Читать книгу Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner - Страница 10
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ОглавлениеDas Programm Wandlitzer Allee 32: Rettung der Seelen lief an. Was kann ich, wie viel bin ich zu geben bereit?
Ich spürte, dass ich allein war. Ja, es war meine Entscheidung, diesen Weg zu gehen. Mehr als scheitern in den Phasen des wirklichen Lebens und den Zwischen-Lebenszeiten kann man nicht. Ich hoffte, ich sei ein Kämpfer. Mit dem Blick eines Menschen mit Fantasie war ich zu allem bereit. Ich machte Kassensturz: Konto und Sparbuch 18.000 Mark, dazu der Dispo von 4.000, machte zusammen 22.000 Mark. Markus, damit kannst du kein Haus ausbauen, das reicht nicht, du musst auch an die laufenden Ausgaben denken! Ich wurde wütend. Wie der mit mir sprach – als wäre ich ein Schuljunge!
*
Ich besuchte Erika, berichtete ihr von dem, was geschehen war. Sie staunte.
„Mein Junge, da haben sie aber wirklich einen Waggon voll Probleme! Ich kann ihnen, wenn Sie wollen, ein wenig helfen, aber nur, wenn sie mögen. Ich möchte ihre Kassenaufsicht übernehmen. Um Sie vor sich selbst zu schützen!“
Ich nickte. „Ist gut. Aber Sie haben mir schon so viel geholfen.“
„Ich habe doch keinen mehr auf dieser Seite des Lebens. Ich habe dadurch auch wieder neue Qualitäten des Lebens zu entdecken.“
Ein wolfartiger Gesang zog durch die Wohnung: Mein kleiner Prinz war im Land der Träume angekommen.
Eine Nacht lang, bei vielen Gläsern Rotwein, schmiedeten wir einen Plan. Wir hatten nichts zu verlieren. Die Zukunft war unser Ziel. Ja, wir konnten es schaffen!
*
Tage später klingelte es an der Tür. Es war schon spät.
„Mensch, Ralf Marloff, was treibt dich denn nachts durch die Stadt?“
Prinz stürzte sich auf den Gast, begrüßte den späten Gast auf seine Art.
„Ich bin gekommen, um dir als Bote einen Brief der Firma zu übergeben. Hier, unterschreib bitte den Zettel.“
Ich unterschrieb. „Muss ich den auch gleich lesen?“
„Nein.“
Wir redeten im Flur noch ein bisschen; Beklemmung spürte man schon ein wenig. Ralf machte sich auf den Weg, ein letztes Mal gaben wir uns die Hand – Abschied von der Vergangenheit. Hatten wir noch eine gemeinsame Zukunft? Ich wusste es nicht.
Im Zimmer öffnete ich den Brief. In kurzen Sätzen wurden meine Verfehlungen aufgeführt. Mir doch egal, Schnee von gestern, meldete sich mein Inneres. Plötzlich stutzte ich:
Des Weiteren möchten wir Ihnen mitteilen, dass die Fristlose Kündigung in eine Ihrem Vertrag entsprechende Kündigung umgewandelt wird.
Begründung:
Herr Ralf Marloff hat mir gegenüber glaubhaft erklärt, dass Sie sich in einer Notwehrlage befanden und sich gegenüber Herrn Zerner nur verteidigt haben. Aus diesem Grund haben wir die Kündigung umgewandelt.
Unterschrift der Geschäftsleitung
Dr. Quanterna
Personalaufsichtsrat
Ralf, alter Junge, das werde ich dir nie vergessen! Tränen der Dankbarkeit rannen über meine Wangen. Ich hatte jetzt viel Zeit, um meinem Ziel entgegenzuarbeiten – sechs Monate! Aus- und Umbau, der neuen Heimat entgegen! Tatendrang, Wagemut und Kämpferherz, eine gesunde Mischung, die alles Fragende zurücklässt, manchmal auch Bindendes. Es gab nur ein Ziel!
Mein Lebensmittelpunkt änderte sich, wanderte hinüber in die Welt des Handwerks – anders, aber nicht schlecht, das merkte ich schon nach kurzer Zeit. Programm bedeutet Organisation und Vordenken. Ich war in einem neuen Leben angekommen.
Im Keller strich ich alles weiß, der Boden aus Beton bekam einen hellgrauen Anstrich, ich verlegte Leitungen für Licht und Steckdosen.
Toll, im Baumarkt gibt ist alles, was die Arbeitshände so brauchen können!
Markus, ich finde dich manchmal ja gar nicht wieder.
Mein Inneres fühlte sich nicht mehr ganz gleichberechtigt, kam kaum mehr zu Wort – wie auch, so müde wie ich nun immer war!
Tage des Schaffens vergingen.
Am Samstag hatte ich den Keller fertig, die Heizung konnte eingebaut werden. Der Stromanschluss im Keller wurde durch eine Fachfirma angeschlossen und abgenommen. In einem Raum hinten links neben der Heizung zeigte der Elektriker mir, dass ich ab der Verteilerdose die elektrische Leitung vergessen hatte.
Beim Anbauen der Deckenlampe vergaß ich, den Strom abzustellen. Ein furchtbarer Schlag durchzuckte mich, als ich das Kabel berührte. Ein Unsichtbarer holte mich, ich kämpfte, aber meine Finger klebten an der Leitung, ich kam nicht von ihr los. Zitternd, in unsichtbaren Schmerzen, fiel ich ohnmächtig von der Leiter.
Ich sah mich selbst kalt am Boden liegend; schmerzendes Licht durchdrang meine Augen. Im Schleier des Vergehens sah ich plötzlich wieder die weißen Schleifen, die zum Zopf gebundenen roten Haare des Mädchens aus jener anderen Welt. Es kniete vor mir und seine grünen Augen schauten mich fragend an. War ich etwa auch schon dort, wo sie war? Sorgenfalten zierten ihre Stirn. Nein, Markus, du musst zurück in deine Welt! Dein Leben hier ist noch nicht gekommen!
Die feuchte Zunge und ein Fiepen mit Knurrlauten vermengt zeigten mir, dass ich noch auf dem Boden der Tatsache lag, wie kommst du hier her. Fragend entsagte ich mir diese Antwort, die Hände in meinen Haaren, grübelte ich der realen Welt entgegen. Hatte ich wirklich verstanden?
Du hast Mist gebaut, Markus, verdammten sogar, mein Alter. Willst du mich etwa umbringen?
Er war auch wieder voll im Einsatz, Strom kann auch Leben retten, ha, ha.
Vorsicht wurde ab jetzt mein Begleiter. Die Möglichkeit weiterer Unachtsamkeiten ließen mich weniger sorglos arbeiten als zuvor.
Wochen vergingen, Monate. Die Zeit war eine Reise von einem Baumarkt zum anderen; hinter mir brummte Bullys Boxermotor im Heck. Mein Heim erstrahlte Raum für Raum in neuem Glanz. Keller und Obergeschoss waren bald fertig, die Heizung mit einem 300-Liter-Speicher baute ein alter Freund mir ein.
Ich war voll Tatendrang. Erika bremste mich vorsichtig: „Pass auf, das Geld wird langsam knapp!“
Hörte ich ihre mahnenden Worte? Ich wollte weiter, sie nicht. Bremsspuren überall um mich herum!
Es wurde Oktober, die Nächte merklich kühler. Manchmal zweifelte ich, dann aber kippte ich die Karre mit meinen Sorgen einfach beiseite. Gut so, Alter, das gefällt mir, wie dein Dickschädel mit dir im Clinch ist! Dieses Lachen – Schadenfreude, oder? Nein, Markus, bestimmt nicht.
*
Ein lauer Oktobertag; die rote Sonne schimmerte, die Fenster glänzten. Ich war auf dem Weg zu Besorgungen. Bully sprang sofort an, keineswegs die Regel. Er war eben in die Jahre gekommen.
Für das Erdgeschoss wurden mir von meiner strengen Buchhalterin Erika letztmalig tausend Mark bewilligt – nicht gerade viel, aber auch nicht schlecht! Dennoch: Ich sah schon die Sorgen auf mich zukommen – Verdrängung nennt man das wohl.
Weiter, immer weiter ging ich den Weg der Fertigstellung meiner neuen Heimat. Der Umzug rückte heran. Meine alten Nachbarn waren traurig, mich verlassen zu müssen.
Im Baumarkt war es heute voll. Ich ließ Prinz im Wagen und machte mich daran, Objekte und Armaturen für das Gästebad zusammenzustellen. An der Kasse war Gedränge; überforderte Kassiererinnen motzten die Kunden an.
Meine Kassendame war eine füllige, etwa Dreißigjährige mit schlecht gefärbtem Haar. Mein Gott, dachte ich, sieht das Scheiße aus!
Ich stellte mir vor, sie fordere mich zum Tanzen auf, du aber bitte nicht …
Lass das!
Sie stellte sich wirklich blöd an: Die Ware lag auf meinem Wagen und sie tanzte mit dem Lesegerät um den Wagen herum, um die Preisschilder zu finden. Ich hielt mich schön heraus. Sie schnaubte und prustete. Toll, wie sie das machte, das WC-Becken zu drehen, um den Preis zu finden: Ihre fleischigen Wurstfinger befühlten das Etikett. Ich sah es, na und? Die Schlange wurde länger und länger: ich war in einer guten Position, sie nicht. Endlich, geschafft! Die Dame wollte von mir 685,25 DM. Ich forderte eine Rechnung. Schweißperlen an ihren Nasenflügeln, ihr flauschiger Oberlippenbart sog sie genüsslich auf. Ich sah in ihre Augen, sie waren nicht freundlich.
Sie findet dich scheiße, Markus. Du hättest ihr doch helfen können! Warum? Ich bin Kunde, nicht sie! Na, wieder dieser Machtausdruck „ich habe die Knete.“
Am Wagen zog ich die Schiebetür auf. Pass auf! Zu spät: Die Tür fiel mir auf die Füße. Seit Wochen schon war die Aufhängung kaputt gewesen. Bleibt so, dachte ich, dafür habe ich jetzt kein Geld. Mein Freund Prinz lachte mich an mit weitem Maul und hängender Zunge: Super, dass es endlich weiterging!
Die Straßen im Grau des Nachmittags, fuhr ich mit meinem treuen Bully los, mein Kleiner lag auf der Rückbank.
In der Müllerstrasse gab es einen Knall, der Auspuff flog vom Wagen. Mein Blick sah ihn noch gerade im rechten Außenspiegel verschwinden. Ich trat auf die Bremse, hielt, stieg aus und suchte die Straße ab. Schleifspuren von frischem Rost zeigten mir den Weg, führten mich zu einem U-Bahn-Eingang. Da lag das verbeulte Stück! Beim Zupacken spürte ich die Hitze der Arbeit, die es vor kurzem noch verrichtet hatte …
Los jetzt, weiter!
Ich packte den Auspuff in den Wagen und gab Vollgas. Laut knatternd überholte ich nach Atem ringende Bürger. Bully war in seinem Element: Mal richtig die Sau rauslassen!
Die Wandlitzer Allee lag im Dunkeln. Ich machte das Tor auf, der Wagen rollte auf seinen gewohnten Platz. Endlich Stille. Es roch nach Öl, Nebelschwaden stiegen aus der Bodenabdeckung, klar, ohne Auspuff kein Wunder – mein VW-Bus war eben in die Jahre gekommen!
Der Wagen war schnell leergeräumt. Wir hatten Hunger, machten uns etwas warm: Linsensuppe mit Würstchen, Hundefutter mit Hähnchen.
Los, an die Arbeit, Markus! Hör zu: Ich will mich nicht treiben lassen von dir! Ich bin der einzige, auf den du dich verlassen kannst.
Die Tage vergingen schnell, manchmal zu schnell. Aber ich hatte eben einen guten inneren Schweinehund – und Prinz.
Dann war alles fertig. Erdgeschoss, Obergeschoss, Garten und Keller erstrahlten in neuem Glanz. Ich war glücklich und lud meine alten Nachbarn ein, um ihnen mein neues Heim zu zeigen. Es war toll, sie herumzuführen, ihnen dies und jenes zu erklären. Erika schmunzelte durch ihre dicken Augengläser. Beim Abschied flüsterte sie mir ins Ohr: „Markus, du hast noch was vergessen!“
„Ich weiß.“