Читать книгу Ariowist und Birkenfeuer - Lennart Pletsch - Страница 14
3. Ein schicksalsträchtiger Beschluss
ОглавлениеEs war früher Vormittag und die Sonne schickte bereits wärmende Strahlen durch das Fenster seiner Kammer, als Dirion erwachte. Er fühlte sich so erholt, wie selten in den letzten Monaten und er hatte sich vorgenommen, die Geschehnisse des heutigen Tages mit der größten Besonnenheit an sich vorbeiziehen zu lassen. Natürlich war er auf einige Unannehmlichkeiten gefasst, spätestens auf der Ratsversammlung am Nachmittag würde es zu heftigen Auseinandersetzungen kommen.
Doch wie die Sonne, die sich über dem Meer erhob, glaubte Dirion hinter dem Horizont eine strahlende Zukunft zu erspähen, welche mit jedem Tag ein wenig näher rückte, an dem er den Strapazen des Krieges trotzte.
Er ließ sich von seinem Kammerdiener einen Krug mit Wasser bringen und begab sich dann in die Waschecke seiner Gemächer. Dort war ein kleiner Spiegel an der Wand angebracht und auf einem runden Eichentisch stand eine Goldschüssel, um die herum kleine Fläschchen mit diversen Pulvern aufgereiht waren, ein Bimsstein, einige Schwämme und Baumwolltücher zum Abtrocknen.
Dirion war es längst gewohnt, sich tage- und wochenlang nicht richtig zu waschen, wenn es das Feldlager nicht hergab, doch genoss er es auch, wenn ihm diese höfische Annehmlichkeit wieder zur Verfügung stand. Sein Diener kam zurück und füllte die Schüssel mit klarem Wasser aus dem Hofbrunnen auf, das durch Kupferrohre auch an einigen Orten innerhalb des Schlosses gefördert werden konnte.
Der Prinz öffnete eines der Fläschchen, in dem sich zerstäubtes Vulkangestein befand, und vermengte den grau schimmernden Inhalt mit dem Wasser. Dann wusch er sich, trocknete sich ab und als er fertig war, langte er unter den Tisch nach einer Kiste. Darin lagen Rasiermesser verschiedener Form und Größe, daneben ein Stein zum Schärfen der Klingen. Dirion nahm sich eine Schneide und rasierte sich die Bartstoppeln ab.
Als er fertig war mit seiner morgendlichen Körperpflege, schlüpfte er in eine Hose aus weinroter Baumwolle und zog sich eine Tunika aus schwarzem Samt über, die an Kragen und Saum mit einem schmalen Goldrand verziert war. Vor dem Fenster standen die Stiefel des Vortages und Dirion band sie fest um seine Schienbeine. Dabei sah er aus dem Fenster hinaus, welches gen Osten über die Gärten hinausging, hinter denen das Meer in der Sonne glitzerte.
Dirion konnte einige Druden sehen, die aus dem Gebirge kommend über dem Wasser kreisten und wohl darauf warteten, dass die Fischer auf ihren Booten einen Augenblick nicht auf ihren Fang achteten. Dann stürzten sich die Menschenvögel pfeilschnell auf den Fisch. Am Himmel über Albenbrück waren die Druden ein seltener Anblick geworden, denn die Bürger fürchteten sich vor ihrer Gestalt, halb Greifvogel, halb Frauenleib.
Doch eigentlich waren sie nicht gefährlicher als alle anderen Raubvögel auch, mal rissen sie ein junges Lamm auf der Weide oder ein Kaninchen vom Feld. Einen Menschen griffen die Druden jedoch nie an, aber die Bauern und Stadtbewohner jagten sie mit einer Erbarmungslosigkeit wie kein anderes Geschöpf der Lüfte.
Der Aberglaube ist euer Verhängnis, sagte Dirion im Geiste zu den Druden. Denn es gab von jeher Geschichten, dass die Wesen nachts in die Häuser einsamer Männer kamen und es mit ihnen trieben, während sie schliefen. Wer den Akt mit einer Drude vollzogen hatte, würde am nächsten Tag dem Wahnsinn anheimfallen, so der Volksglaube. Doch Dirion glaubte nicht an derartige Märchen. Wie viel Neues über das Wesen des Geistes hatten die Gelehrten doch an der königlichen Universität in den letzten Jahren herausgefunden! So war das Tollsein beim Menschen keine Folge vom Geschlechtsverkehr mit irgendwelchen Kreaturen, mochten sie auch noch so furchterregend erscheinen, sondern schlicht einer krankhaften Erwärmung der Gehirnflüssigkeiten des Wahnsinnigen. In den kommenden Jahrzehnten würde noch so manch anderer Spuk von der Wissenschaft entzaubert werden, glaubte Dirion.
Er verließ seine Kammer und schritt durch den Bogengang, ging eine Wendeltreppe hinauf, betrat einen anderen Gang, dessen Fenster mit buntem Glas verziert waren, und stand schließlich vor Kyjeras Gemächern. Er klopfte an die Tür und wartete auf eine Antwort. Als niemand ihn hereinbat, drückte er die Klinke runter und schob die Tür einen Spalt weit auf. Er wollte Kyjera und ihre Schwester nicht unschicklich belästigen, falls sie sich noch bei der Morgenwäsche aufhielten.
Doch das Zimmer war leer, soweit Dirion es überblicken konnte. Nicht einmal die Zofe war hier, um die Betten zu machen, also öffnete Dirion die Tür noch ein Stück und trat vorsichtig ein.
„Edle Damen? Seid Ihr zugegen?“, fragte Dirion in einem gekünstelt vornehmen Ton. Als er die Tür behutsam hinter sich schloss, erschrak er fürchterlich, denn plötzlich wurde er von hinten gepackt und an den Armen festgehalten.
Jemand musste sich hinter der Tür versteckt haben! Etwa ein Meuchelmörder, der auch die beiden Frauen überfallen hatte? Dirion wand sich geschickt aus dem Griff und drehte sich blitzartig um - bereit, mit bloßen Händen einen Kampf auf Leben und Tod zu führen.
Doch dann blickte er in das lachende Gesicht seiner Verlobten und sein Schrecken verflog. „Meine Großmutter würde dich erschlagen können, wenn sie wollte“, triezte Kyjera ihn lachend. Sie stand strahlend vor ihm, gewandet in ein einfaches grünes Kleid, dessen Mieder in reinem Weiß erstrahlte. Um den Hals trug sie eine goldene Kette mit einem Amulett über der Brust und ihre Haare wurden von einer ebenhölzernen Spange zusammengehalten.
„Du bist zu unvorsichtig“, neckte sie ihn, woraufhin Dirion sie fest packte und an sich zog. Kyjera stieß einen spitzen Schrei aus, doch dann legte er seine Lippen auf die ihren und küsste sie zärtlich. „…du Held“, flüsterte sie in sein Ohr.
„Ich würde jetzt gerne fortsetzen, was wir gestern Nacht begonnen haben“, antwortete Dirion mit gedämpfter Stimme. Sie grinste und wand sich aus seiner Umklammerung. „Ich fürchte, das müssen wir auf die Abendstunden verschieben“, entgegnete die junge Frau und öffnete die Tür, „wir sollten uns in den Festsaal begeben, wo sich die Gäste versammeln.“
„Aber um mich zu überfallen reichte die Zeit?“, fragte Dirion etwas ungehalten über den viel zu kurzen Kuss. Kyjera lachte wieder: „Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck vor den hohen Herrschaften machen.“
Dirion zuckte mit den Schultern: „Es ist mir eigentlich ziemlich egal, welchen Eindruck die hohen Herrschaften von mir haben, solange ich es bin, der ihnen die fetten Ärsche vor den Triganern rettet.“ „Jetzt sei nicht so trotzig, es sind doch auch Freunde von dir dabei.“
Freunde? In diesem Punkt hatte Kyjera nun Unrecht, dachte Dirion. Er verstand sich zwar darauf, einen einigermaßen freundlichen Eindruck zu hinterlassen, auch bei den Edelleuten, die er für weniger ehrenhaft hielt, doch Freunde waren für ihn nur die Männer, welche mit ihm aufs Feld zogen und verstanden, was es hieß, dem Tod ins Auge zu blicken.
Er hatte keine Lust, weiter mit ihr zu diskutieren, also nahm er sie bei der Hand und sie schlenderten durch die Gänge des Schlosses hinunter zum Festsaal, der direkt am Innenhof lag.
Durch ein Fenster konnte Dirion sehen, dass mehrere Kutschen auf dem Hof standen und es kamen immer noch weitere an. Das waren die Ratsmitglieder, die sich nicht dauerhaft auf dem Schloss befanden, sondern zu den Versammlungen extra anreisten. Neben der königlichen Familie hatten viele Aristokraten ihre eigenen Gemächer, welche sie beinahe dauerhaft bewohnten. Doch die Ratsherren und -damen, deren Schlösser und Burgen sich in den angrenzenden Landen befanden, reisten nach einer Versammlung meist wieder ab, um dann im nächsten Monat zurückzukehren.
So auch Kyjeras ältere Schwester Ariadne, die vor kaum einem Jahr zur Markgräfin von Starrenberg und Schlehendorf gekrönt worden war. Ihr Vater, der berüchtigte Alexander von Schlehendorf, war gefallen, ohne einen Sohn gezeugt zu haben, wodurch die Regentschaft erstmals an eine Frau ging. Doch den Bewohnern der Mark war sie eine geliebte und hoch angesehene Fürstin. Sie stand mit ganzer Kraft für Fortschritt und Gerechtigkeit ein, was unter den vielfach korrupten Aristokraten des Reiches keine Selbstverständlichkeit war.
Als Dirion und Kyjera dem großen Festsaal näher kamen, wurde der Tumult aus Stimmen und Musik, der aus dem Haupteingang schallte, zunehmend lauter. Schließlich betraten sie den königlichen Festsaal, welcher bereits gefüllt war von Adeligen aus allen Landen.
Sie saßen oder standen an einer großen Tafel, die einmal quer durch den ganzen Raum ging. Durch die Seiteneingänge brachten Diener in feinsten Gewändern mächtige Amphoren mit Wein herbei, trugen Silbertablette mit Früchten und allerlei Naschereien und eine Gruppe von Musikanten stand auf einer Bühne, die gegenüber vom Haupteingang errichtet worden war. Sie spielten auf Saiteninstrumenten, Trommeln und Pfeifen eine fröhliche Weise.
Der Festsaal war so groß wie der Thronsaal und diese beiden bildeten die prächtigsten Räume im Schloss. Doch hier sorgten allerlei Verzierungen und Spielereien in der Architektur dafür, dass immer ein wenig mehr Heiterkeit in der Luft lag als im Thronsaal. Alle fünf Fuß verlief eine Säule an der Wand zur Decke, die im Stil der alten Drakentempel eine geriffelte Oberfläche besaß. Sie war jedoch aus gebeiztem Fichtenholz gefertigt und hatte somit keine tragende Funktion, sondern stellte schlichtweg ein ästhetisches Element dar.
An den Wänden waren Teppiche aus den Südlanden mit aufwändigen Mustern in allerlei Farben aufgehängt und zwei Fenster, höher als alle anderen im gesamten Schloss, gaben den Blick auf die prachtvollen Gärten frei.
Der versammelte Hochadel diskutierte, lachte, schimpfte lauthals, sodass die Musik beinahe gänzlich übertönt wurde. Dirion ließ seinen Blick über die Gästeschar wandern, um ein vertrautes Gesicht auszumachen, zu dem er sich an den Tisch gesellen würde. Doch noch bevor er sich seine Gesellschaft aussuchen konnte, rief jemand seinen Namen: „Dirion, kommt zu uns!“
Es war Egrodt von Asyc, der auf der linken Seite der Tafel in unmittelbarer Nähe des Prinzen stand, einen Bierkrug in der Hand haltend, und Dirion zuwinkte, sich auf einen freien Platz der Bank neben ihn zu setzen. „Mir scheint, du hast deinen Pflichten als Prinz nachzugehen“, bemerkte Kyjera, „wir sehen uns später, mein Prinz.“ Sie warf ihm ein letztes Lächeln zu, dann ging sie hinüber zu ihrer Schwester, die sie am anderen Ende der Tafel ausgemacht hatte.
Sie hatten sich noch nie öffentlich geküsst, obwohl jeder wusste, dass sie ein Paar waren, dachte Dirion und wunderte sich ein weiteres Mal über die abstrusen Sitten des Hofes. Kopfschüttelnd und in Gedanken versunken setzte er sich neben Egrodt und grüßte knapp, aber höflich die Runde aus Herzögen und Grafen.
„Mein Prinz, wenn Ihr erlaubt? Ein edler Tropfen von den Hängen des Kofels.“ Ein Diener stellte vor Dirion einen goldenen Becher auf den Tisch und schenkte ihm Rotwein ein. Dann erhob Egrodt sein Trinkgefäß und gab einen Trinkspruch zum Besten, der mit dem üblichen Segenswunsch von Albenbrück endete: „Mögen die Draken allzeit über Stadt und Weltkreis wachen!“
Alle in der Runde, die den Vers mitbekommen hatten, führten ihren Becher zum Mund und tranken. Egrodt stellte seinen als Erster wieder ab und setzte sich. Dirion schielte in den Humpen und sah, dass der Graf kaum einen Schluck genommen haben konnte. Das Bier stand noch bis zum Rand darin, während die anderen Adeligen ihre Becher in einem Zug geleert hatten.
„Nun denn, was erwartet Ihr vom heutigen Ratstag?“, fragte Egrodt in die Runde. Alvin von der Weiden, ein schlanker und hochgewachsener Mann in den Dreißigern, der aber wegen seiner Hakennase und einem fehlenden Schneidezahn beileibe nicht als hübsch zu bezeichnen war, antwortete direkt, als hätte er sich auf diese Frage vorbereitet: „Ich bin mir sicher, dass der König heute sein Angebot an uns macht, wie es mit der Kornsteuer weitergehen soll. Die Ernte hat längst begonnen, aber sein Gesetz zu den Abgaben, die wir entrichten müssen, ist fast zehn Jahre alt und längst nicht mehr tragbar. Die Kornspeicher von Balintúr sind leer, wenn wir abgeben, was er fordert!“
„Warum habt Ihr dann den Fürsten von Ostersundt nicht unterstützt, als er das Gesetz schon im letzten Sommer ändern wollte?“, wetterte der Graf von Gandurdall und schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war ein dicker, pausbäckiger Mann mit kurzem, rotem Haar, das in seiner Farbe einzig von seiner Säufernase übertroffen wurde. Der Fettwanst hat schon morgens einen sitzen, dachte Dirion. Wie sollte so jemand denn der Ratsversammlung ernsthaft beiwohnen wollen?
„Wir waren die Trottel der Ratsversammlung, als wir mit unserem Anliegen vorsprachen und Ihr? Ihr habt dagesessen und zugesehen, wie man uns demütigte!“
Bei allen Göttern, es war wie immer! Und das hielt Dirion beim besten Willen nicht aus, wenn er seine Beherrschung behalten wollte. Doch dann erinnerte er sich daran, wie er sich eben erst vorgenommen hatte, sich heute durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Also nippte er wieder an seinem Wein, darauf bedacht, den Streithähnen möglichst keine Beachtung mehr zu schenken.
Der Trunk schmeckte ausgesprochen gut, es musste ein günstiger Sommer gewesen sein, in dem diese Trauben gereift waren. Doch auf leeren Magen brannte wohl jeder Wein im Bauch, weswegen Dirion nach einer der Platten mit Gebäck griff. Er nahm eine Goldberger Semmel, biss ein Stück ab und sah sich kauend an der Tafel um.
Viel zu weit entfernt sah er Kyjera sitzen, die sich angeregt mit ihrer Schwester unterhielt, wobei sie Weintrauben naschte.
„Nicht wahr, Dirion?“ Er wurde völlig unvermittelter Dinge aus seinen Träumereien gerissen, als Egrodt ihn ansprach und sich alle Augen von Egrodts Gesprächspartnern auf ihn richteten. „Entschuldigt mich, Graf, ich war gerade abgelenkt“, murmelte Dirion beschämt. Egrodt schmunzelte nur. Hatte er Dirion beobachtet und diesen ungünstigen Moment abgewartet?
„Ich hatte gerade den Ratsherren hier erklärt, dass wir heute einen Plan vorlegen werden, wie der Krieg zu beenden sei!“, verkündete Egrodt mit Elan. Dirion nickte und hoffte, dass der Graf keine allzu großen Töne in seinem Namen gespuckt hatte, denn die anderen Edelleute würden sicherlich kaum von Egrodts Plan begeistert sein.
„Und wie“, hakte Alvin von der Weiden ein, „dürfen wir uns diesen Plan vorstellen?“ Egrodt hob die Augenbrauen, sah in die Runde der fragenden Gesichter und sagte dann nüchtern: „Ihr werdet es in wenigen Stunden erfahren. Ich habe mir den ersten Rednerplatz beim Sekretarius gesichert.“ Daraufhin hob er sein Bier wieder an und diesmal nahm er tatsächlich einen Schluck, wie Dirion bemerkte.
Noch einmal sah er zu Kyjera hinüber, jetzt trafen sich ihre Blicke und lange sahen sie sich über die Tafel hinweg an. Dirion blendete den Trubel um sich herum für einen Augenblick völlig aus, während er ganz und gar in diesen blauen Augen zu versinken schien.
Abrupt endete jedoch der magische Augenblick, als Bläser der Palastgarde mit einem infernalischen Lärm die Fanfare des Königs spielten, zwei Soldaten mit Hellebarden den Raum betraten und dann der König selbst in den Festsaal eintrat. Er trug die purpurne Robe des Vortages und wie bei allen öffentlichen Anlässen saß die goldene Krone auf seinem Kopf. Mit bedächtigen Schritten ging er einmal um die Tafel herum und blieb an ihrem hinteren Ende bei seinem angestammten Platz stehen. Während Arkil die Edelleute an der Tafel passierte, herrschte eine ungewöhnliche Stille im Raum.
Man hörte nur seine Schritte, die von verstohlenem Tuscheln begleitet wurden. Dann kam der königliche Mundschenk persönlich herbeigeeilt und füllte aus einer grünen Flasche Rotwein in einen Goldbecher, den ein Diener bereithielt. Diesen reichte der Mundschenk dem König und zog sich dann mit einer tiefen Verbeugung wieder zurück.
Es war das übliche Prozedere bei Ratsversammlungen und nun würde der König den Gruß an alle Anwesenden richten. Doch Dirion hatte soeben einen Entschluss gefasst, welcher die heutige Begrüßung einmalig werden lassen sollte.
„Ihr Fürsten aller Länder, ich begrüße Euch am Hofe des Königs! Es ehrt mich, dass Ihr alle erschienen seid, um heute Rat zu halten. Mögen die Draken allzeit über Stadt und Weltkreis wachen!“ Nachdem Arkil die Worte mit kräftiger Stimme zu Ende gesprochen hatte, hob er seinen Becher und trank von dem Wein, woraufhin es ihm alle Anwesenden gleichtaten.
Der Truchsess, der kurz nach dem König den Saal betreten hatte, klatschte zweimal in die Hände und wieder kam eine Schar von Dienern und brachte neue Köstlichkeiten, diesmal jedoch deftige Mahlzeiten auf noch größeren Tabletts, von denen manche von zwei Männern zugleich getragen werden mussten.
Gerade wollten die Musikanten ein neues Stück anstimmen, als Dirion sich erhob und mit einer Gabel mehrmals gegen seinen Becher schlug. „Verehrte Gesellschaft!“, rief er durch den Saal, um auch am anderen Ende der Tafel gehört zu werden. „Werte Fürsten, Vater!“ Er sah kurz in die Runde und versicherte sich, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkte, bevor er weitersprach: „Es ist mir eine große Freude, Euch allen am heutigen Tage meine baldige Vermählung mit der Jungfrau von Schlehendorf, Tochter des Alexander von Schlehendorf, mitteilen zu dürfen!“
Für einen Wimpernschlag herrschte absolute Ruhe im Saal, dann erhob sich auch Marschall Eristrian, welcher Dirion schräg gegenüber saß, hob einen zinnernen Humpen in die Luft und rief mit donnernder Stimme: „Ein Hoch auf das Prinzenpaar!“ Die gesamte Versammlung begann wie auf Kommando zu klatschen und einzelne beglückwünschende Rufe kamen von den Bänken.
Dirion sah hinüber zu Kyjera, sie sah ihn freudestrahlend an und er erwiderte ihr Lächeln. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Vater, welcher ebenfalls lächelte und ihm zustimmend zunickte.
Zufrieden trank Dirion einen Schluck Wein, setzte sich wieder und bekam aufmunterndes Schulterklopfen von seinen Sitznachbarn. Aldrĭn, der in der Nähe von Arkil saß, verzog sein Gesicht zu einer gespielt beeindruckten Miene, dann grinste er breit und Dirion musste ebenfalls grinsen. Es war höchste Zeit, ein paar Worte mit seinem Bruder zu wechseln, dachte Dirion sich, möglichst noch, bevor die Ratsversammlung begann.
Als er diesen Entschluss gefasst hatte, spielten die Musikanten schließlich wieder auf und das Festmahl begann.
***
Als das Bankett vom König aufgelöst worden war und die Ratsmitglieder sich zur Vorbereitung auf die Ratsversammlung in ihre Gemächer und die Gärten zurückgezogen hatten, war Aldrĭn zur Kammer seines Bruders geeilt. Er hoffte, ihn hier anzutreffen, doch Dirion war nicht in seinen Gemächern.
Also trottete der Prinz durch den Bogengang zurück in Richtung seiner eigenen Kammer, als ihm Dirion auf halbem Weg entgegenkam.
„Hey, du Eroberer der holden Jungfrau!“, rief Aldrĭn seinem Bruder schon von weitem zu. Dirion musste schmunzeln, dann fielen sie sich in die Arme. „Ich gratuliere, ich dachte schon, du würdest es nie tun“, sagte Aldrĭn sichtlich gut gelaunt. „Eigentlich schon seit zwei Tagen“, entgegnete Dirion, „aber es gab einfach keinen guten Zeitpunkt.“
Sie gingen zur Ostseite des Schlosses und verließen das Gebäude, um in die Gärten zu gelangen. Dort spazierten einige der Aristokraten umher und unterhielten sich, während andere auf den vielen Sitzmöglichkeiten verweilten und die Mittagssonne genossen. Nachdem die Brüder die wichtigen Herrschaften gegrüßt hatten, verließen sie schnell die Hauptwege, um über einen schmaleren Pfad zum Vogelteich des Gartens zu gelangen.
Dieser lag etwa in der Mitte der Anlage, maß an seiner breitesten Stelle wohl zwanzig Fuß und war von hohem Schilfgras umgeben, sodass es nur zwei Stellen gab, an dem man über Pfade zu hölzernen Stegen kam. Auf diesen fanden gerade einmal zwei Mann nebeneinander Platz. Der besondere Vorzug des Gewässers war die Einsamkeit, die man hier fand. Enten schwammen auf dem Teich, zwischen ihnen ein weißer Schwan, der den anmutigen Hals für einen Moment zu den beiden Prinzen drehte, dann aber keine Notiz mehr von ihnen nahm.
Aldrĭn und Dirion standen auf dem Steg und betrachteten die glitzernde Wasseroberfläche. „Glaubst du, dass die Hochzeit schon in den nächsten Wochen stattfinden kann?“, fragte Aldrĭn.
„Ich weiß nicht, was dagegen sprechen sollte“, antwortete sein Bruder, „wir haben auch schon beschlossen, dass sie nicht im großen Tempel abgehalten werden soll, sondern in einer Kapelle nahe der Grenze zur Mark.“
„Du und deine Extrawünsche“, bemerkte Aldrĭn grinsend, „es gibt hundert Möglichkeiten, die einfacher wären! Du könntest dir sogar einen Priester an den Teich hier holen lassen, wenn du’s wolltest, aber nein: du heiratest drei Dutzend Meilen entfernt und dann noch jenseits des Gebirges!“
Dirion zuckte mit den Schultern: „Wozu bin ich denn Prinz? Du sagst es: ich kann mir einen Priester holen lassen, wohin ich will! Außerdem werden wir auch vorerst unser Schloss in der Mark bewohnen.“
„Du meinst, ihr zieht sozusagen zu ihr? Wie unkonventionell.“
Dirion lächelte: „Es war ihre Idee und bevor ich die nächsten Jahre mit meiner eigenen Familie – und noch zusammen mit euch - im Königspalast versauere, übernehme ich lieber mein eigenes Schloss.“
Einen Augenblick lang betrachteten sie wieder das ruhige Wasser. „Ich habe darüber nachgedacht, was du gestern Morgen gesagt hast“, meinte Dirion schließlich, „denn es schien dir wirklich nicht schwer gefallen zu sein.“
Aldrĭn dachte daran zurück, wie die Triganer ihn und seine Ritter aus einem Hinterhalt auf der Straße überfallen hatten, als sie die Stadt durchquerten. „Ja, es ging. Ich dachte, es wäre schwerer, den Überblick zu behalten. Aber wenn man es schon öfter getan hat, fällt es auch nicht schwer, anderen Anweisungen zu geben, nicht?“
Dirion runzelte die Stirn. „Ich finde, es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob du nur für dein eigenes Leben verantwortlich bist oder für das von zehn Männern. Oder hundert oder tausend, je nachdem, wie viele du anführst.“ „Es sind allesamt Krieger, denke ich. Die können ganz gut auf sich selbst aufpassen. Normalerweise sind sie ja sogar erfahrener als ich“, sagte Aldrĭn gelassen.
„Und das beunruhigt dich nicht?“
Aldrĭn sah seinen Bruder an, welcher sichtlich beeindruckt war, dann fiel ihm ein Satz aus der letzten Nacht ein: „Vielleicht sehe ich die Dinge einfach von einem weniger durchdachten Standpunkt als du.“
Sie wechselten einen ernsten Blick und Dirion versuchte einzuschätzen, ob Aldrĭn ihn verhöhnte. Doch dann lächelten beide und Dirion begriff, dass sein Bruder es tatsächlich wertschätzend meinte.
Auf dem See beobachtete er eine Entenfamilie, die auf den Steg der gegenüberliegenden Uferseite zu schwamm.
Dirion rang damit, Aldrĭn auf das Gespräch mit ihrem Vater anzusprechen, das er in der vergangenen Nacht belauscht hatte, doch er wusste nicht, womit er anfangen sollte, also verdrängte er den Gedanken vorerst wieder. Er würde schon früh genug erfahren, was es mit dem Ariowist auf sich hatte und warum sein jüngerer Bruder dazu auserwählt worden war, aber nicht er selbst.
Mit nachdenklicher Miene betrachtete er die Entenküken auf der anderen Seite, die hinter ihrer Mutter auf dem Steg davonwatschelten.
***
„Was gebt Ihr Euch denn noch mit Politik ab, wenn das Ehebett ruft?“, rief Eristrian Dirion entgegen, als er zusammen mit Aldrĭn den Thronsaal betrat. Dieser Mann kannte manchmal wirklich keine Scham, dachte Dirion, denn natürlich drehten sich in diesem Moment alle Ratsmitglieder pikiert im Saal zu ihm und Eristrian um. Dirion wartete mit seiner Antwort ab, bis er unmittelbar vor dem Marschall stand, um nicht ebenfalls das Gehör aller Anwesenden zu finden.
„Manchmal muss man eben die schönen Dinge aufschieben, das macht sie umso süßer“, merkte Dirion an. Eristrian lachte nur knapp, dann wandte er sich wieder dem massiven Eichentisch zu, der in der Mitte des Saals aufgestellt worden war.
Dort hatte der königliche Kartograph auf der gesamten Tischplatte ein vergilbtes Papier ausgerollt, welches das Königreich zeigte, samt dem Ozean, der es bis auf den Süden vollends einschloss. Die angrenzenden Südlande, die über einen schmalen Zipfel mit dem Reich verbunden waren und die Inseln Triga und Dalltrellva weit im östlichen Meer. In wunderschöner Kaligraphie hatte der Zeichner dieser Karte die einzelnen Grafschaften, Herzogtümer und Marken beschriftet, aber auch jeder Berg, jede Erhebung, jeder Fluss und die größeren Wälder waren mit ihren Namen kenntlich gemacht.
Das beeindruckende Kartenwerk war so groß, dass man um den Tisch herumgehen musste, um die Ortsnamen auf der anderen Seite entziffern zu können. Jedoch war es so einem jeden der knapp dreißig anwesenden Ratsmitglieder möglich, ungehindert einen Blick darauf werfen zu können.
Um sich einen Überblick über die Stellungen der königstreuen Armeen und jene der triganischen Krieger zu verschaffen, waren diese durch kleine Figuren dargestellt, die mit großem handwerklichem Geschick aus Horn und Holz geschnitzt waren. Auf dem Land standen etliche Pikenträger herum, die jeweils einen Haufen von etwa hundert einfachen Fußsoldaten darstellten. Daneben saßen Ritter auf ihren Schlachtrössern, es gab winzige Belagerungswaffen, die hauptsächlich in den Städten positioniert waren, und an den Küsten patrouillierten kleine Bootsminiaturen, die liebevoll mit Segeln aus Leinenflicken verziert waren.
Für die Triganer waren ähnliche Figuren gefertigt worden, jedoch allesamt in leuchtend roter Farbe angepinselt, um auch keine der feindlichen Truppen auf dem Schlachtplan zu übersehen. Da man mit den bloßen Armen kaum bis in die Mitte des Tisches reichen konnte, schob der Kartograph die Figuren mithilfe eines hölzernen Schiebers auf ihre richtige Position, an dem ein langer Holzstab zur Führung angebracht war. Schließlich war der Mann fertig mit der Aufstellung und alle Abteilungen standen dort, wohin man sie zuletzt abkommandiert hatte oder wo man glaubte, dass sie sich derzeit befanden, wie im Fall der triganischen Truppen.
Der König stand indes an einem Rednerpult, einige Schritt vor seinem Thron, sodass er sich in einer leicht erhöhten Position befand und sowohl die Karte als auch die Adeligen überblicken konnte. Arkil hob die Arme und sprach weihevoll: „Nun möge die Versammlung beginnen und die Götter unsere Geister öffnen, um nur den weisesten Beschluss zu fassen.“
Der Sekretarius, ein Mann mit kantigen Gesichtszügen und hohen Augenbrauen, der sich durch seine beinahe affektiert korrekte Körperhaltung auszeichnete, machte einen Stechschritt nach vorn und verlas das Ratsprotokoll: „Als erster spricht seine Erlaucht Graf Egrodt von Asyc, Fürst von Umbarien!“
Egrodt, der zusammen mit den anderen Ratsmitgliedern am Kartentisch stand, warf Dirion einen bedeutungsvollen Blick zu, dann wandte er sich zum König. „Mein König, es ist an der Zeit, dass wir grundlegende Veränderungen vornehmen, wenn uns unser Leben lieb ist! Wir brauchen Unterstützung, denn aus eigenen Mitteln können wir Triga kaum zurückschlagen, das dürfte wohl allen Anwesenden hier mehr als deutlich geworden sein, als wir in der vorletzten Nacht im Herzen des Reiches selbst getroffen wurden. In Eurer Weisheit bitte ich Euch deswegen darum, edler König, dass wir die Könige der Alten Reiche um Hilfe ersuchen.“
Ein aufgebrachtes Raunen ging durch den Saal und Dirion musterte das Mienenspiel der Aristokraten, welche - wie zu erwarten - die Idee des Grafen für absolut abwegig hielten.
Egrodt wartete einen Augenblick ab, bis sich die Unruhe etwas gelegt hatte, dann fuhr er fort: „Die Alten Könige werden sich natürlich nicht bedingungslos darauf einlassen, ihre Völker an unsere Seite zu stellen. Deswegen…“, Egrodt sah bedeutungsvoll in die Runde der Gesichter, um den folgenden Worten besonderen Nachdruck zu verleihen, „werden wir einen neuen Rat schaffen müssen, an dem Vertreter aller Völker partizipieren können, ganz gleich, welchen Reichtum sie aufbringen!“
Jetzt konnten sich die Fürsten nicht mehr zurück halten und ein tosendes Stimmengewirr brandete auf. Auf einen Schlag meinte Dirion, sich auf einem südländischen Basar wiederzufinden. Die Ratsmitglieder schimpften und brüllten durcheinander, jeder gestikulierte wild vor dem nächsten und viele Finger richteten sich anklagend auf Egrodt.
„Ruuuhe!“, rief der Sekretarius und schlug eine kleine Glocke an, welche an einem Haken seitlich des Rednerpultes hing. „Ruhe, meine hochverehrten Herrschaften!“ Als sich die Wogen allmählich wieder geglättet hatten, war es der Graf Gwydion, welcher als Erster sprach. Der greisenhafte Fürst von Ostersundt stützte sich auf seinen hölzernen Gehstock, dessen Handknauf ein Adlerkopf zierte, und sah dem Grafen von Asyc mit durchdringendem Blick in die Augen. „Ihr wollt eine Ordnung zerstören, die wir mühselig errichten mussten“, sprach der alte Mann mit schwacher, aber zorniger Stimme, „doch was wollt Ihr tun, wenn Ihr den Sturm der wilden Völker erst entfacht habt?“ „Es sind Tiere!“, mischte sich Alvin von der Weiden zornig ein, „sie dürfen nie wieder die Geschicke des Reiches lenken!“
Dirion sah seinen Bruder an, denn dieser schien abwesend ins Leere zu blicken, auch wenn seine Augen auf den Kartentisch fixiert waren.
In Aldrĭn arbeitete es, denn er war erstaunt darüber, dass die Alten Völker plötzlich so eine große Rolle in seinem Leben spielten. Jahrelang hatte er keinen Elben gesehen und mit einem Mal wurde er mit einem Zwergenkönig bekannt gemacht und am Folgetag sollten die Alten Reiche schon in den Rat gerufen werden. Was würde sein Vater dazu sagen? Er schien doch in Wahrheit viel mehr mit einer möglichen Rückkehr der Elben zu sympathisieren, als er nach außen hin zu erkennen gab, wenn er so regen Kontakt zu König Gnorrin hegte.
Doch der König verfolgte den Disput weiterhin wortlos und wartete ab, wie sich das Streitgespräch entwickelte.
„Arkil“, wandte sich Gwydion an den König, „sprecht ein Machtwort gegen diese zersetzenden Gedanken! Wir haben ein Reich geschaffen, welches noch nie so geeint gewesen ist.“
„Und noch nie so kurz vor seiner Vernichtung stand!“, wetterte Egrodt abwertend. Die kraftvolle Stimme des Grafen ließ ihn gegenüber dem alten Gwydion außerordentlich mächtig erscheinen, auch wenn dieser in jungen Jahren ein treuer Gefährte des Königs gewesen war. „Urteilt so weise wie immer, mein König, ich bitte Euch!“, beendete Egrodt sein Plädoyer ehrerbietend.
Überprüfte man diese Sentenz auf ihren Inhalt war sie natürlich unsinnig, dachte Dirion. Schließlich würde Arkil durch Egrodts Bitte nicht weiser urteilen als ohne. Doch es war typisch für den Grafen von Asyc, dass er die Menschen, mit denen er verhandelte, bei ihrer Eitelkeit zu packen versuchte.
Aber die Gemüter der Ratsmitglieder hatten sich noch nicht beruhigt über diesen revolutionären Vorschlag, welcher ihre eigene Machtstellung erheblich gefährden könnte. So wurde der Sekretarius daran gehindert, den nächsten Redner aufzurufen, indem Herzog Aodhan von Greifenfels Egrodt anfuhr: „Niemals wird einer der königlichen Souveränen diesen ruchlosen Plan unterstützen, geschweige denn ihn absegnen!“
Er sprach damit aus, was die meisten der Adeligen in diesem Moment über Egrodts Vorhaben dachten. Egrodt zeigte sich jedoch gänzlich unbeeindruckt von dem Angriff, legte die Hände wie zum Gebet zusammen und antwortete dann in bedeutungsvollem Tonfall: „Einen gibt es.“
Er sah zu Dirion hinüber und ohne seinen Namen genannt zu haben, richteten alle Ratsmitglieder ihre volle Aufmerksamkeit auf den Prinzen. Dirion fühlte sich in Bedrängnis, doch wusste er darum, dass er Egrodt versprochen hatte, in diesem Augenblick zu ihm zu stehen. Auch wenn die Stimmung im Saal deutlich gegen ihn gerichtet war.
„Es stimmt“, sagte Dirion in die Runde, „ich sehe in einem Pakt mit den Alten Reichen dieselbe heilsbringenden Chancen, wie der Graf von Asyc es tut!“
Die Aristokraten, allen voran der irrende Herzog Aodhan, sahen Dirion mit fassungsloser Miene an. Die beiden Prinzen hatten zwar kein direktes Mitbestimmungsrecht, allerdings beeinflussten sie die Entscheidung des Königs wie niemand sonst im Saal. Wenn man die Stimme von Aldrĭn oder Dirion auf seiner Seite wusste, kam es mit verblüffender Häufigkeit dazu, dass auch der König einem früher oder später Recht gab.
Dirion sah zu seinem Vater hinauf, doch dieser verzog selbst in dieser ungewöhnlichen Angelegenheit kaum seine Miene, sondern wartete weiter bedächtig ab, bis der Sekretarius den nächsten Punkt der Ordnung verlas. Die Entscheidung des Königs wurde üblicherweise erst am Abend, manchmal auch erst am Tag nach der Ratsversammlung verkündet.
„Es spricht nun“, deklarierte der Schreiber, „der oberste Befehlshaber des Reiterheeres, Marschall Eristrian zu Beothin.“
Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen man Eristrians vollen Namen zu hören bekam. Der Marschall gab nicht viel auf seinen Titel, zumal er zwar aus einer Adelsfamilie stammte, dem Rat jedoch nur wegen seines militärischen Ranges beiwohnte, genau wie der erste General der Fußsoldaten und der oberste Flottenadmiral. Um sich gebührend abzuheben von den Waffenknechten, wie sie von den Aristokraten abschätzig genannt wurden, war es im Adel überdies zur Gewohnheit geworden, Marschall Eristrian, General Kastyrbal und Admiral Iovin bloß bei ihren Vornamen zu nennen.
„Ich danke Euch“, begann Eristrian. Er nahm den Schieber, welcher auf dem Tisch lag, und begann, einige Figuren auf der Karte zu verschieben. „Wie Ihr seht, laufen alle Stellungen der Triganer in den letzten Monaten auf einen Punkt zu. Deswegen bin ich mir sicher…“, er schob einen ganzen Haufen roter Figuren zusammen, „dass sie sich hier an der Warge wieder zusammentun werden, um den Fluss zu überqueren und Windugises von Süden her zu überrennen.“
Was der Marschall ausführte, sah zuerst nach willkürlicher Spekulation aus, doch dann erkannte Dirion, dass er Recht hatte.
Die Triganer waren seit Jahresbeginn zunehmend in den südlichen Landen gesichtet worden und hatten die Höfe und Dörfer in Sydgondia und Redencia scheinbar planlos überfallen, geplündert und verwüstet zurückgelassen. Doch statt weiter nach Westen vorzudringen oder eine der größeren Burgen anzugreifen, verteilten sie sich über das gesamte südliche Reich, blieben dabei aber immer möglichst im Verborgenen und versteckten sich in den Wäldern. Glaubte man Eristrians Ausführungen, so war dies alles jedoch nur ein Bündeln ihrer Kräfte gewesen, um nun die Warge gen Norden zu überqueren. Den Fluss, welcher die südliche Grenze der Grafschaft Windugises markierte und häufig als natürliche Grenze zwischen Norden und Süden des Königreiches bezeichnet wurde.
„Wir haben große Bollwerke im Westen errichtet, weil wir erwartet hatten, dass die Triganer um die Warge herumziehen und über Goldbergen angreifen würden, doch nun ergibt sich eine völlig andere Situation. Ihre Truppenbewegung deutet daraufhin, dass sie in wenigen Tagen über Windugises herfallen, dann Ostersundt und Montimaxia überrennen und schließlich vor den Toren von Albenbrück stehen. Und das nicht mal mehr in einem Monat, wenn wir ihnen nicht eine schlagkräftige Armee entgegenwerfen!“
Die Worte des Marschalls hatten ihre Wirkung voll entfaltet und besonders die Edelleute des Nordens, welche sich und ihre Länder bis eben noch in Sicherheit gewägt hatten, starrten wie gelähmt auf den Haufen roter Figuren, der sich am südlichen Flussufer aufgetürmt hatte und vor dem nunmehr jene Grafschaften lagen, die nur zur Meeresküste hin ausreichend vor Angriffen geschützt waren.
„Ich schlage deswegen vor“, fuhr Eristrian fort, „dass wir alle verfügbaren Männer aus den nördlichen Landen zusammenziehen und die Triganer noch am Ufer der Warge zurückschlagen, denn eine günstigere Position zur Verteidigung werden wir weiter nördlich nicht finden.“
Einige Ratsmitglieder nickten zustimmend und Eristrain wartete eine Reaktion des Königs ab, welcher in militärischen Fragen wie dieser des Öfteren auch sofort seine Meinung kundtat. Tatsächlich machte Arkil einen nachdenklichen Eindruck und fragte den Marschall schließlich: „Und wer könnte Eurer Meinung nach die Führung dieser Unternehmung tragen?“
Es war ein obligatorisches und ungeschriebenes Gesetz, dass immer auch ein Mitglied des Rates oder der königlichen Familie selbst an Feldzügen teilnahm, da die militärischen Anführer keine Weisungsbefugnis hatten, sobald sich die Lage entgegen der königlichen Schlachtpläne änderte. Und bei den meisten großen Schlachten der letzten Jahre war es Dirion gewesen, welcher die Männer zusammen mit Eristrian in den Kampf führte.
Als Eristrian noch einmal prüfend in die Runde sah, um zu verkünden, wen er für den Feldzug empfehlen würde, wusste Dirion jedoch, dass es diesmal Aldrĭn sein würde, der die Soldaten anführte. Schließlich hatte er sich bei dem Überfall auf die Stadt als fähiger Kommandant bewiesen und jeder im Saal wusste zudem, dass Dirion in den nächsten Wochen keinen Fuß in ein Feldlager setzen würde, sondern sich fernab vom Krieg vermählte.
„Verehrter Rat, mein König, ich empfehle mit bestem Gewissen, dass Prinz Dirion unsere Truppen führen soll!“ „Und so sei es“, segnete der König den Vorschlag ab, als sei ihr Dialog eingeübt.
Dirion fiel aus allen Wolken. „Das kann doch nicht Euer beider Ernst sein!“, entrüstete Dirion sich und hatte in diesem Moment das Gefühl, ein anderer spräche durch seinen Mund, denn normalerweise hätte er sich solch einen respektlosen Ausfall gegenüber dem Marschall und seinem Vater nie erlaubt.
„Ja“, fiel da auch Egrodt von Asyc ein, welcher offenbar seinen Verbündeten zu verlieren fürchtete, „warum wählt Ihr nicht einen der anderen Fürsten aus, um Euch zu begleiten? Der Prinz heiratet, das wird er wohl kaum im Feld tun wollen!“
Eristrian ballte die Fäuste: „Wollt Ihr an seiner statt das Kommando übernehmen, Graf?“ Das ließ Egrodt verstummen. Noch vernichtender für seine Pläne wäre es schließlich, wenn er für Monate an das Schlachtfeld gebunden wäre. „Wenn ich einmal ganz offen sprechen darf“, begann Eristrian angespannt, während er den übrigen Adeligen vernichtende Blicke zuwarf, „dann muss es der Prinz sein, weil ich hier niemanden sonst sehe, der genügend Schneid und Erfahrung für eine so bedeutende Aufgabe hätte!“
Dies war ein offener Affront gegenüber allen Aristokraten, wie ihn sich Eristrian noch nie geleistet hatte, auch wenn er bekannt dafür war, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Um die angeheizte Atmosphäre zu durchbrechen, mischte sich der König selbst wieder ein: „Es ist zwar keine Frage des Schneids, doch gebe ich dem Marschall vollkommen Recht damit, dass Dirion wohl der derzeit Erfahrenste unter uns ist, was die Führung unserer Streitmacht angeht. Und aus diesem Grund wünsche ich es genauso, wie Eristrian es empfiehlt.“
Damit war die Sache beschlossen und keiner der Ratsherren wagte mehr, zu widersprechen.
Nur Dirion bebte vor Zorn. Wie konnten der Marschall und sein Vater ihn nur derart verhöhnen und ihn vor seiner Heirat in die vielleicht größte Schlacht des Krieges entsenden? Doch er schluckte seinen Zorn herunter. Vor dem versammelten Rat hatte es keinen Zweck, zu rebellieren, denn der Entschluss des Königs war ausgesprochen und damit unantastbar.
Es folgten nun einige weitere Redner, unter anderem der Herzog von der Weiden, welcher seinen Antrag auf eine Änderung der Kornsteuern vortrug und viele andere, doch Dirion hörte ihnen nicht mehr zu, sondern starrte nur stumm auf die Karte.
Dort standen die Triganer südlich der Warge, die ihn an seiner Hochzeit hindern sollten. Selbst wenn er Kyjera noch heute heiratete, was so formlos und überstürzt ohnehin nicht seine Absicht war, dann war es doch nicht unwahrscheinlich, dass sie die Stellung nicht halten konnten und er starb, bevor er sein erstes Kind kennenlernen durfte.
Am liebsten hätte er die roten Figuren stellvertretend vom Tisch gefegt und den Krieg für beendet erklärt. Wie würde Kyjera reagieren, wenn sie von dem Ratsbeschluss erführe? Endlich schloss der König die Zusammenkunft und Dirion erwachte wie aus einem Traum, als die Aristokraten den Raum verließen. Er versuchte, ihren Blicken auszuweichen, doch vor den Türen des Thronsaales fing Eristrian ihn ab.
Der Marschall legte seine Hand auf Dirions Schulter und sprach in einem beruhigenden Tonfall: „Es tut mir leid, dass ich es getan habe. Obwohl es jetzt so ein denkbar schlechter Zeitpunkt ist! Ich hoffe, dass du mir einmal verzeihen kannst.“ Dirion sah ihn eine Weile an. Dieser Mann war einer seiner besten Freunde. Doch soeben hatte er seine Träume platzen lassen, wie es dem Apukunen nicht besser hätte gelingen können. Und vorhin hatten sie noch über Dirions Zukunft gescherzt!
„Dirion, ich würde es nicht tun, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du der Einzige bist, dem ich vertrauen kann“, versicherte Eristrian. Der Marschall sah ihn noch einen Augenblick an, dann klopfte er ihm kameradschaftlich auf die Schulter und wandte sich ab, um mit den anderen Ratsmitgliedern in den Festsaal zum Nachtmahl zu gehen.
Dirion sah ihm grimmig hinterher. Er würde ihm sicherlich nicht einfach vergeben, was er getan hatte. Doch es war gut, dass Eristrian unverzüglich zu ihm gekommen war und sich entschuldigt hatte. So war der Groll ihm gegenüber schon ein wenig kleiner geworden als jener, den er noch im Thronsaal empfunden hatte.
Von seinem Vater hingegen war er umso enttäuschter. Er sollte also weiterhin in Blut und Dreck versinken, während Aldrĭn von Arkil dazu auserkoren worden war, den Apukunen zu stellen und damit zum Retter des Reiches aufzusteigen. Warum musste dann überhaupt noch ein einziger guter Krieger der königlichen Armeen sterben, wenn es doch scheinbar so einfach war, den Anführer der Triganer aus dem Weg zu räumen?
Ohne auch nur einen Gruß der Edelleute und der Dienerschaft zu erwidern, welche seinen Weg kreuzten, eilte Dirion durch den Bogengang, lief die Wendeltreppe hinauf und ging zu Kyjeras Schlafgemächern. Er klopfte an ihre Tür, doch wie an diesem Morgen schon öffnete ihm zunächst niemand. Schließlich trat ihm eine der Zofen seiner Verlobten entgegen und berichtete ihm, dass ihre Herrin bereits zum abendlichen Bankett gerufen worden war und sich wohl schon im Festsaal befand. Dirion seufzte und wollte sich gerade aufmachen, um zurückzueilen, als Kyjera ihm direkt gegenüber stand und ihn mit großen fragenden Augen ansah. Dirion spürte sofort, dass sie es längst wusste.
„Warum du?“, fragte Kyjera leise und statt ihre Frage zu beantworten, wollte Dirion sie in seine Arme schließen. Doch sie wich zurück und wiederholte ihre Frage, diesmal in energischerem Tonfall: „Warum denn du? Sie hätten Aldrĭn schicken können! Er musste noch nie…“
Sie suchte verzweifelt nach Worten, doch war sie so aufgebracht, dass ihr nichts Sinnvolles über die Lippen kam und sie sich schließlich mit verschränkten Armen gen Fenster wandte, damit Dirion die Tränen nicht sehen konnte, welche mit einem Mal in ihren Augen standen. Dirion stellte sich in gebührendem Abstand neben sie und sah ebenfalls aus dem Fenster, durch das ihnen die Strahlen der Abendsonne über die Dächer des Westtraktes entgegen schienen.
Ihm ging der Anfang eines Gedichtes durch den Sinn, das von einem jungen Paar handelte, getrennt durch die Wirren des Krieges:
Irmalin und Ilmeroth/ In Stein stand ihre Liebe/
Den Jüngling zog der Krieg hinfort/ Irmalin litt bitter Not
Die nächsten Verse waren ihm entfallen, doch erinnerte er sich an den Fortlauf der Geschichte. Irmalin verzehrt sich vor Trauer um den Geliebten derart, dass sie endlich von ihrem Leid erlöst wird, indem die Götter sie in Stein verwandeln. Als der Jüngling aus dem Krieg heimkehrt, muss er feststellen, dass er wiederum von seiner Angebeteten getrennt ist. Als hätte der Poet um ihr Schicksal gewusst, passten die Zeilen erschreckend gut auf die Lage des Prinzen und seiner Verlobten.
„Ich werde mitkommen“, sagte Kyjera urplötzlich und ihre Worte klangen so unbeirrbar, dass Dirion es nicht wagte, ihr zu widersprechen. In ihm stieg ein aufwühlendes Gefühl auf, das er nicht mit Sicherheit als Freude oder Unbehagen ausmachen konnte. Denn einerseits wusste er, dass er sie schmerzlich vermissen würde in der langen Zeit ihrer Trennung, doch andererseits war die Warge der gefährlichste Ort, an den er sie nur bringen konnte.
„Bist du sicher?“, fragte Dirion schließlich. Er wusste, dass ihr mit Vernunft in diesem Moment ohnehin nicht beizukommen war.
„Ganz sicher.“
Jetzt wandte sie sich ihm wieder zu und Heiterkeit kehrte in ihre Augen zurück. „Ich habe mit meiner Schwester gesprochen und sie wird mir eine Leibgarde zur Verfügung stellen, die groß genug ist, damit ich auf mich selbst aufpassen kann“, erklärte sie frei heraus.
So eine Leibgarde gibt es auf der Welt nicht, dachte Dirion, doch dann schmiegte sie sich an ihn, er legte die Arme um sie und küsste ihr Haupt. „Ich verspreche dir etwas“, murmelte er leise. Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf und er erwiderte den Blick aufmunternd: „Nach dem Winter, wenn das Birkenbrennen stattfindet, sind wir vermählt.“