Читать книгу Ariowist und Birkenfeuer - Lennart Pletsch - Страница 17
1. Der Aufbruch
ОглавлениеEs gingen drei Tage ins Land, in denen alle ihre Kräfte für die Reise sammelten. Juliana und Ekiredis waren im Schloss geblieben, hatten ihrem Vater jedoch mitgeteilt, es ständen Feierlichkeiten an, welche sie nicht verpassen wollten. Da Baldur von Klyenna sich nichts aus derlei Vergnügungen machte, war er mit den anderen Ratsmitgliedern abgereist.
Arkil hatte unterdessen die Absicht der beiden Gefährten seines Sohnes abgesegnet, ihn zu begleiten und so quartierten sie sich vorrübergehend in den Gästesälen des Schlosses ein. Aldrĭn hatte erwartet, von seinem Vater für sein loses Mundwerk gerügt zu werden. Doch ganz im Gegenteil, der König schien geradezu erleichtert darüber, dass sein Sohn nun in der denkbar besten Begleitung reisen würde.
Egrodt von Asycs Antrag zur Änderungen der Ratsverfassung wurde am Morgen nach der Versammlung abgewiesen und Egrodt schäumte vor Wut, wollte sich allerdings nicht die Blöße geben, so sang und klanglos abgewiegelt worden zu sein. So zog er sich in die Stadt zurück, wo er unter den Kaufleuten einige Sympathisanten hatte.
Dirion bereitete sich seinerseits auf die Abreise vor, indem er zusammen mit Eristrian, dem General der Fußarmee und einigen Rittern, die sie begleiteten, die günstigste Route zur Warge auslotete.
Kyjera schließlich machte sich damit vertraut, welche Herausforderungen im Feld auf sie zukommen würden und traf die nötigen Vorbereitungen, um für den Rest des Trosses kein Klotz am Bein zu sein, sondern sich womöglich sogar durch ihre eigene kleine Truppe vor den Männern in deren Domäne zu profilieren. Sie fand es lästig, dass die Ritter, welche erfahren hatten, dass sie mitkommen würde, ihr mit Verachtung begegneten, weil sie keine Frau in der Schlacht duldeten.
Dabei war es nicht das erste Mal, dass Frauen den Tross begleiteten. Abgesehen von den Dirnen, die überall in Scharen auftauchten, wo ein Heer sich niederließ, aber im eigentlichen Sinne nicht als vollmündige Frauen galten, war es keine Seltenheit, dass ein Ritter für einige Tage von seiner edlen Dame besucht wurde, die dann ihren eigenen gut geschützten Platz in der Feldstadt bekam und nach kurzer Zeit wieder abreiste.
Aber vielleicht waren es gerade diese Aspekte ihrer Anwesenheit, welche die Ritter ihr gegenüber nun so herablassend werden ließen. Sie würde erstens nicht nach wenigen Tagen wieder abreisen, sondern den Tross begleiten, bis er wieder nach Albenbrück zurückkehrte. Und zweitens machte sie vor den Rittern deutlich, dass ihr selbst eine Garde aus achtundzwanzig schlachterprobten Männern unterstand, nämlich die Leibwächter, welche ihre Schwester kurzerhand an sie abgetreten hatte. Diese beiden Dinge waren neu für die traditionsbewussten Ritter, die Veränderungen im Allgemeinen wenig wertschätzten, aber noch kritischer waren, wenn diese Veränderung eine weibliche Handschrift besaß.
***
Dirion war weit über die Karte des Reiches gebeugt, die nun nicht mehr im Thronsaal ausgerollt war, sondern in einem der kleineren Ratssäle. In diesem befanden sich außerdem mehrere hohe Regale aus dunklem Holz, die mit Schriftrollen vollgestopft waren, und niemand hatte wirklich einen Überblick darüber, wo welche Schrift zu finden sei, außer dem königlichen Kartographen. Der hatte auch jetzt in einer Ecke des Raumes Aufstellung genommen, um Dirion auf Nachfrage eine andere Karte zu reichen. In Wirklichkeit war der Mann jedoch pedantisch darauf bedacht, dass niemand seine Ordnung durcheinanderbrachte und musterte jeden argwöhnisch, der seine heiligen Karten mit weniger Sorgfalt behandelte, als er es erwartete. Neben Dirion stand noch Eristrian im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt und sah dem Prinzen dabei zu, wie dieser, halb auf dem Tisch liegend, mit einem goldenen Zirkel eine Entfernung auf der Karte abschätzte.
Dirion wies auf eine Stelle, die auf der Karte nur wenige Handbreit nördlich der Warge lag, und sah zum Marschall auf: „Hier wäre es egal, ob wir die Hügel umgehen oder nicht, es müsste aufs Gleiche hinauslaufen.“
Eristrian nickte und antwortete: „Vermutlich schon. Ich war im Winter auf der Burg Sidéthan und vom Bergfried aus sah die Hügellandschaft einigermaßen begehbar aus.“ „Das ist gut, denn wir müssen die Karren bedenken“, sagte Dirion, während er sich von der Karte erhob, den Zirkel beiseitelegte und zusammen mit Eristrian den Raum verließ, in dem sie in den letzten Tagen etliche Stunden zugebracht hatten.
„Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht weiß, wie viele Palisadenstücke wir mit uns schleppen sollen und wie viele wir dort aus den Bäumen gewinnen können“, hakte Eristrian ein, als sie den Innenhof betraten, um zur anderen Seite des Schlosses zu gelangen.
Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und schickte noch erstaunlich warme Strahlen auf die Erde an diesem Spätsommertag. „Ich würde es auf jeden Fall mit einem ausgewogenen Verhältnis versuchen“, schlug Dirion vor, „sonst brauchen wir vor Ort wesentlich länger, bis wir eine ausreichend starke Stellung am Ufer errichtet haben.“
Sie betraten den Ostflügel und gingen weiter in Richtung der Speisekammern, da sie beide keine Lust hatten, bis zur nächsten offiziellen Mahlzeit am Nachmittag zu warten. Eine schmale Treppe führte zur Küche, die sich direkt unter dem Festsaal befand, und gerade wollten die Männer hinuntergehen, als jemand Dirion aus Richtung des Osteingangs rief.
Der Prinz drehte sich um und sah, dass Egrodt von Asyc aus dem Garten hereingekommen war. Der Graf trug einen langen braunen Kutschermantel und hatte sich seit der Ratsversammlung offenbar nicht rasiert, denn sein Bart war sichtbar länger geworden. Dirion traute ihm zu, dass er seit Ablehnung seines Antrags in irgendeiner Kammer gesessen und darüber gegrübelt hatte, wie er seinen Plan doch noch in die Tat umsetzen könnte. Der Prinz hingegen hatte sich im Geiste schon gar nicht mehr damit beschäftigt, wozu er kurz zuvor noch seine Zustimmung gegeben hatte.
Doch jetzt fiel ihm sein Versprechen auf einen Schlag wieder ein. Er wies Eristrian an, schon einmal vorzugehen und ihm nötigenfalls etwas aus der Speisekammer mitzubringen, während er selbst sich Egrodt zuwandte.
„Wie ist es Euch ergangen, Dirion?“, fragte der Graf ihn gutgelaunt. „Es geht voran“, gab Dirion knapp zurück. „Ich hätte gern mehr für Euch getan“, versicherte ihm von Asyc. „Es lag ja nicht in Eurer Entscheidungsgewalt“, beschwichtigte Dirion ihn, dann stellte er die Frage zurück: „Und Ihr? Habt Ihr in der Stadt neue Pläne geschmiedet?“
Er erwartete nicht ernsthaft, dass Egrodt eine Lösung gefunden hatte, die so vielversprechend war, dass er noch einmal damit vor den Rat trat. Doch dieser antwortete prompt: „In der Tat! Ich werde es selbst in die Hand nehmen. Das heißt, ich werde mich persönlich an die Alten Könige wenden.“
Kaum eine Minute mit diesem Mann hatte ihn schon wieder in ein Gespräch verwickelt, das sich am Rande des Verrats bewegte, dachte Dirion. Und er überlegte, wie er Egrodt vorsichtig darauf aufmerksam machen konnte, dass er inzwischen ein ungutes Gefühl bei der Sache hatte.
„Ihr meint entgegen dem Ratsbeschluss?“ „Wie Ihr es sehen wollt“, antwortete Egrodt gelassen, „vielleicht auch ohne Mitwissen des Rates. Was sie nicht wissen, können sie nicht untersagen.“
Das stimmte natürlich, doch was wollte Egrodt tun, wenn er es tatsächlich schaffen sollte, die Elbenkönige davon zu überzeugen, ihm ihre Hilfe zu versichern? Würde er dann mit seiner neuen Armee einfach auf Albenbrück zumarschieren, an die Tür klopfen und freundlich die Plätze im Rat geltend machen, die er den Alten Königen versprochen hatte? Dirion schwante nichts Gutes, doch er wartete ab, was der Graf noch zu berichten hatte.
„Ich hörte, dass Ihr Eure Verlobte jetzt mit an die Warge nehmt? Für mich klingt das nach einem Himmelfahrtskommando.“ Diese Worte trafen Dirion wie ein Dolch in der Brust, denn Egrodt hatte gerade den bedrückenden Gedanken ausgesprochen, welcher ihn selbst seit Tagen pausenlos beschäftigte.
„Was würdet Ihr denn tun?“, fragte Dirion geradeheraus. „Ich wollte Eure Entscheidung nicht in Frage stellen“, versicherte Egrodt ihm, „ich täte es genauso. Doch wisst Ihr ebenso gut wie ich, dass Ihr die Stellung nur über einen gewissen Zeitraum halten könnt, nicht jedoch die Triganer zurückschlagen werdet.“
Egrodt sah Dirion mit einem besorgten Blick an, welcher ihm auszuweichen versuchte, denn der Graf sprach auf einen Schlag alles aus, was er versucht hatte, zu verdrängen.
„Wie Ihr seht, ist unser Vorhaben dringlicher denn je“, gab Egrodt zu verstehen. Auf einmal verstand Dirion, dass es womöglich der Graf war, welcher die Lösung all seiner Sorgen in der Hand hielt. „Glaubt Ihr, dass Ihr die Alten Könige so schnell aufsuchen könntet, dass ihre Armeen uns an der Warge zu Hilfe eilen?“, fragte Dirion. „Es wäre möglich“, begann Egrodt grübelnd zu erklären, „jedoch nur, wenn Ihr mir noch einmal zur Seite steht.“
Dirion zögerte mit seiner Antwort, weil er kaum eine Möglichkeit sah, seinen Vater oder auch nur eine Handvoll der Ratsherren in dieser Sache umstimmen zu können. Doch Egrodt wollte auf etwas anderes hinaus: „Ihr müsstet mir zwölf Vollmachten erteilen, um mit den Elbenkönigen zu verhandeln. Zwölf Mal werdet Ihr im Namen des Königshauses und mit dem Reichssiegel bestätigen, dass die Alten Reiche unsere Hand zur Freundschaft entgegengestreckt bekommen.“
Das war nun wirklich Verrat! Denn die Vollmachten würden logischerweise ohne Mitwissen des Königs ausgestellt werden. Dirion sträubte sich innerlich dagegen, doch war ihm bewusst, dass es die einzige aussichtsreiche Möglichkeit war, seinen Feldzug rasch zu bewältigen. Und unter Umständen der einzige Weg, lebend zurückzukehren. Denn der Graf hatte Recht, das wurde Dirion mit jedem Moment deutlicher: die Warge am Nordufer zu besetzen, war nichts weiter als der Versuch, die Triganer für ein paar Wochen aufzuhalten, bevor sie Albenbrück erreichten.
„Ich werde dafür sorgen, dass Ihr die Urkunden bekommt“, beschloss der Prinz endlich. Egrodt nickte bedeutungsvoll, dann sah er Dirion wertschätzend in die Augen: „Ihr wäret ein weiser König.“ Mit diesen Worten, welche Dirion noch lange im Gedächtnis blieben, wandte sich der Graf ab, um wieder zurück durch das Osttor zu verschwinden.
Eben kam Eristrian zurück aus der Speisekammer, eine Flasche Wein in der einen Hand, in der anderen eine große Keule Fleisch und unter dem Arm einen Laib Brot geklemmt. „Wir werden die nächsten Stunden nicht hungern müssen“, verkündete er mit zufriedener Miene schon von der Treppe aus.
Doch Dirion verspürte mit einem Mal keinen Hunger mehr. „Entschuldigt mich!“, sprach er und ging in Richtung des Thronsaals davon, ohne weiter Notiz von Eristrian zu nehmen. Sein Weg führte ihn zum König.
***
„Ich verstehe, dass du Befürchtungen hast, zu verzagen. Aber das Wichtigste wird sein, dass du Vertrauen hast“, wies Arkil seinen Sohn an.
Aldrĭn ging im Thronsaal nervös auf und ab, während sein Vater, wieder in seiner einfachen Gewandung, auf dem Thron saß und seinen unsteten Weg beobachtete. Morgen in der Frühe sollte das Schiff in See stechen, welches Aldrĭn, Juliana, Ekiredis und sonst nur eine kleine Gruppe von erfahrenen Seeleuten hinüber nach Triga brachte.
Aldrĭn blieb einen Moment lang stehen, um Arkil zu antworten: „Was mich wirklich beschäftigt, ist die Frage, warum ich es sein soll. Es gab doch zur Genüge Könige vor mir, die den Apukunen hätten schlagen können. Er ist ja nicht erst seit gestern eine Bedrohung für uns.“
„Und es haben Könige versucht“, entgegnete Arkil, „erinnerst du dich nicht an die Geschichte, welche du in der Höhle gesehen hast? Ich selbst habe es getan, vor nunmehr dreißig Jahren. Aber…“, sein Blick wirkte auf einmal abwesend, als würde er in die Ferne schweifen, „ich habe auf ganzer Linie versagt.“
„Ihr seid ein großer Krieger gewesen und seid es noch!“, beteuerte Aldrĭn.
„Aber nicht derjenige, welcher die Gunst der Götter auf seiner Seite hatte, Aldrĭn“, erklärte der König, „du hingegen hast das Schwert aus dem Berg befreit, an den es drei Jahrzehnte gebannt war.“ Aldrĭn setzte sich schließlich auf die Stufen vor dem Thron und stütze seinen Kopf mit dem Arm auf seinem Knie ab. „Und dafür, dass es die ganze Zeit dort unten gelegen hat“, fügte Arkil schnippisch hinzu, „hat es sich ziemlich gut gehalten, findest du nicht? Eine verlässlichere Waffe wirst du im ganzen Reich nicht finden.“
Plötzlich wurden die Türflügel aufgeschlagen und Dirion betrat den Saal. Aldrĭn kannte den Gesichtsausdruck seines Bruders nur zu gut, mit dem er ihn und Arkil schon von weitem ansah. Dirion schien äußerst wichtige Neuigkeiten erfahren zu haben.
Der Prinz blieb vor den Stufen stehen und verbeugte sich kurz, wie es das Protokoll vorsah. Dann begann er zu sprechen, jedoch in einem ruhigeren Ton, als seine stürmische Ankunft es hatte erwarten lassen: „Vater, ich möchte mit Euch über das Anliegen des Grafen von Asyc sprechen!“ „Du hast es befürwortet“, bemerkte Arkil, allerdings ohne Wertung in seiner Stimme. „Das finde ich gut, denn sonst sind es viel zu oft die beiden Fronten. Die Krone gegen die Ratsmitglieder.“
„Ich habe es nach reiflicher Überlegung unterstützt“, erläuterte Dirion, „doch erfolglos. Haltet Ihr es für so unmöglich, was der Graf vorgeschlagen hat?“ Arkil ließ seine Hand durch den grauen Kinnbart fahren, dann antwortete er: „In meinem Herzen nicht, aber unter diesen Umständen schon.“
„Weswegen? Es ist eben eine völlig neue Perspektive auf unsere Möglichkeiten.“
„Das stimmt. Aber ich habe die Alten Reiche vor Jahren nicht ausgeschlossen, weil ich ihnen gegenüber feindlich gesonnen bin, sondern aus dem Grund, dass der Rat es forderte und das noch tut.“ Dirion hatte damit gerechnet, dass sein Vater letztlich auf die Adeligen zurückkommen würde. Etwas energischer erklärte er: „Mit Verlaub, ich glaube nicht, dass ich an der Warge ein Lager errichten kann, welches stark genug ist, um die Triganer zurückzuschlagen. Wir haben nicht mehr die Mittel, um das ganze Reich zu beschützen, es sei denn, wir würden uns für die Unterstützung entscheiden, welche von Asyc uns versprach.“
„Doch würde das bedeuten, dass die Fürsten ihren Einfluss verlören. Es würde bedeuten, dass die Alten Könige in den Rat zurückkehrten, dass Ihnen die Vorzüge der anderen Adeligen zuständen, also auch die Möglichkeit, uneingeschränkt Handel mit den Südlanden zu führen. Und schließlich würde es bedeuten, dass wir ihnen ihr Land zurückgeben müssten. Und nun nenne mir einen Fürsten, der sein Land mit einem Alten König teilt!“
Arkils Worte schienen wie in Stein gemeißelt und Dirion wusste nicht, was er noch entgegen sollte, obwohl es in ihm unaufhörlich arbeitete. „Deine Sorge verstehe ich, Dirion. Doch habe ich auch deinem Bruder soeben eine Lektion im Vertrauen erteilt. Vertraue auch du, denn es werden bald Dinge geschehen, welche das Blatt wenden. Nur müssen wir noch ein wenig Geduld haben.“
Er stieß beim König auf taube Ohren, schoss es Dirion durch den Kopf. Sein Vater hatte Recht, es würden Dinge geschehen, welche das Blatt wendeten, doch entsprachen sie sicher nicht Arkils Vorhaben. Aber er riss sich zusammen, verbeugte sich noch einmal und verabschiedete sich knapp: „Ich werde mich darum bemühen.“
Dann drehte er sich um und verließ den Thronsaal. Aldrĭn sah seinem Bruder besorgt hinterher. Selten hatte er ihn so in Bedrängnis gesehen. Aus ihm sprach die wachsende Furcht um sein Schicksal, dachte Aldrĭn.
Sollte er ihm offenbaren, was ihr Vater mit den Dingen meinte, die da kommen würden? Dass der Apukune, zumindest wenn alles so aufging wie erhofft, binnen zwei Wochen vernichtet wäre und Dirion dann endlich für lange Zeit heimkehren durfte?
Er sah zu seinem Vater hinauf, der Dirion mit ebenso besorgter Miene hinterher blickte. Der König war erfahren im Umgang mit Menschen, die von Leid geplagt waren, davon war Aldrĭn überzeugt. Wahrscheinlich war es besser so, dass Dirion nichts davon wusste, in welche Gefahr sich Aldrĭn begab und dass ihre vielleicht letzte Hoffnung in den Händen seines jüngeren Bruders lag. Sonst würde er sich auch darüber noch den Kopf zermartern, während er eine Armee zu befehligen hatte.
Also entschied Aldrĭn, zu schweigen. Das Ende des Krieges war ohnehin zum Greifen nah.
***
Dirion erwachte beim ersten Hahnenschrei. Kyjera hatte bei ihm geschlafen, doch trotz der Geborgenheit, die sie ihm gab, hatte er bis spät in die Nacht kein Auge zu tun können. Die Anspannung hatte sein Herz ganz und gar eingenommen, welche immer auf ihm lastete, wenn es wieder auf eine Schlacht zuging. Als es nachts geregnet hatte, glaubte er schon die Kälte zu spüren, welche durch das nasse Feldlager in alles aufstieg, was nicht in Reichweite eines wärmenden Feuers lag. Dazu die Schreie der Druden, die im Vollmond auf Beutesuche gegangen waren.
Sie hatten ihm schlagartig in Erinnerung gerufen, wie es sich anfühlte, wenn zwischen ihm und der rauen Natur nichts weiter war als der Stoff seines Zeltes. So hatte er nur wenige Stunden Schlaf gefunden, als er sich wieder erhob.
Kyjera war bereits aufgestanden und in ihre Gemächer hinübergegangen, um die letzten Gepäckstücke zusammenzusuchen, als er sich wusch, neue Kleider anlegte und dann die Treppen hinab zum Innenhof stieg.
Der Morgentau lag auf den Wiesen um das Schloss herum und selbst über dem Innenhof schwebte ein zarter Nebel, welcher die Wagen, die hier seit gestern bereit standen, in einen seidenen weißen Mantel hüllten. Dirion besah die Fuhrwerke, hob die Planen an, um zu sehen, welches Baumaterial, welche Waffen, welches Geschirr sich darunter befand.
Er hatte von der Verladung kaum etwas mitbekommen, denn nachdem er zusammen mit Eristrian die endgültige Marschroute beschlossen hatte, war er unbeobachtet in eine der Schreibkammern gegangen, hatte sich eingeschlossen und die Dokumente verfasst, welche er Egrodt versprochen hatte.
Als er von der Palastgarde Eintritt in die Schreibkammer des Königs gefordert hatte, ließen diese ihn zwar unverzüglich gewähren, doch überkamen ihn für einen Moment wieder Zweifel, ob es richtig sei, seinen Vater derart zu hintergehen. Aber dann erinnerte er sich der kühlen Abweisung, die er zuvor erfahren hatte und ließ das königliche Siegel in seinem Mantel verschwinden.
Als alle zwölf Dokumente so zu offiziellen Urkunden des Königs gemacht worden waren, brachte er das Siegel zurück und niemand hatte bemerkt, welche mächtigen Schriftrollen er später am Abend dem Grafen von Asyc übergab.
Jetzt, als er die Ausrüstung begutachtete, mit welcher der Tross heute aufbrechen würde, war er sich sicher, das Richtige getan zu haben. Es sollte weder ihn, noch seine Männer und schon gar nicht Kyjera das Leben kosten, dass der König sich derart willenlos von den Aristokraten lenken ließ.
***
Fanfaren ertönten, als zur dritten Stunde vor Mittag die ersten Gespanne ihre Fahrt aufnahmen. Es war eine großartig geschmückte Prachtstraße, durch welche die Fußsoldaten, die Kutschen und die Ritter aus dem Schloss quer durch die Stadt und dann heraus gen Süden zogen. Am Wegesrand standen Bürger, die Blumen auf den Boden vor die Soldaten warfen, Musiker spielten scheinbar überall in der Stadt ihre Instrumente, Gaukler waren herbeigezogen, um auf den Marktplätzen ihre Possen darzubieten und in den Tempeln läuteten die Glocken, um den ausziehenden Kriegern den Segen der Götter auf ihrem Weg angedeihen zu lassen.
Kyjera stieg im Innenhof gerade in ihre Kutsche, welche sich dem Tross im hinteren Viertel einreihen sollte, als Dirion herbeigelaufen kam und sie zurückhielt. Er nahm ihre Hand: „Wir werden uns in den nächsten Tagen kaum sehen. Ich werde meistens an der Spitze reiten.“ Sie nickte nur, nahm auch seine andere Hand und sie küssten sich. „Ich liebe dich“, waren ihre letzten Worte, dann stieg sie in die Kutsche und einer ihrer Gardisten schloss die Tür hinter ihr, woraufhin die Pferde sich in Bewegung setzten.
Arkil und Aldrĭn näherten sich dem Prinzen. Arkil legte seine Hand auf Dirions Schulter, dann sprach er mit stolzem Gesichtsausdruck: „Das Reich schaut auf dich, mein Sohn. Du wirst es ein letztes Mal erretten!“ Dirion lächelte, der Moment rührte ihn ehrlich an, denn selten hatte er mit seinem Vater in den letzten Wochen ein Wort außerhalb des Thronsaals gesprochen. Dann schloss Arkil ihn zum Abschied in seine Arme und Dirion genoss einen kurzen Augenblick, in dem er sich der ganzen Hochachtung seines Vaters sicher war, obwohl er die letzten Tage einen stillen Groll gegen ihn gehegt hatte.
Auch Aldrĭn umarmte seinen Bruder, der seinen Unterarm packte und mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Aufmunterung meinte: „Das Wichtigste ist, dass du integer bleibst und dir selbst treu. Du wirst gezwungen sein, Dinge zu tun, die du für falsch hältst.“
Verwirrt von diesem ungeforderten Ratschlag nickte Aldrĭn bloß. Als Dirion sich abwendete, um sich auf Vyliss zu schwingen, rief Aldrĭn ihm hinterher: „Pass auf dich auf!“ Dirion lächelte und nickte: „Du auch.“
Aldrĭn konnte natürlich nicht ahnen, dass Dirion genau wusste, in welche Gefahr er sich begeben würde, doch die Worte seines großen Bruders taten gut. Er hatte Dirion seit jeher als einen Beschützer in der allergrößten Not gesehen, selbst in dessen Abwesenheit.
Das Letzte, was er von seinem Bruder sah, war dessen Umhang, der zu beiden Seiten über Vyliss’ Flanken fiel, dann verschwand Dirion durch das hohe Schlosstor.
***
Der Kronprinz trabte auf seinem Schlachtross über die Zugbrücke an den letzten Fuhrwerken vorbei, dann gab er ihm den Befehl zum Galopp und er peste über die Wiesen hinab nach Albenbrück.
Dirion liebte die Geschwindigkeit und Wendigkeit, mit der er auf Vyliss unterwegs war. Unter den Hufen des Halmgarthers sausten die kniehohen Grashalme hinweg und ein leichter Wind, der über die Hügel ging, wehte Dirion entgegen, sodass sein Umhang wild zu flattern begann. Die Sonne stand hoch am Himmel und es waren kaum Wolken zu sehen, optimales Reisewetter, wie Dirion befand.
Als er durch das breite Tor in die Stadt hineinritt, spielten die Bläser die königliche Fanfare und das Volk bejubelte den Prinzen, der weiter an dem Tross vorbeistob. Schließlich erreichte er die Spitze des Zuges, die schon fast beim Südtor der Stadt angekommen war, von dem aus eine breite Landstraße hinaus in das Land Albenbrück und dann weiter nach Ostersundt führte.
Dirion kam auf Höhe einiger Fahnenträger zum Stehen, welche auf braunen Brabantern vorritten. Sie trugen lange Stangen, an denen ein geschwungener Drachenkopf auf großen, dreieckigen Tuchen flatterte - das königliche Wappen. Nach kurzer Zeit konnte der Prinz zwischen den Reitern Marschall Eristrian ausmachen, der in voller Rüstung auf seinem Schimmel zwischen den Fahnenträgern ritt. Der Marschall besaß eine speziell für ihn angefertigte Rüstung aus rostbraunen Panzerplatten, welche denen der traditionellen Krieger der Südlande ähnelte. Auf dem Rücken führte er seine schwere Kriegsarmbrust mit sich und am Sattel war der Helm des Marschalls befestigt, dessen Nackenbereich mit einem weiten Kettenkranz ausgestattet war. Dirion ritt möglichst nahe an Eristrian heran, um den weiteren Weg neben ihm an der Spitze zu bleiben.
„Ein schöner Tag für einen Ausflug, nicht wahr?“, fragte Eristrian, der sich überaus wohl fühlte, die beengenden Mauern des Schlosses verlassen zu haben und bald wieder auf freiem Feld unterwegs zu sein. „Es könnte kaum besser sein“, bestätigte Dirion, „hoffen wir, dass es so bleibt. Wenn es regnet, versinken die Wagen nur wieder im Schlamm.“
Sie hatten die Stadtmauern jetzt verlassen und um sie herum breitete sich die malerische Landschaft von Albenbrück aus. Riesige Kornfelder erstreckten sich über die weiche Hügellandschaft des Gebirgsvorlandes, durch das sich neben der Hauptstraße auch etliche Feldwege hindurchwandten. Einige Bauern trieben bereits Ochsen und Maultiere über die Felder, welche Karrenpflüge hinter sich her zogen, um das Land für die Wintergerste vorzubereiten.
Andere kamen mit einfachen Holzkarren von ihren Höfen zum Tross herübergeeilt, um den Soldaten die Früchte ihrer Ernte anzubieten. Manchmal bekamen sie dafür eine Münze zugesteckt, doch zu Beginn des Feldzuges waren die Wagen noch voll mit Nahrungsmitteln beladen und es dauerte noch einige Wochen, bis es ertragreich sein würde, der Armee Essen feilzubieten.
Als sie erst wenige Meilen geritten waren und die Türme des Schlosses noch mühelos als solche am Horizont zu erkennen waren, ritten sie an einem alten Opferplatz vorbei, der im Schutz eines Buchenhains nur wenige Schritt von der Straße entfernt lag. Dirion konnte sehen, dass die Landbevölkerung auf einem großen Fels in der Mitte der Bäume Getreide und Obst aufgestapelt hatte, das nun von einem der Bauern mit einer Fackel entzündet wurde. Andächtig betrachteten die etwa zwanzig Anwesenden den Rauch, der sich von ihrer Opfergabe gen Himmel kräuselte.
Dirion beugte sich ein Stück zu Eristrian hinüber und raunte ihm zu: „Es ist doch verwunderlich, dass der Glaube hier noch so stark ist. In der Stadt sind die Zeremonien in den Drakentempeln zur bloßen Tradition verkommen. Niemand würde seine Speisekammer leerräumen und das Mittagsmahl abfackeln, nur weil es den Göttern gefällt.“
Eristrian, der das Schauspiel mit weniger Interesse betrachtete als Dirion, zuckte mit den Achseln: „Recht habt Ihr, aber so ist es nun mal. Hier bekommt man es erst nach Jahren zu hören, was die Universitäten verkünden, um uns die Welt zu erklären. Und das, obwohl die Stadt nur einen Katzensprung entfernt ist.“ Er richtete seinen Blick wieder nach vorne, wo in knapp einer halben Meile eine der mächtigen Steinbrücken begann, die Albenbrück seinen Namen gegeben hatten. „Gottesfürchtigkeit mag ganz nett sein, aber ich vertraue lieber auf Muskelkraft und einen wachen Geist“, äußerte Eristrian.
Dirion sah sich noch immer nach dem Opferplatz um: „Richtig eingesetzt ist jede Furcht ein mächtiges Mittel zur Kontrolle.“ Eristrian grinste bei den düster klingenden Worten seines Mitreiters, dann entgegnete er: „Aber denkt daran, dass Ihr noch mächtiger seid, wenn Ihr den Menschen die Furcht nehmen könnt.“