Читать книгу Casanovas küsst man nicht - Leonie Bach - Страница 5

2

Оглавление

»Hallo, lieber Macintosh. So heißt du wohl, jedenfalls steht dieser Name auf dem grauen Kasten vor mir. Du bist mein neuer Computer, und ich hoffe, daß du mir deinen Pentium-Processor öffnest und wir bald gemeinsam durchs Internet surfen.«

Liane hielt inne und betrachtete den Text, den sie ins neue System geschrieben hatte. Na also, es ging doch. Was stellten sich die Kollegen nur so an? Sie klickte mit der Maus in der Symbolleiste am oberen Rand des Bildschirms das Zeichen für Drucken an und wartete auf das leise Fiepen, mit dem der Laserprinter neben dem Kühlschrank sich selbst in Gang setzte. Sekunden später glitt fast geräuschlos ihre Nonsens-Botschaft aus dem Papierschacht. Liane raste hin, bevor einer der Kollegen das Blatt in die Hände bekommen konnte.

Klar, es war kindisch einen Computer zu duzen und ihm einen Namen zu geben, aber war es nicht ebenso kindisch, ihn zu dämonisieren, wie eine Scudrakete zu fürchten, und zu glauben sein binäres System wäre auf boshafte Tricks programmiert? Seit einer Woche gab es Kollegen, die hartnäckig behaupteten, ihr Computer würde die Texte fressen, bombardieren, löschen. Lächerlich, dachte Liane grinsend.

Da hielt sie es lieber wie Tante Eia. Die Haushälterin ihres Vaters hatte schon ihrem ersten elektrischen Rührmixer einen Vornamen gegeben, um sich mit »Karl-Otto« schneller anzufreunden. Pfannenwender hießen schließlich auch Küchenfreund. Bei diesem Gedanken streichelte Liane noch einmal verstohlen den Monitor. Jedenfalls konnte man dem Computer unter einem persönlichen Passwort mehr anvertrauen als manchen Kollegen. Denen teilte man am besten nicht mal mit, wie man geschlafen hatte. Die witterten hinter allem eine größere, schmutzigere, skandalösere Story. Berufskrankheit.

Erst gestern hatte Porky, der Fotograf, aus Lianes »schlecht geschlafen« die Mitteilung »die Liane Seil säuft zuviel, kann nachts nicht schlafen« gemacht. Eine Mitteilung an ihren Chef, Drillinger. Nur weil Porky sie nicht bei der Ankunft Michael Jacksons in Köln dabei haben wollte. Porky wollte überhaupt nie jemand anderen dabei haben außer seiner Kamera. Von den Textern – in seinem Jargon nur Tastenwichser – hielt er nichts. Von Recherche ebensowenig. Er erfand die Geschichten zu seinen Bildern lieber gleich mit. Aufregende, gigantische, überwältigende Geschichten, die dafür sorgten, daß seine Bilder im größtmöglichen Format gedruckt wurden.

Aber gestern hatte Porky Pech gehabt. Liane war dabei gewesen, und seit heute wußte die Welt, daß Michael Jacksons Gesicht kurz vorm Platzen stand. Na ja, das war wirklich übertrieben, dachte Liane bei sich, sie hatte nur etwas von sehr angespannten Gesichtszügen, papierdünner Haut und einer zerbrechlichen Nase schreiben wollen, aber Drillinger war natürlich gleich in die Vollen gegangen. Und Porky war mächtig sauer, denn statt seiner Bilder – Michael mit Mundschutz, Michael mit Atemmaske, Michael hinter schwarzen Brillengläsern und den schwarzen Scheiben einer Limousine – hatte Drillinger Bilder einer Londoner Zeitung eingekauft, auf denen Jacksons Gesicht soviel Blasen schlug wie vergorener Kochkäse.

Heute war leider kein solch aufregender Tag in der bunten Welt für vermischte Sensationen und News. Die Radionachrichten, die einige Kollegen regelmäßig anschalteten, begannen mit einer Überschwemmung in Bangladesh – ohne Tote – und endeten mit einer Erklärung des Oppositionsführers zu Temposchwellen in den Innenstädten. Kein Stoff, der Boulevardblätter zum Knistern brachte. Wahrscheinlich dauerten Drillingers Verhandlungen mit der Chefredaktion deshalb so lange. Die beiden fanden im Agenturmaterial einfach keine verwertbaren Geschichten.

Liane rief gelangweilt das Klondike-Programm auf, eine elektronische Patience, ungemein beliebt bei allen Kollegen, selbst bei denen, deren Texte ständig gefressen wurden. Mit Klondike hatten sie weit weniger technische Schwierigkeiten, und auch die Bedienung der Paniktaste beherrschten sie virtuos. Sobald Drillinger hinter ihren Rücken auftauchte und seinen Blick auf den Monitor senkte, ließen sie mit Druck zweier Tasten das Spiel blitzschnell vom Bildschirm verschwinden.

Der redaktionsinterne Spielrekord lag inzwischen bei 5700 Punkten. Aufgestellt von Chefreporter Schmöller, 57, und so ausgebufft oder ausgebrannt–da gingen die Meinungen auseinander –, daß er von journalistischer Arbeit weitgehend verschont blieb.

Schmöller recherchierte, wie es hieß, sogar eine Wettermeldung kaputt. »Genau nachhaken« nannte er das und rief so lange bei verschiedenen Wetterämtern an, bis er mindestens sechs verschiedene Voraussagen von Graupelschauer bis Hitzewelle gesammelt hatte. Kein Wunder, dachte Liane, daß Drillinger dem lieber gar nichts mehr auf den Tisch legte. Weshalb Schmöllers Schreibtisch so aufgeräumt wirkte wie der ganze Mann selbst. Boshafte Kollegen verglichen ihn mit einem Gummibaum: »Den hat irgendwer mal angeschleppt, jetzt steht er rum, fängt Staub und nimmt nur Licht weg, aber keiner schmeißt ihn raus.«

Ein komischer Laden, dachte Liane. Sie wollte nicht so werden, in keinem Fall, sie wollte nur die ganz großen Geschichten machen, mit vollem Einsatz, gewagte, gefährliche, sensationelle Geschichten. Ganz nah ran an die Prominenz.

Was blieb ihr auch sonst? Ein kleines Reißen in der Brustgegend erinnerte Liane an ihren ganz privaten Kummer. Geheim? Das mußte endlich mal raus. Entschlossen klickte sie die Spielkarten weg und rief wieder das Schreibprogramm auf.

Hi, Macintosh. Ich bin’s wieder. Habe mich entschlossen, hier so ’ne Art Tagebuch zu schreiben. Ich stell mich vielleicht erst mal einfach vor. Blöder Anfang, kann man aber später noch ändern. Also, ich bin 25 Jahre alt und heiße Liane Seil. Spätestens an diesem Punkt, denk ich mal, ist eine Erklärung fällig. Oder besser, eine Entschuldigung. Für meinen Vater, den ich mir nicht ausgesucht habe. Der hingegen hat sich meinen Namen – Liane – ausgesucht. Weil manchmal bei ihm so ziemlich alle Schrauben locker sitzen. Nicht immer, aber öfter.

In den Monaten nach Bekanntwerden meiner Zeugung, als ich alle Hände voll damit zu tun hatte, Füße und Finger zu entwickeln, nehme ich mal an, wurden eine Menge alter Tarzanfilme im ZDF- oder im ARD-Sonntagnachmittagsprogramm wiederholt. Papa liebt diese Filme.

Die braunsepiafarbenen mit Johnny Weißmüller, Jane, Cheetah, viel Flimmer und den unvermeidlichen Lianen. »Aij-ijai-ija.« Fand Papa Seil wahrscheinlich prima komisch, und so kam ich armer Wurm, wehrlos, unbehaart und unbezahnt, zu dem merkwürdigen Namen Liane. Na ja, immer noch besser als Ponderosa, denn Papa ist außerdem eingefleischter Bonanza-Fan. Liane ist schon schlimm genug. Wenn er mal wieder ganz besonders schräg drauf war, nannte er mich beim Abendessen seine kleine Schlingpflanze. Dabei bin ich wirklich nicht dick, also ehrlich.

Unsere Haushälterin, die Tante Eia, konnte nämlich noch nie besonders gut kochen, dafür putzt sie prima die Fenster, findet Papa Seil. Ich mochte ihre Gute-Nacht-Geschichten von Kai, dem Bären, der einen Kühlschrank Nimmerleer besitzt und den Schrank Schlaraffia, in dem die internationale Gummibärenernte gelagert wird. Und weil mein Lieblings-Gute-Nacht-Lied »Eia popeia, was raschelt im Stroh« hieß – oder so ähnlich –, nannte ich unsere Haushälterin, die meine Lieblingshaushälterin ist, Tante Eia Popeia. Abgekürzt Tante Eia. Meine Mutter hat sich da nicht weiter eingemischt, weder in den Haushalt, die Gute-Nacht-Geschichten, die Namensgebung noch in meine Erziehung. Konnte sie gar nicht, weil sie unmittelbar nach der Niederkunft plötzlich eine unbändige Reiselust packte und sie samt Still-BH und Zahnbürste, aber ohne mich und ohne die Broschüre »Katholische Kinderpflege leicht gemacht«, einfach so aus der Klinik verschwand.

Fünf Jahre später kam dann mal eine Postkarte aus Nepal oder Goa mit Grüßen (unbekannterweise) an mich. Und ab dann kamen jedes Jahr seltsame Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke aus aller Welt – Schellenbänder für Elefantenfüße etwa oder Puppengeschirr aus ägyptischem Kameldung. Es dauerte dann noch mehr als dreiundzwanzig Jahre, bis auch meine Mutter mal vorbeischaute – unbekannterweise. Davon später.

Zurück zu Papa Seil. Der heißt Eberhard mit Vornamen, was zwar auch nicht gerade ein Heuler, aber immerhin ein Klassiker ist und nett seriös klingt. Nach Feuilleton nämlich, und da ist mein Papa, Eberhard Seil, Chef. Ressortleiter nennt man das. Bei einer großen Zeitung in einer Stadt, von der ich mal nur soviel verraten will, daß ihre Bewohner den Frohsinn erfunden haben, gerne Bier trinken und schon seit mehr als 1000 Jahren an einer Kirche bauen, die sie nie ganz fertig kriegen. Vielleicht wegen des ganzen Biers.

Jedenfalls fällt dieser Dom an irgendeiner Ecke ständig auseinander, während eine andere Ecke gerade Krümel für Krümel restauriert wird. Ganz krümelige Steine werden per Lotterie unter die Leute gebracht. Gegen Geld, damit andere Krümel gerettet werden können.

Nachts, von rund 50 000 Watt Weißlicht angestrahlt, sieht er sehr ehrwürdig und irgendwie schimmelig grün aus. Man gewöhnt sich dran. Tagsüber werden vor seinen Portalen so zirka 290 japanische Farb- und Diafilme verknipst. Er wird in Schneekugeln, vergoldet, mit Barometer oder mit Gasfeuerzeug im Kirchenschiff als Souvenir angeboten, und wenn man am Original vorbei dem Bahnhof und DB-Junkietreff zustrebt, zieht’s meistens wie Hechtsuppe. Mehr verrat ich mal nicht, sonst wird es zu einfach. Papa Seil schreibt also für das Feuilleton einer großen Zeitung und sieht deshalb auch nur heimlich Tarzanfilme oder Bonanza und die Lindenstraße. Öffentlich ist er meistens in der Oper, im Theater und in Galerien unterwegs. Letzteres allerdings sehr ungern, weil »da muß man stehen und die Augen aufmachen«.

So ist Papa Seil. Nach fast dreißig Jahren Kultur hängt ihm selbige ziemlich zum Hals raus. Irgendwie kann ich das auch verstehen. Vor allem, weil Papa Seil, glaube ich, kurz vor meiner Geburt beschlossen hatte, lieber Briefträger zu werden. Der frischen Luft und der kurzen Arbeitszeiten wegen, und weil den Briefträger täglich ein Hauch von Freiheit ohne Abenteuer umweht. Dachte Papa Seil, weil ihm damals die Kultur zwar noch nicht, wohl aber die Kollegen gewaltig auf den Geist gingen. Also, das kann ich irgendwie auch verstehen, denn seit einem Jahr sind seine Kollegen auch meine Kollegen. Ich meine, ich arbeite wie er inzwischen als Journalistin. Allerdings bin ich während meines Studiums auch schon Briefträgerin gewesen – ausnahmsweise aushilfsweise – und kann Papas Theorie von der Freiheit des Postboten nicht ganz folgen. Oder haben Sie schon mal bei strömendem Regen 5000 Briefwurfsendungen der Firma »Schlank mit Schlamm« verteilen müssen?

Ich schon, und weil ich nur Aushilfe und ein bißchen blöde war, habe ich das sogar gemacht. Sogar an Oma Husenbeck, die auf der Ich-verrat-nix-Straße 414 (Postgeheimnis!) in einem freistehenden Haus zehn Kilometer vom letzten Nachbarn in der Nummer 413 entfernt wohnt und von einem riesigen Dobermann ausführlich bewacht wird.

Meine Ex-Kollegen mit den gelben Rädern kichern wahrscheinlich noch heute über die Dummerliese mit dem doofen Namen, die eine Postwurfsendung komplett zustellte. Bis zum letzten Faltblatt. Sie recycelten den Großkundenauftrag, genau wie Urlaubskarten an Familie Müller ohne Hausnummer, direkt in die Papiercontainer. Vielleicht kennt deshalb bis heute kaum jemand das Geheimnis von »Schlank mit Schlamm«. Außer natürlich Oma Husenbeck, aber die halten Geiz und Magerquark ohnehin so dünn und knusprig wie eine Scheibe Finn Crisp Knäcke. Wenn’s hoch kommt. Ich schweife ab. Macht nichts, kann man ja später noch ändern. Obwohl Papa Seil davon gar nichts hält. »Liane, Kind, kannst du nicht einen Text auf Zeile schreiben, so daß er ins Layout paßt?« Wir sitzen leider unter einem Dach und bei einem Verlag, wenn auch bei zwei verschiedenen Zeitungen. Trotzdem tratschen die Kollegen alles über mich an Papa weiter, eben auch, daß meine Texte manchmal etwas lang ausfallen. Aber, mir fällt halt immer noch so schrecklich viel ein. Tante Eia sagt: »Dat Kind hat Pfantasie.« Jawoll, Pfantasie, weil sie beide Schreibweisen, Phantasie und Fantasie, pfonetisch (jawoll) zusammenfaßt. Papa kann das irgendwie überhaupt nicht verstehen. Ich meine, meine Pfantasie.

Na ja, nach fast dreißig Jahren Feuilleton hat man vielleicht auch so ziemlich alles gesagt, was es über die »Lustige Witwe« in Fassung 2212, Goethes Geballte, den zerbrochenen Kleist und »problemorientierten Kammertanz« – ich zitiere! – so zu sagen gibt. Meint Papa Seil auch: »Weißt du, im Grunde wiederholt sich alles. Ich erlebe gerade die zweite oder vierte Langhaarperiode für Männer mit.«

Die dazwischenliegenden Kurzhaarperioden hat er allerdings immer ausgelassen. Deshalb sieht er ungefähr so aus wie Georges Moustaki um die sechsundfünfzig.

Als Feuilletonchef kann er sich’s leisten, außerdem geht er nicht gern zum Friseur. Er geht eigentlich überhaupt nirgendwo gerne hin. Erst recht nicht, wenn’s mit Kultur zu tun hat.

Nee, den lockt kein neuer neuer Wilder, kein wilder wilder Neuer und auch kein Shakespeare in Weltraumuniform und mit Radarschirm (der Geist von Hamlets Vater) hinterm Fernseher vor. Nicht, wenn’s nicht unbedingt sein muß. Lieber schenkt er die Opern- und Ballett- und Theaterkarten Tante Eia. Die erzählt dann hinterher wie’s war.

»Gräßlich, die Sänger waren alle nackt und dabei ziemlich dick« oder »sagen Sie mal Herr Seil, spielt Faust in der Tat Saxophon auf dem Klo?« Papa kann sich dann ein ziemlich genaues Bild von dem kulturellen Ereignis machen, das er am nächsten Tag ausführlich bespricht. Haha, wenn die Abonnenten das wüßten, Tante Eias Kulturkolumne, hausgemacht.

Obwohl, Putzfrauen haben in vielen Dingen recht, nicht nur, wenn es darum geht, daß ich mein Zimmer aufräumen soll. Da wohn ich nämlich jetzt wieder, in meinem Zimmer, in Papas Wohnung. Das muß man sich mal vorstellen. Mit fünfundzwanzig Jahren. Aber nur, weil’s zur Zeit mit anderen Männern als Papa Seil bei mir ein bißchen heikel steht und ich mich so alleine gefühlt habe. Mein letzter Typ für immer und ewig war aber auch wirklich ein Reinfall. Komplette Niete. Georg hieß er. Äbäh Georg, der Name macht mich schon krank.

Als ich den kennenlernte, so vor drei Jahren, studierte ich im 5. Semester Deutsch und Philosophie und er im 14. Semester Medizin. Das hat mich schwer beeindruckt, weil ich nicht mal ein Heftpflaster richtig festkleben kann oder die Packungsbeilage von Ohropax verstehe, und vor allem weil er in die Entwicklungshilfe wollte. Nach Afrika. Da wollte ich natürlich mit. Afrika: Elefanten, Löwen, sengende Hitze, Menschen, die einen wirklich brauchen können. Zumindest Georg, dachte ich.

Tante Eia sagt immer: »Dat Liane hat ene Helferknall, nur nit wenn’s ums Spülen geht.« Warum auch? Mit Geschirrspülen kann man schließlich keine Menschenleben retten. Konnte Georg, mein Medizinmann, allerdings nach dem 20. Semester auch noch nicht. Weder Menschen retten noch spülen. Und weil ihn das so furchtbar deprimierte, blieb er einfach zu Hause. Bei mir zu Hause, um’s genau zu sagen. In meinem Bett, was mir anfangs auch sehr gut gefiel, denn zumindest zwischen den Lotterlaken bewies Georg bemerkenswertes Durchhaltevermögen, und Sex ist so ziemlich der größte Spaß, den man haben kann, ohne dabei zu lachen. Aber Georg war nicht deswegen bei mir, eher aus wirtschaftlichen Gründen. »Das kommt uns billiger«, sagte er, kündigte seine Wohnung, und wir lebten gemeinsam in meinem 26-Quadratmeter Wohnklo mit Kochplatte im Bücherregal. Da qualmten Hegel und Goethe die Füße, wenn ich Spiegeleier in die Pfanne schlug. Die Spiegeleier und die Miete zahlte ich, von meinen Briefträgereinkünften und so. Georg war so deprimiert, daß er gar nicht arbeiten konnte. Tat mir anfangs auch furchtbar leid.

Ich meine, so zehn Jahre studieren und am Ende sogar zu blöd zum Taxifahren. »Ich kann mir so viele Straßen nicht merken.« Bis mir aufging, daß Georg vielleicht nicht zu blöd, sondern zu bequem war. Nicht nur zum Taxifahren. Oder kann man zu blöd sein, um einen Mülleimer runterzutragen? Georg meinte, er sei halt schrecklich deprimiert, und ob ich ihn denn wirklich mit so ’nem Alltagsscheiß noch mehr runterziehen müsse: »Du verdienst doch genug.«

Ich würde mal sagen, die Situation schmeckte wie Kaffee verkehrt, und ich mag keinen Kaffee verkehrt, mit viel Milch, wenig Kaffee und lauwarm. Ich mag ihn schwarz und heiß und süß. Mit Temperament eben, und das brach dann endlich in mir durch. Kinder, so schnell ist bei mir noch keiner rausgeflogen. Obwohl Tante Eia fand: »Da haste aber lang aufer eijenen Leitung jestanden Liane. Dä hät sojar Schweißföß jehabt.«

Das riecht man im Anfall von Verliebtheit halt nicht, da findet man so Typen schlichtweg dufte. Ich jedenfalls. Oder mit meiner Nase stimmt was nicht. Passiert mir aber nicht noch mal. Geschworen. Ist mir danach auch nur noch einmal passiert. Nur für drei Wochen. Tante Eia nennt so was »en Fistanöllchen«. Das gilt eigentlich nicht, weil es nur ein Boogie-Woogie der Hormone ist, ein kurzer Gefühlsschnupfen, bei dem man dringend zu zweit ins Bett muß. Mich befiel diese Krankheit gemeinsam mit einem abgebrochenen Philosophiestudenten, der sich nach einem Semester gehobener Schwafelei wieder der Praxis zuwandte und samstags nachts Rosen vom Friedhof klaute, die er sonntags an Mutti- und Großmuttibesucher kurz vor der Autobahnauffahrt Essen-Kupferdreh verkaufte. Besser gesagt, ich verkaufte sie, weil er sich nach der anstrengenden Nachtarbeit ausruhen mußte. Als ich rausfand, daß er das ab und an bei meiner Wohnklo-Nachbarin tat – bei Patricia, der alten Schlampe –, mußte ich ihn auch rausschmeißen. Und Patricia habe ich noch ein paar geklaute Rosen im Topf geschenkt – voll Blattläuse. Auf ihrem Balkon sah es nach zwei Wochen aus wie in der Wüste Gobi. Und in meinem Herzen auch, bis Papa Seil meinte: »Komm doch einfach zurück, die Wohnung ist groß genug.«

Stimmt. 130 Quadratmeter mit Garten. Da paßte meine Wohneinheit locker dreimal rein, und Papa nimmt nicht viel Platz weg.

Trotzdem ist das natürlich nichts auf Dauer, ich sehne mich nach einem Kerl, der weder studiert noch Rosen klaut und auch keine Schweißfüße hat. So was muß es doch geben. Und zwar schnell, bevor ich in dieser Oldie-WG noch zu einem Monster in Angorawäsche und Stützstrümpfen mutiere. Dazu immer wieder die Anrufe von meiner sogenannten Mutter, die unbedingt meine beste Freundin werden möchte. Pah, dann lieber Saddam Hussein als Seelentröster. Die Familie Seil ist ein Synonym für komplett verrückt.

Deshalb schreib ich jetzt auch alles mal auf, um Klarheit zu bekommen. Meine schlanke, ranke Mutter ist nicht gerade ein Paradebeispiel für fürsorgliche Weiblichkeit und hat einen ziemlichen Knall Richtung indische Lebensform. Kommst du heut nicht, kommst du morgen, und abends gibt es Hammelohren in Ingwersoße.

Mein Papa ist kein Paradebeispiel für einen glücklichen Journalisten. Wahrscheinlich liegt das an unserer deutschen, hauptsächlich tragischen Kulturszene. Weshalb ich mich nach meinem Studium der sehr deutschen Literatur und Philosophie zwar auch für den Journalismus, aber gegen zuviel Kultur und ganz rigoros fürs Triviale entschied.

Für eine Boulevardzeitung – das sind die mit den großen, augenfreundlichen Überschriften und den Massageanzeigen im Mittelteil. »Saunaclub verwöhnt einsame Herren. Gern auch bizarr.«

Im Ressort Vermischtes – internationales und überregionales Verbrechen, königliche Hoheiten, Show, Kochtips und nackte Miezen – bin ich zur Zeit Volontärin, also Lehrling. Wobei volontieren, glaube ich, von volére oder so, also von wollen kommt, und das ist bei mir nicht immer der Fall.

Ooops, da kommt der Chef, mit zehn Kilometer Agenturfahnen. Wo, lieber Macintosh, ist verdammt noch mal die Paniktaste. Muß ja nicht jeder mitkriegen, was ich hier in meiner Mittagspause so treibe.

Liane ließ ihre Finger über der Tastatur schweben, dann stach sie mit beiden Zeigefingern auf die bewährte Tastenkombination nieder. A und q, für quit. Der Bildschirm wurde schlagartig schwarz, keine Sekunde zu früh, denn Drillinger stand schon neben ihrem Schreibtisch.

»Hier kümmer dich mal um diese Geschichte. Ein Kölner Arzt hat ein Mittel gegen Krebs entwickelt. Einen ziemlich unbekannten Krebs, könnte aber spannend sein.« Burkhard Drillinger legte eine Agenturmeldung auf dünnem Telex-Knisterpapier vor Liane hin. Sie krauste die Nase. Krankheiten, besonders tödliche, interessierten sie nicht besonders. Der Chef quittierte es mit einem Stirnrunzeln. »Ein bißchen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Krankheiten laufen immer, wird gern gelesen.«

Liane konnte das nicht recht verstehen, griff aber gehorsam zu der Meldung und suchte dann die Nummer des Lehrstuhls für Krebsforschung an der Universität heraus. Burkhard Drillinger verteilte weitere Meldungen und Agenturtexte an andere Kollegen. Darunter »Michael Jackson zieht in Elvis Presleys Haus«, »Zu fett, amerikanischer Ehemann erstach seine Frau«, »Lady Di, bald Ehe mit Prinz Albert von Monaco?« »Sex im Brummi – Massenkarambolage«. Ein üblicher Tag, die Mischung vielleicht etwas zu weich, sinnierte Burkhard Drillinger.

Was fehlte, war ein richtig harter Stoff. Ein vierfacher Mord, möglichst in der Nähe, ein weiteres Attentat der japanischen AUM-Sekte oder eine Schiffskatastrophe mit deutschen Urlaubern an Bord. Aber so was gab’s nicht jeden Tag, und sein Mann für die harten Fälle hatte leider selber Urlaub.

Ob er die kleine Seil mal auf die Blutspur setzen sollte? Einen Versuch war’s vielleicht wert. Schreiben konnte sie recht flott, zwar war sie etwas kraus im Kopf und vielleicht ein wenig zu gefühlsbetont. Zu zart besaitet. Das allerdings machte sie formbar. Gutes Material. Gut, manchmal wurde er wirklich etwas laut, aber das war in diesem Geschäft nun einmal üblich, und Burkhard Drillinger kannte das Geschäft gut. Fast vierzig Jahre Boulevard. So was prägt, da brauchte man Biß. Nach oben und nach unten, sonst war man schneller weg vom Fenster als Michael Schumacher von der Startlinie.

Okay, er würde es mit der kleinen Seil und einem Mord probieren. Obwohl sie von Seiten ihres merkwürdigen Vaters wohl kaum Talent fürs knallharte Detail mitgebracht haben konnte. Kulturjournalist. Burkhard Drillinger hatte kein Verständnis für Kulturjournalisten. Zu geringer Unterhaltungswert, schreibfaule Schöngeister, keinen Sinn für Aufmacher. Und welcher Leser wollte schon Kultur? Seine bestimmt nicht.

»Hier Liane Seil, spreche ich mit Doktor..., oh, Entschuldigung mit Herrn Professor Doktor Moos. Schön, daß ich Sie dranhab. Sie haben ein Mittel gegen den, wie heißt das noch?... Genau gegen den Vasiomuskularschrumpfkrebs entdeckt.

Klingt sehr interessant... findet mein Chef.

Könnten Sie uns da etwas mehr darüber erzählen?... Nein, nicht in zwei Wochen. Ich meine, das hier ist eine Tageszeitung. Ich meine, wir müßten schon heute... Ja, ich verstehe. Ich meine, nein, natürlich verstehe ich nichts, ich bin ja Laie, aber könnten Sie nicht trotzdem?.. Ja. Ja.

Ach so. Sie meinen das ist eine Mäusekrebsart. Aha.

Ja. Ich meine, nein, das ist dann nicht mehr so interessant... Sind Sie denn sicher, daß nur Mäuse... Ja, ja. Also, Sie sind da ganz sicher. Ich meine, kein menschliches Opfer. Ach so. Auch nicht in Zukunft? Mmmh, völlig ausgeschlossen. Verstehe.

Na dann kann man nichts machen. Ja, auf Wiedersehen, Herr Doktor, äh, Herr Professor Doktor Maus, äh Moos.«

Liane legte entnervt den Hörer auf die Gabel. So ein Mist. Sie hätte die Agenturmeldung vorher doch besser ganz lesen sollen. Verstohlen ließ sie ihre Augen durch das Großraumbüro kreisen und atmete erleichtert auf. Die meisten Kollegen schienen zu telefonieren. Das Zischen der Kaffeemaschine übertönte ihre Gespräche, wahrscheinlich hatten sie diese peinliche Recherche also nicht mitbekommen.

Man mußte höllisch aufpassen bei den lieben Kollegen, weil die eben Journalisten waren und alles direkt weitermeldeten, was sie so mitbekamen, besonders gerne Schiefgelaufenes bei anderen Kollegen. »Die Seil ist ja so was von unfähig« oder »die ist zu blöd ihren Namen zu schreiben« oder »die Seil kann einem wirklich leid tun«. Die Konkurrenz schlief nicht.

Blieb noch der Bußgang nach Canossa zum Chefschreibtisch.

»Äh, Herr Drillinger, den Krebs gibt es gar nicht.«

»Blödsinn, was soll der Quatsch, steht doch in der Agentur.« Drillinger schaute die aufmüpfige Volontärin strafend über den Rand seiner randlosen Brille an.

»Äh ja, aber es handelt sich um eine seltene Krebsart bei Nagetieren.« Liane hauchte das sehr schüchtern hin. Der Mann in den zu engen Jeans und dem Synthetikpullover war eben Chef. Und Chef ist Chef.

»Ein einziges Telefonat und Sie geben auf? Was hat das noch mit Journalismus zu tun. Finden Sie gefälligst einen Experten, der bestätigt, daß dieser Krebs Menschen tötet.«

»Ich habe gerade mit dem einzigen Experten für diese...« Liane duckte sich vorsichtshalber, trotzdem traf sie das Donnerwetter mit voller Breitseite.

»Himmel noch mal. Das muß ich mir ja wohl nicht anhören. Seit einem dreiviertel Jahr sind Sie jetzt hier. Schon mal was von Recherche gehört? Das ist ein Riesenthema. Ein Riesenthema, verstehen Sie. Wir sind hier nicht bei einem medizinischen Fachblatt. Krebs ist Krebs, kapiert!«

Was hatte das noch mit Journalismus zu tun, fragte sich Liane. Natürlich nur so im stillen.

Burkhard Drillinger wußte sehr genau, daß er unrecht hatte, aber andererseits genoß er die Rolle des gestrengen Chefs zu sehr, um sie jetzt mal eben so fallen zu lassen. Rechthaben war sein Privileg. Er hatte es sich hart erarbeitet. Und was hieß schon im unrecht? Er war schließlich seit vierzig Jahren dabei, hatte schon ganze Journalistengenerationen zurechtgestutzt und ungespitzt in den Boden gerammt. Wie gesagt. Man brauchte für dieses Geschäft einen Beißinstinkt und wenn er einer Volontärin recht gäbe, könnte er ja ebensogut selber wieder ganz von vorn anfangen.

Liane wußte, daß sie Volontärin war und als Volontärin selten recht hatte, das stand sozusagen im Ausbildungsvertrag, »und haben sich den Redaktionsabläufen und -gepflogenheiten anzupassen«.

Wie lästig, jetzt würde sie wieder einmal für eine Stunde ihre eigene Büronummer anrufen müssen, um mit dem Besetztzeichen über eine seltene Krebsform zu diskutieren und so eine intensive Recherche vorzutäuschen. Alter Journalistentrick – in Großraumbüros. Liane kannte ihn von Schmöller, in solchen Dingen konnte man vom Chefreporter und Klondike-Meister einiges lernen. Laut sagte sie nur:

»Okay Chef, ich mach mich ran. Aber haben Sie nicht noch was anderes?«

Das klang doch nach echtem Arbeitseifer.

Drillinger – mit seinem Biß zufrieden – brummte einlenkend. »Okay, wenn Sie damit durch sind, können Sie sich in die Di-Geschichte einlesen und unseren Korrespondenten in London wegen mehr Material anrufen. Das ist was für Sie, ’ne hübsche Herz-Schmerzgeschichte, wenn ich bitten darf. Aber erst, wenn Sie durch sind, verstanden.«

Liane hatte verstanden. Eine Viertelstunde vorgetäuschte Recherche in Sachen Mäusekrebs genügte, danach konnte sie sich endlich ihrem Lieblingsthema widmen: The Royals. Klatsch fand sie einfach königlich. Drillinger schaute dem zierlichen Persönchen mit den sehr selbstbewußten Locken mit einem fast nachsichtigen Lächeln hinterher. Hübsch war sie ja und pfiffig, geeignet für Promi-Stories, bißchen Tratsch und Jetset. Eine künftige Yellow-Prinzessin. Trotzdem, er würde sie auf die harte Schiene setzen. Boulevard war schließlich nichts für lenorgespülte Seelen. Nur wer bereit war, ein Krokodil zu küssen, konnte in diesem Job überleben.

Und das Krokodil bin ich, dachte Drillinger und entblößte zweiundzwanzig echte und zehn künstliche Zähne. Susi Pottkämper verschluckte vor Schreck einen halben, unzerkauten Keks und unterhielt den Rest der Redaktion mit einem überzeugenden Erstickungsanfall. Drillinger drehte entnervt die Augen zur Decke. »Bleiben Sie demnächst bei Joghurt«, brummte er, während seine Sekretärin puterrot wieder zu Luft kam.

Casanovas küsst man nicht

Подняться наверх