlchen! Außerordentlich gut gebaut! Der wäre ein hervorragender Zuchthengst!“

Cera war der gute Körperbau des Hengstes nicht entgangen. Er hatte einen wunderschönen, fein gegliederten Kopf, eine kräftige Brust und einen starken Rücken mit kräftiger Hinterhand. Seine Beine waren lang und schmal und die Schultern perfekt geformt für weiche Gänge. Er trug den Kopf aufmerksam erhoben und hatte einen gebogenen Hals.

Cera lächelte und streichelte Fireflys Blesse. Es war eine wundervoll geformte Blesse. Unter dem Schopf begann ein dünner, schmaler weißer Streifen. Nach unten hin wurde er immer breiter, zog sich über das Gesicht und endete am Maul, das fast völlig weiß war. Es sah aus, als hätte ein Maler dem Hengst dieses Meisterwerk auf die Nase gemalt. Eine Blesse in Form und Farbe einer Schneelawine.

„Du, Cera, es läuft gerade gar nicht gut mit uns. In den letzten drei Spielen haben wir immer verloren. Im Moment führt der Hafen-Reitverein. Sie haben zehn Punkte mehr als wir. Du musst jetzt zum letzten Spiel. Du warst noch nicht dran“, stellte Maggy seufzend klar. Enttäuscht ging Cera aus der Box. Firefly legte den Kopf auf den Rand der Tür. „Ich hoffe, wir sehen uns noch mal. Heute bestimmt nicht mehr, der Tierarzt kommt ja gleich! Gute Besserung“, flüsterte sie ihm zu und drückte ihm einen Kuss auf die Nase. Kaum hatte sie sich abgewendet, kam der Tierarzt aus einem Seitengang herausgewatschelt. Sein korpulenter Körper machte ihm ganz schön zu schaffen, so sah er aus wie ein schnaufendes Walross. Schweißperlen tropften von seiner käsigen Stirn.

„Ah, da sind Sie ja!“, rief Maggy. „Dann können wir beide ja jetzt zum Turnier zurückgehen!“

„Das würde ich Ihnen auch raten!“, knurrte der Mann. Plötzlich klang die Stimme des Tierarztes forsch und drohend.

„Ja, ja, schon gut. Schönen Tag noch!“, meinte Maggy beschwichtigend und zog Cera mit sich. Sie legte ihr wie eine Mutter den Arm um die Schulter und ging mit ihr langsam die Stallgasse hinunter.

Plötzlich ging der Tierarzt zu Fireflys Box und holte ihn am Halfter heraus. Der Hengst quietschte und stemmte seine drei übrigen Hufe in den Boden. Der Mann zerrte ihn aus der Box heraus und wollte gerade durch den hinteren Stallgang gehen, da drehte sich Cera um und rief erschrocken: „Was machen Sie denn da?“ Ihre Stimme überschlug sich panisch. Sie wollte sich von Maggy lösen und dem Tierarzt hinterherlaufen, doch Maggys Finger bohrten sich in ihren Arm.

„Cera, komm, wir müssen zum Turnier!“, flüsterte sie. „Lass den Tierarzt nur seine Arbeit machen!“

„Nein!“, presste Cera mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich will erst wissen, was er mit dem Pferd macht!“

„Ich bringe es nur zum Parkplatz, ich habe dir doch gesagt, dass meine Kollegen das Pferd hier abholen“, schrie das Walross zurück. Nun lachte der Mann zum ersten Mal hämisch und fies. Abrupt schreckte Cera zurück. Das Lächeln war höhnisch und die Lippen entblößten eine Reihe kleiner, spitzer Zähne, die aussahen wie die eines Krokodils. Ein kalter Schauer lief Cera über den Rücken. Sie witterte etwas, nur wusste sie nicht, was.

Schon wurde sie von Maggy weitergezogen. „Cera, nun komm endlich!“, schnaubte Maggy ungeduldig.

Merkte sie denn etwa nicht, dass hier etwas gewaltig schieflief? Cera wand sich und versuchte, aus Maggys Griff zu entkommen, doch diese zog sie unbeirrt weiter. Obwohl sie schlank war, hatte sie unglaublich kräftige Oberarmmuskeln, mit denen sie Cera im Klammergriff hielt. Firefly drehte wiehernd den Kopf nach hinten und rollte mit den Augen.

Dann ging alles ganz schnell. Der Tierarzt begann nun zu rennen und zog dabei den Kopf des Pferdes mit einem Ruck nach unten. Auf einmal öffnete sich eine Boxentür weiter vorne im Stall und ein recht mitgenommen aussehender Mann kam heraus. Er schwankte stark und hielt sich an der Wand fest. Am Kopf hatte er eine übel aussehende Platzwunde, aus der es stark blutete. Er blickte erst Maggy und Cera verwirrt an, dann sah er den Tierarzt, der mit dem Pferd davonrannte. „He!“, schrie er auf einmal. „Sie da! Was machen Sie mit meinem Kittel und meiner Medizintasche?“

In Ceras Kopf überschlug sich auf einmal alles. Sie blickte den Mann mit der Platzwunde entgeistert an. „Ihr Kittel und Ihre Medizintasche? Sie sind der richtige Tierarzt?“

„Ja ...“, brachte er gurgelnd hervor, bevor seine Stimme erstarb und er in sich zusammensank.

Cera riss sich endgültig los. Sie rannte dem flüchtenden Tierarzt hinterher, der nun ganz sicher kein Tierarzt mehr war. Es war ein Mann, der Firefly stehlen wollte! Sein weißer Tierarztmantel löste sich auf einmal von seinen Schultern und fiel auf den Boden. Hinter Cera begann Maggy, um Hilfe zu schreien. Cera konnte nicht mehr rechtzeitig der Medizintasche ausweichen, die mitten im Weg stand. Ihr Fuß verfing sich in einer Schlaufe, sie stolperte und fiel auf den Beton. Sie schlitterte, um sich abzufangen, doch ihre Reithose zerriss an den Knien. Sie taumelte, ihre Ellenbogen klappten nach außen weg und sie prallte mit der rechten Wange auf den Stein. Sie sah gerade noch, wie der falsche Tierarzt Firefly in einen Hänger schob, die Verladeklappe zuknallte und sich mit Schwung in den grünen Jeep setzte, der den Hänger zog. Dann brauste er mit einem Affentempo vom Parkplatz.

Cera sah nichts mehr vor lauter Schmerz. Sie wollte um Hilfe rufen, doch sie bekam nur noch ein heiseres Piepsen heraus. Sie stützte die Stirn auf den kalten Beton. Ihre Augen waren trocken, sodass sie nicht weinen konnte, obwohl sie es so gerne gewollt hätte. Ihre Knie und die Wange brannten und ihre Handflächen waren aufgeschürft. Sie hatte verloren. Sie hatte das ganze Spiel verloren. Und vor allem: Sie hatte Firefly verloren. In ihren Ohren hörte sie noch sein panisches Schreien und sah seine rehbraunen Augen vor sich. Doch das passte irgendwie nicht zusammen. Dann hörte sie Schritte und spürte, wie jemand ihren Fuß aus der Schlaufe befreite.

Dieser Jemand strich ihr über den Kopf und flüsterte: „Cera.“ Erst ganz leise, dann noch einmal etwas lauter: „Cera!“ Sie wollte sich aufrichten, doch sie hatte keine Kraft dazu.

„Cailie“, flüsterte sie, „bist du da?“

„Ja“, wisperte die Stimme zurück. „Soll ich dir helfen?“ Cera antwortete nicht, doch sie wurde hochgezogen. Ihr Rücken lehnte gegen die kühle Stallwand. Ihr Schädel brummte und vor ihren Augen hing dichter Nebel. Als dieser sich lichtete, erblickte sie Cailie, die ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte, Maggy und die anderen Mädchen. Es war fast ein bisschen so wie damals, als sie vom Baum gefallen war. Verzweifelt lächelnd stand Cera auf. Vielmehr versuchte sie, aufzustehen, denn sie kippte gleich wieder um.

„Cera, Cera. Was machst du nur für Sachen?“, murmelte Maggy kopfschüttelnd. Ihr Pferdeschwanz hatte sich aufgelöst und lose braune Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Fast sah sie aus wie Ceras eigene Mutter, wenn sie besorgt um ihre Kinder war. Man sah allen an, dass ihnen der Schock noch tief in den Knochen saß.

„Was ist mit dem Turnier? Läuft es noch oder haben die schon Wind von der Sache hier bekommen?“, fragte Cera hastig. Ihre Lippen fühlten sich rissig an, und als sie mit der Zunge darüberfuhr, schmeckte sie Blut.

Cailie machte gerade den Mund auf, um ihr zu antworten, da kam ein Mann in einem blauen Overall. Es war ganz normale Stallkleidung, aber man sah sofort, dass er hier arbeitete. Er sagte: „Bernd Borkin, der Veranstalter dieses Turniers, bittet dich und deine Reitlehrerin nach oben ins Büro. Er will euch sprechen.“

„Nein nein, das geht nicht“, sagte Cera mit zitternder Stimme. „So kann ich doch da nicht hingehen!“ Sie wies auf ihre aufgeschürften Knie, aus denen Blut sickerte und von denen einzelne Hautfetzen weghingen.

„Du sollst auch gerade deswegen kommen, um dich verarzten zu lassen. Der Tierarzt ist auch dort“, versicherte ihr der Mann.

„Der mit der Platzwunde?“, fragte Cera nach. Es hätte ja sein können, dass man den Mann, der Firefly gestohlen hatte, noch gefasst hatte.

„Genau der“, versicherte ihr der Stallarbeiter.

Stumm folgte die kleine Truppe der Borninger Pferdeflöhe mitsamt ihrer Trainerin Maggy dem Mann in das Büro, das unterhalb der Sprecherzentrale im weißen Turm lag. Das Büro war kreisrund, wie es auch der Turm war. Es gab ein riesiges Fenster, das auf den Turnierplatz wies. Darunter stand eine blaue Liege. In der Zimmerecke befand sich eine Topfpflanze, vermutlich ein Ficus, mit hängenden Zweigen. An den Wänden hingen Bilder von wunderschönen Pferden und von Bernd Borkin.

Dieser saß an einem säuberlich aufgeräumten Schreibtisch aus schwarzem Edelholz. Cera konnte nicht widerstehen, einmal kurz mit dem Finger darüberzufahren. Doch dann zog sie ihn schlagartig zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Aufmerksamkeit war auf den Turnierveranstalter gerichtet. Er war ein großer, beleibter Mann mit Glatze. Cera zählte drei große Falten in seinem Nacken. Verwirrt blickte sie noch mal zurück auf die Bilder an der Wand. Dort hingen ihm zerfranste dunkle Rastalocken vom Kopf. Auch jetzt trug er seltsam bunte und überhaupt nicht aufeinander abgestimmte Klamotten. Cera beäugte mit einem seltsamen Wohlgefallen die orange-karierten Bügelfaltenhosen, die um seine Beine schlackerten, wenn er einen Schritt machte, und sein zartrosafarbenes Jackett mit den drei verschiedenen Knopfarten, die alle nicht rund, sondern eckig, rauten- und ellipsenförmig waren. Nun stand Borkin auf und wuselte wie ein dicker Igel durch das Zimmer, strich sich immer wieder über die Glatze und murmelte ständig etwas vor sich hin. Der Stallarbeiter räusperte sich. Erschrocken blickte der Turnierleiter auf. An den Füßen trug er giftgrüne Nike-Turnschuhe, was Cera nun auch auffiel.

„Äh ... ja. Da seid ihr ja“, stammelte Borkin. Er kam nicht von hier, das merkte man an seinem Dialekt – denn er hatte gar keinen! Dann kam er vermutlich irgendwo aus dem Norden Deutschlands, wofür auch sein für diese Gegend untypischer Name sprach.

Wortlos ging der Mann im blauen Overall durch die Tür hinaus und schloss sie leise. Cera zog eine Augenbraue hoch. Anscheinend hatte sie sich schon ein wenig von dem Vorfall erholt. Borkin legte den Kopf schief, sah Cera kurz an und sagte dann etwas. Ceras Augenbraue wanderte noch höher, als sie hörte, wie piepsig seine Stimme war. Er sagte: „Du musst das Mädchen sein, das versucht hat, den Dieb aufzuhalten. Du siehst ziemlich blass aus, du brauchst etwas zu essen.“

Cera hätte jetzt gekichert über so eine komische Feststellung, hätte sie nicht solche Kopfschmerzen gehabt. „Tut mir leid, ich bin immer so blass ...“, antwortete sie leicht belustigt. Borkin hatte seinen Kopf unter den Tisch gesteckt und kramte in einer Schublade. Was machte er da? Hatte sie nicht gerade gesagt, dass sie nichts zu essen brauchte? „Äh, Herr Bork...“

„Ha! Da haben wir sie ja!“, unterbrach er sie. Triumphierend hielt Herr Borkin eine Tafel Schokolade in der Hand. Für kurze Zeit war der besorgte Ausdruck in seinem Gesicht verschwunden, aber als er die Schokolade Cera reichte, traten wieder dicke Falten auf seine Stirn.

Cera riss die Verpackung auf und brach ein Stück ab. Borkins Augen waren auf die Schokolade gerichtet und man sah förmlich, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Cera bemerkte diesen Blick. „Wollen Sie auch etwas?“, fragte sie lieber noch, bevor er sich wie ein hungriger Hund auf die Schokolade stürzen konnte.

Doch Borkin fuhr ruckartig zurück und schüttelte wild den Kopf, als hätte man ihn bei etwas erwischt. „Nein, nein danke. Ich bin auf Diät ... Also. Kommen wir zur Sache.“ Er setzte sich in seinen Drehstuhl, legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte. Cera steckte sich ein Stückchen Schokolade in den Mund und hätte sie fast wieder ausgespuckt. Trüffelschokolade. Eine von den Schokoladensorten, die Cera auf den Tod nicht ausstehen konnte. Sie kniff die Augen zusammen und behielt die Schokolade nur aus Höflichkeit im Mund.

„Also ... Ich habe die Polizei angerufen. Die Beamten werden bald da sein und euch ein paar Fragen stellen.“

Unmerklich ließ Cera die angebrochene Tafel Schokolade hinter ihren Rücken wandern. Auf einmal klopfte es an der Tür.

„Herein!“, rief Borkin. Die Tür öffnete sich und zwei Beamte marschierten herein. „Ach!“, lachte Borkin. „Sie kommen ja wie gerufen!“

„Guten Tag. Wir sind vom Polizeirevier Hafenstadt. Wo sind die Zeugen?“, fragten die Polizisten.

Die kamen ja schnell zur Sache. Hm, vermutlich hatten sie nicht den ganzen Tag Zeit. Borkin wies mit einer Handbewegung auf Cera und Maggy. Unwillkürlich musterte Cera die Polizisten genauer. Der größere der beiden trug einen dunklen Schnauzbart, der andere war jünger und sah sich gelangweilt im Zimmer um. Beide waren in ihre Dienstuniformen gekleidet und mit Notizblöcken und dicken Ordnern ausgerüstet, außerdem zogen sie Mienen, als wären sie auf ihrer eigenen Beerdigung und nicht bei der Arbeit.

„Gut. Den Tierarzt haben wir schon befragt. Dürfen wir die anderen Personen bitten, den Raum zu verlassen. Danke“, ordnete der ältere Polizist mit dem Schnauzbart weiter ausdruckslos an. Er sah etwas in seinen Unterlagen nach und holte ein Klemmbrett aus einer Tasche.

Die anderen Mädchen gingen zur Tür hinaus. Cera blickte hinter sich. Die Tafel Schokolade war weg.

„Nun. Ihre Namen lauten?“, fragte der Polizist.

„Cera Maler und Magdalena Reif“, erklärte Maggy mit Handbewegungen.

„Wir beginnen nun mit der Zeugenvernehmung. Können Sie uns sagen, was genau passiert ist, nachdem sich der Unfall auf dem Springplatz ereignet hat?“, begannen die Beamten die Befragung.

„Cera ist zu dem Pferd gerannt und hat es in den Stall begleitet, nachdem der Tierarzt gekommen war“, erzählte Maggy ein wenig niedergeschlagen.

„Wann kam denn der Tierarzt?“

„Er kam ziemlich spät“, murmelte Cera trotzig.

„Das bestätigt auch die Aussage des Tierarztes. Demnach wurde er in der Zeit von dem Verbrecher niedergeschlagen. Was geschah dann?“

„Ich habe das Pferd gepflegt und gewartet, bis der Tierarzt wiederkam“, gab Cera an.

„Er war also nicht die ganze Zeit bei dem Pferd?“, hakte der bärtige Polizist nach.

„Nein“, sagte Cera ein wenig widerspenstig.

„Gut. Und dann?“

„Dann bin ich gekommen und wollte Cera zurück zum Turnier holen, weil sie bald drangekommen wäre. Gerade als wir aus dem Stall gehen wollten, hat der Tierarzt die Boxentür geöffnet und das Pferd herausgeholt. Dann ist er mit dem Tier aus dem hinteren Stallausgang gerannt. Gleichzeitig ist der richtige Tierarzt aus einer der Boxen herausgekommen. Cera ist dem Mann und dem Pferd hinterhergerannt, aber sie hat sie nicht mehr eingeholt“, berichtete Maggy aufgeregt. Sie wirkte ein wenig wütend.

„Was hast du dann gesehen?“, fragte der andere Polizist an Cera gewandt.

„Ich habe gesehen, wie der Mann das Pferd in einen Transporter gebracht hat und dann losgefahren ist. Das Auto war ein dunkelgrüner Jeep“, erinnerte sich Cera.

„Hast du ...“

„Nein, habe ich nicht. Ich habe das Kennzeichen nicht gesehen und auch nicht, in welche Richtung der Wagen gefahren ist. Sonst noch Fragen?“, blaffte Cera ein wenig ungehalten. An anderen Tagen hätte sie sich geschämt, so mit einem Polizisten zu reden, aber ihr tat alles weh und allmählich ging ihr die Sache gehörig auf den Keks. Sie war mies gelaunt, hatte noch den ekligen Trüffelschokoladengeschmack im Mund, wollte einfach nur nach Hause und sich wegen Firefly ausheulen. Außerdem schmerzten ihre aufgeschürften Knie, sie hatte Sand in den Schuhen und mindestens drei neue Mückenstiche.

Die Beamten notierten sich etwas in ihren Notizbögen und packten ihre Sachen. Zu Bernd Borkin sagten sie kurz und knapp: „Wir melden uns bei Ihnen, wenn es etwas Neues gibt.“ Sie reichten ihm die Hand und gingen hinaus.

Kurz nachdem sie den Raum verlassen hatten, kamen die anderen Mädchen wieder herein. Cailie setzte sich zu Cera auf die blaue Liege.

„Hey Cera, gleich sind wir wieder zu Hause“, tröstete Cailie ihre Freundin und legte einen Arm um sie. „Außerdem sucht die Polizei inzwischen nach dem Pferd, die finden es bestimmt!“

Doch das überzeugte Cera ganz und gar nicht. „Weißt du überhaupt, wem das Pferd gehört?“, fragte sie.

„Nein, da musst du Maggy fragen, die hat sich inzwischen erkundigt.“

Cera seufzte. „Ich will nach Hause.“

„Nur noch die Siegerehrung, dann haben wir es geschafft“, ermunterte Cailie sie und lächelte.

„Wir sind doch sowieso die Letzten. Es haben bestimmt andere gewonnen.“

Sie hatten wohl etwas zu laut geredet, denn Borkin hatte alles mitbekommen. Er grinste sie an und sagte geheimnisvoll: „Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Cera und Cailie blickten ihn verständnislos an. „Ihr werdet sehen!“

Als endlich alle auf ihren Pferden saßen und in die Arena hineingeritten waren, räusperte sich jemand am Mikrofon. Es war Herr Borkin höchstpersönlich. Er sagte: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kinder und Jugendliche, liebe Teilnehmer. Es tut mir außerordentlich leid, dass in diesem Turnier sehr viel schiefgehen musste. Falls es noch nicht alle mitbekommen haben, das Pferd von Cedric von Litzenstein, dem Sohn des Gestütsbesitzers François von Litzenstein, ist verschwunden. Die Polizei fahndet inzwischen nach dem teuren Hengst. Ich entschuldige mich vielmals und wünsche Ihnen trotzdem noch einen schönen restlichen Aufenthalt auf unserem Turnierplatz. Kehren wir nun zur Siegerehrung zurück.“ Dann trat er vom Mikrofon weg und verschwand. Cera hatte es doch gewusst: Firefly war gestohlen worden. Und dieser Typ, dem er gehört hatte, musste tatsächlich über 13 Pferde besitzen und wohnte auch noch auf einem Gestüt. Neidisch wandte Cera sich wieder dem Turm zu.

Der andere Sprecher hatte wieder seinen Platz eingenommen. „Die Siegerehrung findet nun statt. Die Ergebnisse der Tabelle sind folgende: Ganz unten stehen die Seelstadter Reiter mit null Punkten. Auf dem fünften Platz sind die Musdorfer Mädchen mit zehn Punkten. Danach kommt auf dem vierten Platz die Mannschaft der Rabensteiner Knaben. Auf dem dritten Platz sind die gewitzten Fuxdorfer gelandet. Doch um die ersten beiden Plätze müssen sich zwei Gruppen streiten. Das sind ... die Borninger Pferdeflöhe und die Reiter des Hafen-Reitvereins! Jede Gruppe hat in den Spielen 40 Punkte gesammelt.“

Cera begriff erst gar nicht, was los war. Der Mann sprach schon weiter: „Doch nun müssen wir auch noch Sprung, Distanz, Aussehen und Vertrauen bewerten. Im Springparcours haben die Reiter des Hafen-Reitvereins deutlich besser abgeschnitten, in der Disziplin Distanz haben sich beide Gruppen sehr gut bewiesen. Doch in den Kategorien Aussehen und Vertrauen sind die Borninger eindeutig Sieger. Die Pferde des Hafen-Reitvereins waren verschwitzt und fingen wegen der ganzen Aufregung und dem Leistungsdruck an durchzudrehen. Doch die Borninger blieben ruhig und hätten jetzt sogar noch einen Ausritt veranstalten können. Und in der Disziplin Vertrauen gibt es im ganzen Tal keine besseren Reiter. Die selbst ausgedachte Aufgabe war spitze. Kein anderes Pferd hat es über das Hindernis geschafft, das wirklich sehr durchdacht und ausgefallen war. Außerdem waren die Borninger im Vertrauensparcours die Ersten. Und das dürfte nun wohl eindeutig reichen. Die Gewinner dieses Turniers sind natürlich die Borninger Pferdeflöhe!“

In Cera waren während dieser Worte ein paar kleine Knospen der Hoffnung aufgeblüht. Nun hatten sich diese Knospen zu Blüten entfaltet. Sie machte einen Luftsprung auf Apples Rücken und strahlte zu Cailie und den anderen hinüber. Sie hatten es zusammen geschafft, trotz aller Strapazen. Trotz des Unglücks mit Firefly ... Cera schüttelte den Kopf. Sie wollte erst wieder zu Hause an den gestohlenen Hengst denken. Jetzt musste gefeiert werden. Das Publikum jubelte und die Hafen-Reiter buhten. Doch das überhörten sie einfach. Cera war so glücklich, dass sie für einen Augenblick ihre Sorgen um Firefly vergaß.

Als sich der Jubel ein wenig gelegt hatte, drang es wieder aus den Lautsprechern: „Nun vergeben wir den Hauptpreis, den Pokal und noch ein Geschenk. Raten Sie nur, was es ist! Der Hauptpreis dieses Turniers ist ein Pferd! Der Veranstalter, Bernd Borkin, verschenkt ein Pferd seines Gestüts mit Futter, Putzzeug, Sattel, Zaumzeug, Pflegemittel und allem Drum und Dran sowie 400 Euro! Freie Wahl eines neuen Pferdes für den Reitstall, ist das nicht toll? Die Borninger Pferdeflöhe mögen in sein Büro kommen, Bernd Borkin persönlich wird da sein und sie beglückwünschen!“

Den Mädchen klappte die Kinnlade herunter. Mit den 400 Euro konnten sie fast hundertmal Eis essen gehen und obendrauf bekamen sie ein neues Pferd mit Zubehör und den ganzen Sachen! Wow! Was war das für ein toller Preis!

Schon fingen die Mädchen an zu diskutieren, welches Pferd sie aussuchen würden. Erst waren gewöhnliche Pferderassen im Gespräch wie Haflinger, Isländer, Englische Vollblüter und Trakehner, aber dann kam die Erste mit einem Maultier, darauf folgte die Idee von einem Curly Horse-Marwari-Mix, einem Albino-Friesen ...

Ceras Abenteuer - Das Geheimnis der schwarzen Stute

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