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Die Ladung war festgeschnürt. Iwan sprang herunter und führte das tüchtige, wohlgenährte Pferd am Zügel. Die junge Frau warf die Harke oben auf die Fuhre hinauf und ging, rüstig ausschreitend und mit den Armen schlenkernd, zu den andern Weibern hin, die sich versammelten, um ihr Reigenlied zu singen. Iwan fuhr von der Wiese auf den Weg und rückte in die Reihe der übrigen Heuwagen ein. Die Weiber, mit den Harken auf der Schulter, in hell leuchtenden, bunten Kleidern, gingen hinter den Wagen her und schwatzten laut und lustig miteinander. Eine derbe, naturwüchsige Weiberstimme stimmte das Lied an und sang eine Strophe vor; dann fielen auf einmal gleichzeitig etwa fünfzig verschiedene, teils derbe, teils feine, gesunde Stimmen ein und sangen dasselbe Lied noch einmal von Anfang.

Die singenden Weiber kamen Ljewin näher, und er hatte eine Empfindung, als ob eine dichte Wolke von laut schallender Fröhlichkeit sich auf ihn zu bewege. Die Wolke erreichte ihn und umfing ihn, und der Heuhaufen, auf dem er lag, und die anderen Heuhaufen und die Fuhren und die ganze Wiese mitsamt den fernen Feldern, alles drehte und wiegte sich im Takte dieses kunstlosen, ausgelassen lustigen Liedes, das von Schreien, Pfeifen und Jauchzen begleitet wurde. In Ljewin regte sich ordentlich der Neid auf diese gesunde Fröhlichkeit, und er hätte sich am liebsten an diesem Ausbruche von Lebenslust mit beteiligt. Aber das ging selbstverständlich nicht, und er mußte da liegenbleiben und sich darauf beschränken, zuzusehen und zuzuhören. Als das singende Völkchen so weit weg war, daß er es nicht mehr sah und nicht mehr hörte, da überkam ihn ein drückendes Gefühl des Grames über sein einsames Dasein, über seine körperliche Untätigkeit und über die feindselige Stellung, die er dieser Welt gegenüber einnahm.

Einige Bauern gerade von denen, die am allerhartnäckigsten mit ihm um das Heu gestritten hatten, also Leute, die nach ihrer Behauptung von ihm benachteiligt worden waren oder vielmehr ihn hatten betrügen wollen – ebendiese Bauern grüßten ihn jetzt ganz vergnügt; sie hegten offenbar keinen Groll gegen ihn (wozu sie ja auch eigentlich keinen Anlaß hatten), verspürten aber augenscheinlich auch keine Reue, ja, sie hatten sichtlich überhaupt keine Erinnerung mehr daran, daß sie ihn hatten betrügen wollen. All das war in dem Meere der frohen, gemeinsamen Arbeit untergegangen. Gott hatte den Tag gegeben, Gott hatte die Kräfte gegeben; und den Tag und die Kräfte hatten sie der Arbeit gewidmet und in der Arbeit selbst ihren Lohn gefunden. Für wen die Arbeit stattfand, welches die Früchte der Arbeit sein würden, das war Nebensache, das war von keiner Bedeutung.

Ljewin hatte oft mit Bewunderung auf dieses Leben hingeblickt und oft ein Gefühl des Neides gegen die Menschen empfunden, die dieses Leben führten; aber heute zum ersten Male, namentlich auch unter dem Eindruck, den Iwan Parmenows hübsches Verhältnis zu seiner Frau auf ihn gemacht hatte, heute zum ersten Male kam ihm klar und deutlich der Gedanke, daß es ja nur von ihm abhänge, jenes drückende, müßige, gekünstelte, selbstsüchtige Leben, das er jetzt führte, aufzugeben und dafür dieses arbeitsame, reine, dem Gemeinwohle dienende, wundervolle Leben einzutauschen.

Der Alte, der mit ihm auf dem Heuhaufen gesessen hatte, war schon längst nach Hause gegangen; das Arbeitervolk hatte sich geteilt. Die Näherwohnenden waren nach Hause gefahren; die Fernerwohnenden trafen auf der Wiese ihre Anstalten zum Abendessen und zum Nachtlager. Ljewin blieb, von ihnen unbemerkt, auf dem Heuhaufen liegen und fuhr fort, nach ihnen hinzuschauen und hinzuhören und seinen Gedanken nachzuhängen. Die Leute, die zum Übernachten auf der Wiese geblieben waren, schliefen während der kurzen Sommernacht fast gar nicht. Zuerst, während des Abendessens, hörte Ljewin ihr allgemeines, lustiges Geplauder und Gelächter; dann folgten wie der Lieder und wieder Lachen.

Der ganze lange Arbeitstag hatte bei ihnen keine andere Wirkung hinterlassen, als daß er sie in die fröhlichste Stimmung versetzt hatte. Erst kurz vor der Morgenröte wurde alles still. Nur das nächtliche Quaken der unermüdlichen Frösche im Sumpfe war zu hören und das Schnauben der Pferde auf der Wiese in dem Nebel, der vor dem Anbruch des Tages aufsteigt. Ljewin ermunterte sich, erhob sich von seinem Heuhaufen, und ein Blick nach den Sternen zeigte ihm, daß die Nacht vergangen war.

›Was werde ich also tun? Und wie werde ich es tun?‹ sagte er zu sich selbst, in dem Bemühen, zu seinem eigenen Nutzen einen klaren Ausdruck für das zu finden, was er in dieser kurzen Nacht gedacht und empfunden hatte. Alle diese Gedanken und Empfindungen verteilten sich auf drei voneinander gesonderte Gedankengänge. Der erste betraf die Abkehr von seinem alten Leben und von seiner Bildung, die niemandem etwas nützte. Diese Abkehr gewährte ihm schon in der Vorstellung einen großen Genuß, und ihre Durchführung erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Gruppe von Gedanken und Vorstellungen betraf das Leben, das er von nun an zu führen wünschte. Daß es ein schlichtes, reines, streng rechtliches Leben sein müsse, fühlte er mit vollster Klarheit, und er war überzeugt, daß er in ihm diejenige Befriedigung, Gemütsruhe und selbstbewußte Festigkeit finden werde, deren Mangel er jetzt so schmerzlich empfand. Sein dritter Gedankengang jedoch bezog sich auf die Frage, wie sich dieser Übergang vom alten zum neuen Leben bewerkstelligen lasse. Und hierüber vermochte er schlechterdings nicht zur Klarheit zu kommen. ›Ich muß heiraten. Ich muß eine Arbeit haben und einen äußeren Zwang zur Arbeit. Soll ich Pokrowskoje verlassen? Anderswo Land kaufen? Mich in eine Bauerngemeinde aufnehmen lassen? Ein Bauernmädchen heiraten? Wie soll ich es angreifen?‹ fragte er sich von neuem und fand darauf keine Antwort. ›Übrigens habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin daher jetzt nicht imstande, mir über solche Dinge klare Rechenschaft zu geben‹, sagte er zu sich. ›Darüber werde ich später schon ins klare kommen. Aber eins ist sicher: diese Nacht hat über mein Schicksal entschieden. Alle meine früheren Träumereien von der Gestaltung des Familienlebens sind töricht, sind nicht das Richtige‹, sagte er zu sich. ›Das läßt sich alles weit einfacher und besser ausführen ...‹

›Wie schön!‹ dachte er, als er auf einmal ein seltsames Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich auch meine Lebensanschauungen geändert!‹

Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.

Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch vierzig Schritte von ihm entfernt kam ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß die Räder auf den glatten Streifen liefen.

Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.

In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks, ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in die Morgenröte.

Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.

Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß sie auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach Jerguschowo begriffen sei. Und alles, was ihn in dieser schlaflosen Nacht so erregt hatte, alle die Entschlüsse, die er gefaßt hatte, das alles war in einem Nu verschwunden. Nur mit Widerwillen erinnerte er sich an seinen Gedanken, ein Bauernmädchen zu heiraten. Dort allein, in diesem Wagen, der sich schnell entfernte und eben nach der andern Seite des Weges hinüberfuhr, dort allein war für ihn die Möglichkeit einer Lösung seines Lebensrätsels, das in der letzten Zeit mit so peinvollem Druck auf ihm gelastet hatte.

Sie hatte nicht mehr aus dem Wagen herausgeschaut. Das Geräusch der Federn des Wagens war nicht mehr vernehmbar; kaum konnte Ljewin noch das Schellengeklingel hören. Hundegebell ließ ihn erkennen, daß der Wagen durch das Dorf fuhr – und nun waren wieder rings um ihn nur die menschenleeren Felder, vor ihm das Dorf, und er selbst, ein einsamer Fremdling, wanderte allein auf dem verwahrlosten, breiten Landwege dahin.

Er blickte zum Himmel hinauf, in der Hoffnung, dort noch jene Muschel wiederzufinden, die er mit solcher Freude betrachtet hatte und die ihm eine Art von Sinnbild seines Denkens und Empfindens in dieser Nacht gewesen war. Aber am Himmel war nichts zu sehen, was mit einer Muschel Ähnlichkeit gehabt hätte. Dort in der unerreichbaren Höhe war bereits eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Von der Muschel war keine Spur mehr vorhanden, sondern über die ganze eine Hälfte des Himmels breitete sich ein gleichmäßiger Teppich immer kleiner und kleiner werdender Lämmerwölkchen aus. Der Himmel war blau und hell geworden und antwortete auf seinen fragenden Blick ebenso freundlich, aber auch ebenso unnahbar wie vorher.

›Nein‹, sagte er sich, ›mag auch dieses einfache, arbeitsvolle Leben noch so schön sein, ich kann doch zu diesem Gedanken nicht zurückkehren. Sie liebe ich, sie!‹

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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