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Eines Tages war ein recht garstiges Wetter; den ganzen Vormittag regnete es, und die Kranken drängten sich mit Schirmen im Wandelgang.

Kitty wandelte dort mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten hin und her, der vergnügt in seinem europäischen Oberrock einherstolzierte, den er sich in Frankfurt fertig gekauft hatte. Sie gingen auf der einen Seite des Wandelganges und bemühten sich, einem Zusammentreffen mit Ljewin auszuweichen, der auf der andern Seite ging. Warjenka, die wie gewöhnlich ein dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit hinuntergebogenen Krempen trug, wanderte mit einer blinden Französin den Wandelgang in seiner ganzen Länge auf und ab, und jedesmal, wenn sie und Kitty einander begegneten, warfen sie sich wechselseitig einen freundlichen Blick zu.

»Mama, darf ich sie anreden?« sagte Kitty. Sie war ihrer unbekannten Freundin mit den Blicken gefolgt und hatte bemerkt, daß diese zum Brunnen ging, wo sich ein Zusammentreffen leicht ermöglichen ließ.

»Nun, wenn das so sehr dein Wunsch ist, so will ich mich zunächst nach ihr erkundigen und dann selbst mit ihr anknüpfen«, erwiderte die Mutter. »Was hast du denn Besonderes an ihr gefunden? Wahrscheinlich ist sie eine Gesellschafterin. Wenn du es gern möchtest, will ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt«, fügte die Fürstin, stolz den Kopf erhebend, hinzu.

Kitty wußte, daß ihre Mutter sich dadurch verletzt fühlte, daß Frau Stahl es anscheinend vermied, ihre Bekanntschaft zu machen. So drang Kitty nicht weiter in sie.

»Nein, wie lieb und gut sie ist!« sagte sie, als sie nach Warjenka gerade in dem Augenblicke hinschaute, da diese der Französin einen Becher Brunnen reichte. »Sehen Sie nur, wie natürlich und lieb alles an ihr ist.«

»Mit deinen engouements bist du höchst komisch«, versetzte die Fürstin. »Aber wir wollen lieber umkehren«, fügte sie hinzu, da sie bemerkte, daß ihnen Ljewin mit seiner Begleiterin und einem deutschen Arzte entgegenkam und zu diesem laut und in ärgerlichem Tone redete.

Sie wandten sich gerade um, um zurückzugehen, als sie plötzlich nicht mehr nur ein lautes Reden, sondern geradezu ein Schreien hörten. Ljewin war stehengeblieben und schrie, und auch der Arzt war nun in Erregung gekommen. Eine Menge Menschen sammelten sich um die Streitenden. Die Fürstin und Kitty entfernten sich eilig; der Oberst aber gesellte sich zu dem Menschenschwarm, um zu hören, was es denn gäbe.

Nach einigen Minuten holte der Oberst sie wieder ein.

»Was ging da eigentlich vor?« fragte die Fürstin.

»Es ist eine wahre Schande!« antwortete der Oberst. »Wovor man sich geradezu fürchten muß, das ist, mit Russen im Auslande zusammenzutreffen. Dieser lange Herr hat sich mit dem Arzte gezankt, ihm Grobheiten gesagt, weil er ihn falsch behandle, und sogar mit dem Stocke ausgeholt. Es ist geradezu eine Schande!«

»Ach, wie greulich!« sagte die Fürstin. »Nun, und wie hat denn die Sache geendet?«

»Zum Glück hat da eine Dame eingegriffen ... diese Dame mit dem pilzförmigen Hute. Sie scheint eine Russin zu sein«, antwortete der Oberst.

»Mademoiselle Warjenka?« fragte Kitty freudig.

»Jawohl, jawohl. Die fand schneller als die andern Leute das richtige Mittel: sie faßte diesen Herrn unter den Arm und führte ihn weg.«

»Sehen Sie wohl, Mama!« sagte Kitty zu ihrer Mutter. »Und da wundern Sie sich noch, daß ich von ihr entzückt bin!«

Vom folgenden Tage an bemerkte Kitty bei der Beobachtung ihrer unbekannten Freundin, daß Mademoiselle Warjenka nunmehr auch schon zu Ljewin und der Frauensperson, die dieser bei sich hatte, in demselben Verhältnis stand wie zu ihren anderen protégés. Sie trat zu ihnen, redete mit ihnen und diente der Frau, die keine einzige fremde Sprache sprach, als Dolmetscherin.

Kitty setzte nun ihrer Mutter noch mehr mit Bitten zu, sie möchte ihr doch erlauben, mit Warjenka eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Und so unangenehm es der Fürstin auch war, sozusagen den ersten Schritt zu einer Bekanntschaft mit dieser Frau Stahl zu tun, die sich so viel zu dünken schien, so stellte sie nun doch Nachfragen über Warjenka an, und nachdem sie von verschiedenen Seiten eine Auskunft erhalten hatte, aus der sich entnehmen ließ, daß von dieser Bekanntschaft nichts Schlimmes, wenn auch nicht eigentlich sonderlich viel Gutes zu erwarten war, so ging sie selbst zuerst bei Gelegenheit auf Warjenka zu und machte sich mit ihr bekannt.

Sie hatte dazu einen Augenblick gewählt, da ihre Tochter zum Brunnen gegangen, Warjenka aber vor einem Bäckerladen stehengeblieben war.

»Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie mit ihrem würdevollen Lächeln. »Meine Tochter ist ordentlich verliebt in Sie. Sie kennen mich vielleicht nicht. Ich ...«

»O doch; das ist ja auch viel natürlicher, als daß ich Ihnen bekannt sein könnte, Fürstin«, erwiderte Warjenka eilig.

»Was haben Sie gestern für ein gutes Werk an unserm bedauernswerten Landsmann getan!« sagte die Fürstin.

Warjenka errötete.

»Ich wüßte nicht; ich habe ja wohl eigentlich gar nichts getan«, versetzte sie.

»Gewiß doch! Sie haben diesen Herrn Ljewin vor ernsten Unannehmlichkeiten bewahrt.«

»Ach, sa compagne rief mich an, und da suchte ich ihn zu beruhigen; er ist sehr krank und war mit seinem Arzte unzufrieden. Ich bin es gewohnt, mit solchen Kranken umzugehen.«

»Ja, ich habe gehört, daß Sie in Mentone mit Madame Stahl, wenn ich recht unterrichtet bin, Ihrer Frau Tante, zusammen wohnen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt.«

»Nein, sie ist nicht meine Tante. Ich nenne sie maman, bin aber nicht verwandt mit ihr; ich bin nur von ihr erzogen worden«, antwortete Warjenka und errötete dabei wieder.

Das sagte sie so schlicht und natürlich, und auf ihrem lieben, guten Gesichte lag ein solcher Ausdruck von Wahrhaftigkeit und Offenheit, daß die Fürstin begriff, warum Kitty dieses Fräulein Warjenka so liebgewonnen hatte.

»Nun, und was wird dieser Ljewin jetzt tun?« fragte die Fürstin.

»Er reist ab«, erwiderte Warjenka.

In diesem Augenblicke kam Kitty vom Brunnen her hinzu, strahlend vor Freude darüber, daß ihre Mutter eine Bekanntschaft mit ihrer unbekannten Freundin angeknüpft hatte.

»Nun, siehst du, Kitty, dein heißer Wunsch, die Bekanntschaft von Mademoiselle ...«

»Warjenka«, half Warjenka lächelnd ein; »so werde ich allgemein genannt.«

Kitty war ganz rot geworden vor Freude und drückte lange ihrer neuen Freundin schweigend die Hand, die jedoch den Druck nicht erwiderte, sondern regungslos in der ihrigen lag. Aber wenn auch die Hand den Druck nicht erwiderte, so glänzte doch Mademoiselle Warjenkas Gesicht von einem stillen, frohen, wiewohl ein wenig trüben Lächeln, das ihre großen, aber schönen Zähne sichtbar werden ließ.

»Ich habe das selbst schon lange gewünscht«, sagte sie.

»Aber Sie sind so in Anspruch genommen ...«

»Ach, im Gegenteil, ich habe gar nichts zu tun«, versetzte Warjenka; aber in demselben Augenblicke mußte sie sich von ihren neuen Bekannten trennen, weil zwei kleine Mädchen, die Töchter eines kranken Russen, auf sie zugelaufen kamen.

»Warjenka, Mama ruft!« schrien sie.

Und Warjenka folgte ihnen.

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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