Читать книгу Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi - Страница 80
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ОглавлениеEnde Mai, als alles schon mehr oder weniger in Ordnung gekommen war, erhielt Darja Alexandrowna von ihrem Manne eine Antwort auf ihre Klagen über die auf dem Gute vorgefundenen Übelstände. Er bat sie in dem Briefe um Verzeihung, daß er nicht alles bedacht habe, und versprach, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten werde, selbst zu kommen. Aber eine solche Möglichkeit bot sich nicht, und so war sie bis Anfang Juni allein auf dem Gute.
In den Petri-Fasten, an einem Sonntage, fuhr Darja Alexandrowna zur Messe, um mit allen ihren Kindern das Abendmahl zu nehmen. Sie hatte früher in vertraulichen philosophischen Gesprächen mit der Mutter, der zweiten Schwester und Freundinnen diese sehr oft durch den freigeistigen Standpunkt, den sie der Religion gegenüber einnahm, in Erstaunen versetzt. Sie hatte eine eigene, sonderbare Religion für sich und glaubte namentlich ganz fest an eine Seelenwanderung, während sie sich um die Dogmen der Kirche wenig kümmerte. Aber in ihrer eigenen Familie erfüllte sie (und zwar nicht etwa nur, um damit ein Beispiel zu geben, sondern von ganzem Herzen) streng alle Forderungen der Kirche, und der Umstand, daß ihre Kinder ungefähr seit einem Jahr nicht zum Abendmahl gegangen waren, beunruhigte sie sehr, und mit Matrona Filimonownas vollster Zustimmung und Billigung beschloß sie, dies jetzt im Sommer mit den Kindern zu tun.
Darja Alexandrowna überlegte mehrere Tage vorher, was sie allen Kindern anziehen solle. Es wurden Kleider angefertigt, umgeändert und gewaschen, Säume und Stufen ausgelassen, Knöpfe angenäht und Bänder zurechtgemacht. Über Tanjas Kleid, das die Engländerin zu schneidern übernommen hatte, mußte Darja Alexandrowna sich furchtbar ärgern. Die Engländerin hatte beim Umändern die Abnäher an falscher Stelle angebracht, die Armlöcher zu weit ausgeschnitten und das Kleid beinahe vollständig verdorben. Das Kleid saß dem Kinde so schlecht in den Achseln, daß es einem weh tat, wenn man es nur ansah. Aber Matrona Filimonowna kam auf den guten Gedanken, es sollten Keile eingesetzt und dann ein kleiner Überwurf angefertigt werden. Die Sache wurde auf diese Weise in Ordnung gebracht; aber mit der Engländerin hätte es beinahe einen bösen Zank gegeben. Jedoch am Sonntagmorgen war alles fertig und bereit, und um neun Uhr (Darja Alexandrowna hatte den Geistlichen gebeten, mit der Messe bis zu diesem Zeitpunkte zu warten) standen die Kinder, vor Freude strahlend, in ihrem Staate vor der Haustür beim Wagen und warteten auf ihre Mutter.
Vor den Wagen war statt des störrischen »Raben« dank der Fürsprache Matrona Filimonownas der Braune des Verwalters gespannt, und Darja Alexandrowna, die sich mit der Sorge um ihre Kleidung etwas länger aufgehalten hatte, kam nun in einem weißen Musselinkleide heraus und stieg in den Wagen.
Darja Alexandrowna hatte sich mit großer Sorgfalt und nicht ohne innere Erregung frisiert und angekleidet. Früher hatte sie sich um ihrer selbst willen geputzt, um hübsch auszusehen und zu gefallen, aber dann war es ihr, je älter sie wurde, immer unangenehmer geworden, sich zu putzen, weil sie sah, wie unschön sie geworden war. Jetzt indessen hatte sie sich wieder einmal mit Vergnügen und mit einer Art von Aufregung geputzt. Jetzt hatte sie sich nicht um ihrer selbst willen, nicht um schön auszusehen, geputzt, sondern um nicht als Mutter dieser reizenden Kinder den Gesamteindruck zu verderben. Und als sie zum letzten Male in den Spiegel geblickt hatte, war sie mit sich zufrieden gewesen. Sie sah gut aus, nicht in der Weise gut, wie sie früher auf Bällen gut auszusehen gewünscht hatte, aber gut für den Zweck, den sie jetzt im Auge hatte.
In der Kirche war niemand außer einigen Bauern und Gutsknechten mit ihren Weibern. Aber Darja Alexandrowna sah oder glaubte wenigstens zu sehen, daß sie und ihre Kinder das Entzücken aller Anwesenden hervorriefen. Die Kinder waren nicht nur äußerlich schön in ihren festlichen Kleidern, sondern auch ihr artiges Benehmen machte einen sehr hübschen Eindruck. Alexei stand allerdings nicht ganz untadelig da; er drehte sich fortwährend um und wollte sein Jäckchen von hinten sehen; aber er war trotzdem ganz allerliebst. Tanja stand da wie eine Erwachsene und gab auf die Kleinen acht. Aber die Kleinste, Lilly, war geradezu entzückend in ihrem kindlichen Staunen über alles, und es war schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie nach Empfang des Abendmahls sagte: »Please, some more.«
Bei der Heimfahrt hatten die Kinder das Gefühl, daß etwas Feierliches vor sich gegangen sei, und verhielten sich sehr ruhig und artig.
Auch zu Hause ging zunächst alles gut. Aber beim Frühstück fing Grigori an zu pfeifen, und was das Schlimmste war, er gehorchte der Engländerin nicht; diese teilte ihm daher nichts von der süßen Pastete zu. Darja Alexandrowna hätte es an einem solchen Tage nicht bis zu einer Bestrafung kommen lassen, wenn sie zugegen gewesen wäre; aber sie mußte die Anordnung der Engländerin aufrechterhalten, und so bestätigte sie denn deren Urteil, daß Grigori keine Pastete bekommen solle. Dies brachte in die allgemeine Freude eine kleine Störung.
Grigori weinte und sagte, Nikolai habe auch gepfiffen, und der werde nicht bestraft; und er weinte nicht um die Pastete, das sei ihm ganz egal, sondern weil sie ungerecht gegen ihn seien. Das war nun doch gar zu traurig, und Darja Alexandrowna beschloß, mit der Engländerin über den Fall Rücksprache zu nehmen und dann dem kleinen Grigori zu verzeihen. Sie wollte sich daher zu ihr begeben; aber als sie dabei durch den Saal ging, erblickte sie eine Szene, die ihr Herz mit solcher Freude erfüllte, daß ihr die Tränen in die Augen traten und sie dem Übeltäter ohne weiteres selbst verzieh.
Der Bestrafte saß im Saale auf dem Fensterbrett des Eckfensters; vor ihm stand Tanja mit einem Teller. Unter dem Vorwande, daß sie gern ihren Puppen etwas zu essen bringen möchte, hatte sie sich von der Engländerin die Erlaubnis erbeten, ihre Pastete nach dem Kinderzimmer zu tragen, und hatte sie statt dessen ihrem Bruder gebracht. Während er fortfuhr, über die Ungerechtigkeit der erlittenen Strafe zu weinen, aß er von der Pastete, die ihm Tanja gebracht hatte, und sagte unter Schluchzen: »Iß du auch mit; wir wollen zusammen essen ... beide zusammen.«
Auf Tanja wirkte zunächst das Mitleid mit Grigori, dann auch das Bewußtsein ihrer tugendhaften Tat; beides trieb auch ihr die Tränen in die Augen; aber sie aß, ohne sich zu weigern, ihren Teil.
Beim Anblick der Mutter erschraken sie; aber als sie ihr ins Gesicht sahen, merkten sie, daß ihr Tun günstig aufgefaßt werde, fingen an zu lachen, wischten sich, den Mund noch immer voll Pastete, die lächelnden Lippen mit den Händen ab und beschmierten dabei ihre strahlenden Gesichter über und über mit Tränen und Eingemachtem.
»Um Gottes willen! Das neue weiße Kleid! Tanja! Grigori!« rief die Mutter, bemüht, das Kleid zu retten; aber sie lächelte glückselig und entzückt mit Tränen in den Augen.
Sie ließ den Kindern die neuen Kleider ausziehen, den Mädchen Blusen, den Knaben alte Jäckchen anziehen und den Wagen anspannen (und zwar zum Verdruß des Verwalters wieder mit dem Braunen in der Gabeldeichsel), um mit den Kindern zum Pilzesuchen und nach dem Badehäuschen zu fahren. Ein kreischendes Jubelgeschrei erhob sich im Kinderzimmer und dauerte bis zur Abfahrt fort.
Es wurde ein ganzer Korb voll Pilze gesammelt; sogar Lilly fand einen Birkenpilz. Früher pflegte es dabei so zuzugehen, daß Miß Hull einen Pilz fand und ihn ihr dann zeigte; aber jetzt hatte sie selbst einen großen Birkenpilz gefunden, und es gab ein allgemeines Jubelgeschrei: »Lilly hat einen Birkenpilz gefunden.«
Dann fuhren sie zum Flusse; die Pferde wurden unter die Birken gestellt, und man ging in das Badehäuschen. Der Kutscher Terenti band die Pferde, die sich mit den Schweifen die Bremsen davonscheuchten, an einen Baum, legte sich, das hohe Gras plattdrückend, im Schatten einer Birke nieder und rauchte seinen Bauerntabak; das fröhliche Kreischen der Kinder tönte aus dem Badehäuschen, ohne auch nur einen Augenblick zu verstummen, zu ihm herüber.
Obgleich es viel Mühe machte, alle Kinder zu beaufsichtigen und ihren Mutwillen zu zügeln, und obgleich es eine schwere Aufgabe war, alle diese zu den verschiedenen Beinen gehörigen Strümpfchen, Höschen und Schuhchen im Kopf zu behalten und nicht zu verwechseln, alle die Bändchen und Knöpfchen aufzubinden und aufzuknöpfen, so war doch für Darja Alexandrowna, die selbst immer gern gebadet hatte und es für sehr zuträglich für die Kinder hielt, nichts ein so großer Genuß wie dieses Baden mit allen Kindern zusammen. Alle diese dicken Beinchen anzufassen, indem sie ihnen die Strümpfe auszog, diese nackten Körperchen auf die Arme zu nehmen und ins Wasser zu tauchen und ihr bald fröhliches, bald erschrockenes Kreischen zu hören und diese atemlosen Gesichter mit den weit offenen, ängstlichen, lustigen Augen und alle ihre munter umherspritzenden kleinen Engelchen zu sehen, das war für sie der größte Genuß.
Als schon die Hälfte der Kinder wieder angekleidet war, kamen einige Bauernweiber in ihrem Sonntagsstaat, die ausgegangen waren, um Bärenklau und Bibernell zu suchen, zu dem Badehäuschen und blieben schüchtern an der Tür stehen. Matrona Filimonowna hatte eine von ihnen herbeigerufen, um ihr ein Laken und ein Hemdchen, die ins Wasser gefallen waren, zum Trocknen zu geben, und Darja Alexandrowna ließ sich nun mit den Weibern in ein Gespräch ein. Die Weiber, die anfangs die Fragen nicht verstanden und in die vor den Mund gehaltene Hand hineinlachten, wurden bald dreister und fingen an zu reden; von vornherein gewannen sie Darja Alexandrownas Gunst dadurch, daß sie ihr aufrichtiges Entzücken über die Kinder aussprachen.
»Sieh mal, du nettes Mädel, du bist ja weiß wie Zucker«, sagte die eine, indem sie Tanja bewundernd betrachtete und den Kopf hin und her wiegte. »Aber mager, mager ...«
»Ja, sie ist krank gewesen.«
»Na so was, das Würmchen haben sie auch gebadet«, sagte eine andere mit Bezug auf den Säugling.
»Nein, die ist nicht mit gebadet; sie ist erst drei Monate alt«, antwortete Darja Alexandrowna stolz.
»Ei, sieh mal an!«
»Hast du auch Kinder?«
»Ich habe vier gehabt; zwei sind mir davon am Leben geblieben, ein Knabe und ein Mädchen. Vor den Fasten habe ich das Mädchen entwöhnt.«
»Wie alt ist sie denn?«
»Im zweiten Jahr.«
»Warum hast du sie denn so lange genährt?«
»Das ist bei uns so üblich: drei Fastenzeiten ...«
Und nun wurde das Gespräch für Darja Alexandrowna sehr interessant: wie es mit der Entbindung gegangen sei, was für Krankheiten das Kind durchgemacht habe, wo der Mann sei, ob er viel zu Hause sei.
Darja Alexandrowna mochte sich von den Weibern gar nicht trennen, so lebhaft interessierte sie das Gespräch mit ihnen, so völlig stimmten die beiderseitigen Interessen überein. Am meisten Vergnügen machte es ihr, daß sie deutlich sah, wie sie von all diesen Frauen besonders deswegen angestaunt und bewundert wurde, weil sie so viele und so hübsche Kinder hatte. Auch brachten die Weiber Darja Alexandrowna durch ihr Erstaunen über die Engländerin zum Lachen, während diese sich gekränkt fühlte, weil sie sah, daß man über sie lachte, ohne daß sie den Grund begriff. Eine der jungen Frauen nämlich beobachtete die Engländerin, die sich zuletzt nach den andern wieder ankleidete, und als diese sich nun schon den dritten Unterrock anzog, konnte sich die Bauernfrau einer Bemerkung nicht enthalten: »Seht mal bloß, sie zieht sich einen Rock nach dem andern an, immer mehr, und wird nie fertig!« sagte sie, und alle brachen in lautes Gelächter aus.