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3. Kapitel

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Zum vierten Mal zogen wir jetzt schon eine Schleife auf dem Neusser Marktplatz vor der Quirinuskirche und vor dem Brauhaus, in dem unser besagtes Klassentreffen stattfand.

»Glaubst du wirklich, daß du hier noch einen Parkplatz findest?« fragte ich vorsichtig.

»Quatsch!« antwortete Cordula schroff. »Ich will nur sichergehen, daß alle das Auto gesehen haben.«

Ich rutschte tiefer in meinen Sitz und stöhnte. »Findest du das nicht ein bißchen kindisch?«

»Kein bißchen«, gab Cordula zurück, trat in die Bremsen und lenkte ihren BMW mit elegantem Schwung in eine winzige Parklücke, die noch dazu in Sichtweite des Brauhauses lag.

»Also, eine Eins in Parken ist dir jedenfalls sicher«, bemerkte ich leicht mißmutig, weil meine Freundin so unverschämt viel Glück hatte. Cordula lief bereits um das Auto herum und öffnete mir die Beifahrertür.

»Lächeln!« befahl sie mir. »Da im Eingang, daß ist Annika Caldewey.«

»Du meinst die, die …«

»Genau die! Und denk dran, wie sie dich immer behandelt hat. So, als wärest du …«

Ich hörte nicht zu, sondern sprang aus dem Auto, riß meinen rechten Arm hoch. »Huhu«, winkte ich.

»Luft«, beendete Cordula ihren Satz und zischte mahnend:

»Carolin, versuch einmal, dich wie ein vernünftiger Mensch zu benehmen, und sei ihr gegenüber etwas mißtrauisch.«

Ich hörte nicht auf sie, sondern beeilte mich, den Marktplatz zu überqueren. Annika, die schönste Blondine unseres Abi-Jahrgangs und schon mit 15 als Fotomodell für eine Tamponwerbung entdeckt, stand da wie eine Leinwandgöttin. Auch ihr Haar war nach wie vor lang, dazu nach wie vor blond und außerdem so effektvoll gewellt wie das von Veronica Ferres als Lorelei in »Rossini«.

Mit unverhohlener Bewunderung schaute ich Annika an. Die hatte bestimmt jede Menge aufregender Geschichten zu erzählen.

»Meine Güte, du bist ja noch schöner geworden«, sagte ich arglos. »Grüß dich, Annika.« Ich streckte zaghaft meine Hand vor. Ganz schön gewagt, Annika hatte eine wie mich – Friedenstaube im Schlabberstrick – früher tatsächlich nicht zur Kenntnis genommen. Nicht nur früher.

»Hallo, äh?« machte sie nur und schaute mit zusammengekniffenen Augen über meine Schulter ins Leere. Plötzlich begann sie zu strahlen. »Cordula! Was habe ich gehört? Du arbeitest für die Vogue.« Annika trat die Eingangsstufe hinab und öffnete die Arme, wobei sie mich leicht zur Seite stieß. »Nein, wie spannend, wir müssen uns unbedingt unterhalten. Mein letztes Modeshooting für euch hat mir ja sooo viel Spaß gemacht.«

»Daß du dich daran noch erinnerst«, gab eine gefährlich lächelnde Cordula zurück. »Ich weiß nicht mal mehr, wann das gewesen ist. Vor sechs oder vor sieben Jahren?«

Mir wurde leicht mulmig, während ich das Duell des Lächelns verfolgte. Annika war nun mit honigsüßer Stimme am Zuge.

»Sieben Jahre? Echt komisch, Cordula, ich nehme an, daß du mit der Moderedaktion überhaupt nichts zu schaffen hast.« Sie ließ ihren Blick anzüglich an Cordula herabgleiten.

»Jedenfalls siehst du nicht danach aus. Na ja, du warst ja immer mehr so der intellektuelle Typ.«

»Was man von dir nicht behaupten kann«, gab eine gefährlicher als Tschernobyl strahlende Cordula zurück. »Interessant übrigens, was du da anhast. Kann nicht jeder tragen, aber schließlich ist es dein Job, da muß man natürlich jede Modedummheit mitmachen, nicht? Übrigens, erinnerst du dich an Carolin? Die ist jetzt in der Werbung tätig und verwaltet den Etat von Escada. Die arbeiten ja am liebsten mit reiferen Models …«

Ich zwickte die schamlose Cordula heftig, aber unauffällig in den Unterarm und stahl mich an Annika, die zu einer herzlichen Begrüßung ansetzte, vorbei in die Kneipe. Helles Frauengelächter, spitze Schreie des Wiedererkennens und »Huhu«-Rufe mischten sich mit dem nebeldicken Rauchgekräusel von Light-Zigaretten. Ein entnervter Köbes in blauem Hemd und blauer Schürze eilte – einen Bierkranz voll Mineralwasser in der Hand – an mir vorbei und fuhr mich mit berufsüblicher Unfreundlichkeit an: »Wir haben hier heute eine geschlossene Gesellschaft. Bedient wird sonst niemand.«

»Aber ich gehöre dazu!« rief ich ihm nach und bestellte »Ein Bier, bitte«, um ihn sanfter zu stimmen. Ich nahm mit gutem Grund an, daß ihm die wassertrinkende Weiberrunde auf die Nerven ging. Der Köbes antwortete jedoch nicht, sondern knallte Wassergläser auf geschrubbte Holztische, wobei sich die Gläser zur Hälfte leerten. Er mußte schließlich auf seine Kosten kommen.

Mir klopfte von hinten jemand so heftig auf die Schulter, daß man es für einen Hieb halten konnte. Ich wirbelte herum und erkannte die dunkelhaarige Jessica, nicht die Schönste, aber die bei den Jungs begehrteste Schülerin unseres Jahrgangs und außerdem meine ehemalige Konkurrentin in Sachen Karsten Schaleen. Bei einer Begegnung auf dem Neusser Schützenfest hatte sie mal versucht, ihn mir wegzunehmen – dumme Kuh, dumme! Ich lächelte friedfertig, fast ein wenig entschuldigend, denn tatsächlich schämte ich mich für die stumme Beschimpfung einer Geschlechtsgenossin. Anders als Jessica.

»Hallo, Carolin. Na, dich erkennt man ja sofort wieder. Kein bißchen verändert. Immun gegen jeden Trend. Toll.« Das Toll war eine glatte Lüge, genau wie Jessicas nächster Satz. »Ich wünschte, ich könnte das gleiche von mir behaupten.«

Wenn man aussah wie Jessica, konnte das nicht stimmen. Mit ihrem kurzen, modisch gefransten Pagenschnitt und dem sündteuren Etuikleid, das ihre völlig fettfreien, » makellosen Konturen nachzeichnete, war sie fraglos immer noch die anziehendste Frau im Raum. Keine perfekte Model-Schönheit wie Annika, aber dafür das fleischgewordene Sinnbild für sprühende Erotik.

»Ich wünschte«, seufzte ich ehrlich, »ich wäre ein bißchen wie du, Jessica. Weißt du, daß du immer ein bißchen mein heimliches Vorbild warst?«

»Ich?« Die schrille Stimme machte Jessica zum akustischen Sinnbild für Hysterie. »Ich ein Vorbild für das Mädchen, dem es gelang, Karsten Schaleen, den Harrison Ford von Neuss-Grimlinghausen abzuschleppen?«

Ich schluckte betroffen – so also beschrieb eine wandelnde Venus meinen Mann. Dazu mit fast erleichtertem Unterton, so, als sei sie froh, davongekommen zu sein. Jessica drückte ihre Hand auf meinen rechten Arm und lachte perlend.

»Waren wir nicht vollkommen albern damals? Ich könnte jetzt noch rot werden, wenn ich daran denke, daß man für so ein Provinzei geschwärmt hat. Weißt du eigentlich, was aus diesem Vorstadt-Schönling geworden ist?«

»Mein Mann.« Ich riß dem vorbeieilenden Köbes das einzige Altbier aus dem Kranz und stürzte es herab.

»Oh, das wußte ich nicht.« Ihr zufriedenes Lächeln erinnerte an eine Katze, die gerade das Sahnekännchen ausgeschleckt hat. »Aber«, fuhr sie mit einer so sanften Stimme fort, daß man unwillkürlich an einen Internisten denken mußte, der seinem Patienten schonend die Nachricht einer lebensbedrohlichen Krankheit beibringen muß, »aber Menschen können sich schließlich ändern. Nicht wahr, man sollte sich nicht an seinen Jugendsünden messen. Was macht dein Karsten denn jetzt so? Er wollte doch auf den Bau oder so was.«

»Er wollte ein Architekturbüro eröffnen«, sagte ich schwach und entwickelte eine gewisse Routine beim Herausreißen von Gläsern aus Bierkränzen. Inzwischen hatte ich mein drittes Alt verkimmelt und entspannte mich unter der beruhigenden Wirkung des Hopfens.

»Architekt, stimmt. Und?« Ich wußte, daß mir soeben eine tödliche Falle gestellt wurde. Ich wußte, daß Jessica wußte, was mein Mann heute so machte. Und ich wußte, daß ich dennoch die Wahrheit sagen würde.

»Er«, setzte ich an, als ein heftiger Hieb Jessicas Schulter traf.

»Jessica! Nein, siehst du aber gut aus. Und das trotz allem, trotz dieser Schicksalsschläge.« Cordula senkte die Stimme: »Falls du es noch nicht weißt, ich bin Psychologin, wir können uns gerne darüber unterhalten.«

Jessicas Lächeln verrutschte ein wenig nach unten. Sie straffte die Schultern. »Schicksalsschläge? Ich verstehe nicht, was du meinst?«

»Na, deine zweite Scheidung, nachdem dein Mann mit eurem Kindermädchen durchgebrannt ist. Oder war es die Putzfrau? Na, egal. So was muß jede Frau um den letzten Funken Selbstvertrauen bringen, nicht wahr?«

Jessicas Lächeln verschwand völlig aus ihrem Gesicht. Ihr ganzer Mund verschwand aus ihrem Gesicht, denn er wurde zu einem dünnen, harten Strich.

»Wir hatten uns längst vorher zu einer Trennung entschlossen«, erklärte sie mit tonloser, mechanischer Stimme. »Ich halte nichts davon, eine Beziehung ohne Liebe fortzusetzen.«

Cordula nickte mit tiefem, einvernehmlichem Seufzen. »Wie recht du hast. Ach, wären doch mehr Frauen in unserem Alter so mutig, so aufrichtig und so entspannt in ihrer Einsamkeit. Nicht jede kann schließlich soviel Glück wie unsere Carolin haben. Fünfzehn Jahre verheiratet und immer noch verliebt. Weißt du, was Karsten ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hat?«

»Oh, entschuldige Cordula. Sorry, Carolin, aber da drüben sehe ich Marion. Marion, huhu, hallo.«

Jessica entschwand in der Menge. Ich folgte ihr mit dem unsteten Blick einer leicht Betrunkenen und griff mir ein weiteres Altbierglas, das der Köbes mir inzwischen freiwillig hinhielt.

»Gerade noch gerettet, was?« flüsterte Cordula neben mir.

»Sag mal«, meinte ich kopfschüttelnd, »woher weißt du all diese Sachen über Annika und Jessica?«

»Ganz einfach, ein paar Telefonate mit anderen Schulkameradinnen und meine ausgeklügelte, psychologische Frageweise, schon hatte ich genug Munition für eventuelle Fälle von Notwehr. Ich wußte, daß du mit der Treffsicherheit einer ferngesteuerten Tomahawk-Rakete auf die gefährlichsten Frauen unseres Jahrgangs zusteuern würdest. Du bist so eine Masochistin.«

»Du bist manchmal ganz schön gemein.«

»Manchmal?« fragte Cordula sarkastisch. »Ich würde sagen, wir machen noch eine kleine Runde, und dann reicht’s. Komm einfach mit mir mit, dann kann ich besser auf dich aufpassen.«

Ich nickte und wollte mich der nach vorne drängelnden Cordula gerade anschließen, als neben mir die freundliche Stimme einer älteren Dame ertönte.

»Carolin Kaster, wie nett, dich einmal wiederzusehen.«

Ich schaute zur Seite, direkt in das rosige Gesicht meiner ehemaligen Kunstlehrerin Karin Schettle. Sie war immer meine Lieblingslehrerin gewesen und ich – so hatte ich gehofft – eine ihrer Lieblingsschülerinnen.

»Ich erinnere mich noch an deine wunderschönen Zeichnungen. Ein so feiner Strich, dieser Sinn für Perspektive und Proportionen, dazu deine Phantasie. Du warst außergewöhnlich begabt, Carolin, wenn auch immer etwas zu schüchtern, zurückhaltend. Ich hoffe, das hast du abgelegt.« Ich senkte meine Augen unter dem prüfenden Blick meiner alten Lehrerin. Die fuhr freundlich fort. »Ich bin sehr glücklich darüber, wie viele erfolgreiche junge Frauen hier versammelt sind. Chirurginnen, Rechtsanwältinnen, wir haben sogar eine Bundestagsabgeordnete unter uns. Es ist schön, daß eure Generation endlich wie selbstverständlich Karriere macht. Und was hast du aus deinen Talenten gemacht?«

»Hm, ja, also«, murmelte ich. Warum, zum Teufel, schämte ich mich plötzlich? Und für was? »Ich«, setzte ich vorsichtig an, »ich schreibe für verschiedene Illustrierte und Magazine, manchmal mache ich auch Illustrationen.«

»Ach, wie interessant! Und worüber schreibst du?«

Ich schaute flüchtig nach oben und bemerkte, wieviel ‘ schmerzhafter aufrichtige Freundlichkeit gegenüber schlichter Boshaftigkeit sein kann. »Ich, hm, schreibe über... na ja, dies und das, so ziemlich alles.«

»Zum Beispiel Innenarchitektur und Essays über Ästhetik«, rettete mich zum dritten Mal Cordula. »Sie wissen doch, Frau Schettle, wie bescheiden Carolin immer war. Sie gibt nicht gern mit dem an, was sie tut. Außerdem ist sie eine sehr gute Illustratorin.«

»Wie wahr, wie wahr! Nun ja, das ist alles sehr schön. Ich freue mich immer, wenn es Menschen gelingt, ihre Jugendträume auch zu leben. Es ist so schwierig, sich selbst und seinen Wünschen und Hoffnungen treu zu bleiben. Viel Glück auch weiterhin, Carolin.«

Frau Schettle bahnte sich ihren Weg zu einem der Tische, wo sie mit lautem Hallo begrüßt wurde. Der Abend war inzwischen so weit fortgeschritten, daß die ersten Frauen das züchtige Mineralwasser stehen ließen und sich zu ihren wahren Trinkgewohnheiten bekannten. Der Köbes balancierte jetzt Tabletts voller Weiß- und Rotweinpokale, dazwischen standen Schnapsgläser stramm. Ich griff zu und hörte mir so nebenbei die erfolgreiche Lebensgeschichte der erfolgreichen Brigitte an, die sich von der erfolgreichsten Schülerin unseres Jahrgangs zur erfolgreichsten Frau an der Frankfurter Börse entwickelt hatte und demnächst in den Aufsichtsrat einer erfolgreichen Bank gewählt werden würde. Als erste und einzige Frau. Danach erzählte ich auf Anfrage knapp von Karsten, den Klos und den Kindern, was Brigitte fünf Sekunden lang »ungeheuer interessant« fand, um dann ein neues Opfer mit ihrer Erfolgsstory zu bombardieren.

Natürlich waren auch andere Frauen zugegen, Frauen mit ebenso unspektakulären Lebensläufen wie dem meinigen, aber nach drei Fehltreffern hatte ich die Lust am Erinnerungsaustausch verloren und riß mir noch einen Schnaps vom Köbestablett.

»Ich glaube, du brauchst jetzt ein bißchen frische Luft«, meinte Cordula und nahm mir den Schnaps aus den Händen. Widerstandslos ließ ich mich von ihr nach draußen ziehen. Das Quirinusmünster hatte sich verdoppelt, und das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes schlug seltsamerweise Wellen, wahrscheinlich kam deshalb auch meine Stimme ins Schwanken.

»Wa-warum passiert mir immer so-so was?«

»Was?« fragte Cordula und warf einen besorgten Blick zum Abendhimmel, der sich in dunklen Schwefeltönen gefiel. Es war noch lange nicht Nacht und doch fast schon dunkel. Von Ferne grollte ein Donner.

»Warum benutzen mich alle immer als ihren Fußabtreter?

Meine Scha-wiegermutter, meine Kinder, meine ganze Fahamilie, meine Klassenkameradinnen...« Das letzte Wort kam so verbogen über meine Lippen, daß ich energisch den Mund zuklappte.

»Du redest grandiosen Unsinn, Carolin Kaster-Schaleen. Niemand benutzt dich als Fußabtreter. Deine Kinder sind durchaus gelungen, und um Karsten kann man dich beneiden. Er sieht gut aus und liebt dich wirklich.«

»Gar nicht!« trotzte ich auf. »Karsten is’ romantisch wie eine Steuererklärung. Alles nach Schema F.«

»Das kannst du ändern. Verführ du ihn einfach mal.«

»Haha, komm jetz’ nich’ mit diesem Mist, kaufen Sie sich sexy Deschus.«

»Das heißt Dessous. Und die Wahrheit ist, daß du erwachsen bist. Wenn du was von einem Mann willst, dann sag es ihm oder hol es dir.«

»Ich will, daß es wieder so wie auf Mallorca ist«, greinte ich und schmiegte meine Wange ans kalte Kopfsteinpflaster, um die ganze Härte meines Elends zu spüren. Cordula machte keine Anstalten, mich zu retten oder zu bemitleiden.

»Carolin, du bist albern.«

»Jawoll, eine alberne, dusselige, unbegabte Provinzmutti. Setzen, Sechs«, heulte ich auf.

»Das ist doch Unsinn. Frau Schettle hat dich heute abend über den grünen Klee gelobt. Übrigens mit Recht. Du hast Talent und eine bemerkenswerte Phantasie.« Sie packte mich bei der Schulter und wollte mich hochreißen. Nicht mit mir, ich war gerade so schön unglücklich!

»Ja-a. Als Lügnerin. Ich und eine tolle Journalistin. Haha.«

»Du wärest eine, wenn du es wolltest. Du kannst immer noch eine werden«, antwortete Cordula streng.

»Ja, Schournalistin für Wasch-wische, äh, Waschtische, egal, Klos, darüber schreib’ ich, nix Innenarchitektur.«

»Du könntest auch dein Studium wieder anfangen oder dich der Grafik mehr widmen. Die Kinder sind doch groß genug.«

Wie ekelhaft vernünftig meine Freundin war, dazu hatte ich in diesem Moment keine Lust, mir war nach Tragödie, jawoll!

»Schöne Scheiße, schöne Scheiße. Ich bin ein Nichts, Cordula, ein Haufen Nichts.« Das Nichts sackte wieder in sich zusammen und nahm auf dem Neusser Markt Platz, der Karussell fuhr und mächtig an Tempo gewann.

»Du bist betrunken, das ist alles.«

»Nein«, entrang sich ein Verzweiflungsschrei aus meiner Brust und hallte über den Markt. Ein Rentner mit Regenschirm und sorgfältig ondulierter Frau am Arm blieb auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stehen. Ihm und Cordula legte ich meine Lebensbeichte hin. »Weißt du, was ich wirklich werden wollte? Weißt du das? Nee, weiß nämlich keiner. Malerin oder Dschungelforscherin oder Architektin, keine beschissene blöde Provinzmutti für einen beschissenen Klofabrikanten.«

Der Rest ertrank in alkoholhaltigem Genuschel. Der Rentner und seine Frau schüttelten sich, so was hatte der Neusser Marktplatz wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Eine vollkommen betrunkene, randalierende Hausfrau im allmächtigen Schatten der katholischen Kirche.

»Komm«, forderte Cordula und zerrte mich vom Karussell, »wir fahren jetzt mal ein bißchen spazieren, damit du klar in der Birne wirst.«

»Aber nich’ im Kreis«, protestierte ich.

Cordula warf mich in das Polster des Beifahrersitzes und rannte um das Cabrio herum. Ich war schneller, krabbelte auf den Fahrersitz und verlangte lautstark die Schlüssel.

»Spinnst du?« fragte Cordula und setzte sich neben mich.

»Jawoll, ja. Schlüssel her.«

»Im Leben nicht, du bist viel zu betrunken.«

»Is’ egal. Du bist mit achtzehn auch betrunken gefahren.«

»Mit achtzehn! Aber nicht mit fünfunddreißig.«

Ich warf den Kopf nach hinten und trank die abkühlende Abendluft. Der Schnaps hatte sich bereits soweit verdünnt, daß in meinem Kopf wieder Platz für Gedanken war. Ernüchternde Gedanken.

»Cordula, ich hab’ mit neunzehn mein erstes Baby erwartet, mit zwanzig war Schluß mit lustig. Es ist an der Zeit, daß ich mal Dinge mache, die ich mit achtzehn verpaßt habe. Schlüssel her.«

Cordula biß sich auf die Lippen, dann kramte sie ein klimperndes Bündel hervor. »Hier, aber nur eine Runde um den Markt.«

Ich versprach nichts und hielt nichts. Einmal mit dem Fuß auf dem Gaspedal war ich nicht mehr zu bremsen, drehte drei Runden, machte dem Rentnerpaar Beine, bis es in eine Telefonzelle flüchtete und fuhr endlich durch ein kurzes Stück Fußgängerzone auf die – für Autos gesperrte – Hauptstraße. Dort jubelte ich den BMW auf etwa 120 hoch, so daß er vom Kopfsteinpflaster abhob und seine Räder wahrscheinlich Funken schlugen. Cordulas wüste Beschimpfungen beachtete ich nicht weiter, außerdem ertranken sie in dem prasselnden Regen, der nach einem Wolkenbruch auf uns und in das offene Cabrio niederging.

Erst als ich die schnurgerade und regenüberschwemmte Bundesstraße erreichte, die zu meinem Wohnviertel führte, nahm ich den Fuß vom Gas. Ich hatte es nicht so eilig, nach Hause zu kommen.

»Sach’ mal, Cordula«, schrie ich gegen das Brausen von BMW-Motor, wirbelndem Regen und Fahrtwind an, »was findest du eigentlich an einer langweiligen Provinzmutti wie mir?«

Cordula antwortete nicht sofort, dafür grollte ein Donner. Als der Donner schwieg, explodierte Cordula. Klar, wegen der kleinen Extratour und den nassen Ledersitzen und all solchem langweiligen Kram – wie ich immer noch leicht benebelt fand. »Das stört doch keinen großen Geist«, zitierte ich aus »Karlsson vom Dach«, einem der wenigen Bücher, die ich in den letzten Jahren intensiv gelesen hatte – wegen Janosch.

Cordula schrie nur: »Halt an, da ist rot!«

»Und da ist blau«, schrie ich nach einem Blick in den Rückspiegel.«

»Scheiße, die Bullen. Gib Gas!«

»Was denn nun?«

Cordula antwortete nicht, sondern warf sich in den Fond und drückte meinen rechten Fuß so heftig aufs Gaspedal, daß der BMW einen Satz machte. Die Polizisten schalteten die Sirene zu. Das Cabrio schlingerte im zentimeterhoch stehenden Wasser, ich umklammerte das Lenkrad und betete mir Mut zu. »Nur keine Panik, einfach Spur halten, einfach Spur halten.«

»Bieg links ab!« kreischte derweil die hysterische Cordula.

»Wo links?« kreischte ich zurück. »Da ist nichts links.«

Cordula griff ins Lenkrad, das Heck des BMW riß kurz aus, dann hatte ich ihn wieder im Griff, und wir schossen nach links, hoben ein kleines bißchen ab, setzten mit den Vorderrädern wieder auf und durften uns davon überzeugen, daß der BMW auch hinten ausgezeichnet gefedert war. Dafür setzte der Motor aus, dem ich einfach zu wenig Saft gab. Ein Stottern, ein Röcheln – und Schluß.

Cordula schaltete die Scheinwerfer aus. Die Sirenen wurden wieder hörbar, lauter, immer lauter, noch lauter. Ich duckte mich unter das Lenkrad, kniff die Augen zu, so fest, daß ich nichts mehr spürte. Eine Sekunde wurde zur Ewigkeit.

Auf Mallorca liebt sich's besser

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