Читать книгу Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner - Страница 11

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In der ersten Dezemberwoche sollte der Umzug sein. Aber ich wollte nicht Abschied nehmen, nicht fertig werden; Bindungen, dick wie Stricke, die sich beim Zerschneiden lianengleich wieder erneuerten, hielten mich fest. Ich fühlte eine tiefe Dankbarkeit, unter dem Dach des Lebens Freunde zu haben, die mich so liebten, wie ich war – manchmal auch unmöglich. Eben gleich wie ich nun mal bin!

Dennoch drängte die innere Uhr: Mein Mietvertrag lief aus, ich musste raus. Beim Einzug in mein neues Heim versuchte ich, so schnell wie möglich fertig zu werden. Vieles verschwand rasch in den Zimmern; das Haus war riesig gegenüber meiner alten Bleibe. Prinz suchte sich den besten Platz: Er schlug sein Lager in der Diele zum Nebeneingang auf.

In der ersten Nacht leuchtete der Mond wolkenverhangen. Sterne glitzerten im Schleier der Vergänglichkeit … Schlaf, Markus! Ich war schon auf meiner Trauminsel angekommen, er noch nicht.

Träume suchten mich heim. Ich durchlebte noch einmal die letzten Monate und Wochen, rege Begegnung der Seelen der Vergangenheit. Mein Leben hatte neuen Sinn bekommen. Ich war ein anderer.

*

Ein paar Tage später schaute Erika vorbei. Sie hatte Briefe unter dem Arm. Auf den ersten Blick Rechnungen und anderes dummes Zeug.

„Ich glaube, Markus, es gibt Ärger!“

„Warum das denn?“

„Lies, dann verstehst du!“

Atemstillstand.

„Setz dich Markus, schau dir an, was ich meine!“

Scheibenkleister, darauf hätte ich auch kommen können: 14.500 Mark Grunderwerbsteuer – Grundbucheintragung! Ich hatte gepennt! Ich wollte alles zu schnell.

„Ich hab dir von Anfang an gesagt …“

„Langsam, Markus.“

Erika wusste genau, ich hatte verstanden – Bremsspuren. Unsere Kasse zeigte noch genau 6.500 Mark – mehr hatten wir nicht!

„Markus, du bist ab Januar arbeitslos, deine Bezüge brechen weg!“

Ich wurde rot. Verdammt, lebte ich in einer Traumwelt? Wahrscheinlich, Markus. He, ich möchte nicht immer von dir bevormundet werden!

Frieden hatte ich nun nicht mehr. Es begann ein Ritt auf einem Mustang, ungebrochen und wild. Meine Nächte, bislang ruhig und friedlich, kehrten sich um ins Gegenteil. Angst hatte ich, oh Mann, die als Banker verkleideten Plagegeier zogen ihre Bahnen um mich! Pläne mussten her, aber welche? Geld, dieser Moloch, verlangte nach mir und meiner Seele: Komm! Befriedige meine Forderungen, ich habe lange Arme, mir entkommt keiner! Banken mit ihren Geldeintreibern kreisten durch mein Gehirn. Sie marterten mich; meine Gefühle wurden stumpf, verfielen in Winterschlaf, Worte anderer verhallten im Raum der Zeit. Markus, vorwärts jetzt, es muss weitergehen! Ich wollte nicht. War zerrissen. Erika war meine letzte Instanz. In einer langen und kontroversen Runde öffnete sie mir einen Ausweg. Ich musste mir Arbeit suchen – aber wo?

Die Zeitachse begann sich neu zu justieren. Tagelang suchte ich in der Vergangenheit nach einer Lösung. Dieter, der aus der dunklen, vergangenen Jugend, Discofieber-Dieter, der verrückte Dieter, fiel mir ein. Ich hörte, er sei Installateur geworden: „Gas – Wasser – Scheiße.“

Gott sei Dank fand ich ihn schnell. Er erkannte mich nicht. Zeiten verändern die Hülle des Lebens. Es war gut, meine Fehler einfach erzählen zu können, ohne Wenn und Aber. Mehr als auf die Schnauze kriegen war bei ihm nicht möglich. Discofieber-Dieter war seinem Motto treu geblieben: Lachen hilft! Er bot mir schließlich an, bei ihm zu arbeiten – Bingo!

Es war eine schwere Zeit der Umgewöhnung. Einen neuen Job einfach nur ausüben ist es nicht; du musst ihn spüren und annehmen, nur dann wird etwas daraus. Ich wollte und konnte es – sechs Wochen Schnellkurs Löten und Schweißen, ich war ein Naturtalent! Die Lötspitze „6 - 9“ wurde mein Liebling, schnelle Bewegungen erlaubten mir viel. Ich war glücklich, nicht versagt zu haben. Für Markus und seine Seele ein Neubeginn.

In der Heinrich-Müller-Straße wuchs ein Neubau empor – meine erste Bewährungsprobe. Ich zauderte, Disco-Dieter nicht. Im Bauwagen ging es fröhlich zu und ausgelassen. Ich fühlte mich gut. Meine Ausgeglichenheit war zurück. Mein Prinz und auch Erika fühlten es. Ich auch. Lebenslust war mein Begleiter, lachend ging ich meinem Tag entgegen. Gute Erfahrungen soll man spüren und leben! Markus? Bist du noch bei mir? Ja doch. Du hast dich in der letzten Zeit so richtig wichtig gemacht. Ich wollte dich nicht stören, ich war nur begeistert. Veränderungen sind eine geile Sache. He, du bist ja gut drauf! Na, klar doch.

*

Montag unterschrieb ich meinen Arbeitsvertrag bei der Firma Peugaß. Ich als Schweißer – welche Veränderungen die Wege des Lebens machen können! Dieter stellte mir meinen Arbeitsort vor, einen großen Komplex.

„Hier entsteht etwas Neues für unsere Alten – für unsere Senioren, meine ich. Mal reingucken?“

„Klar, mach auf.“

Eine Tür zum Untergrund öffnete sich: Dunkelheit, spartanische Beleuchtung, Kriechkeller. Höhe: ganze 90 cm. Mein neues Arbeitsgebiet. Besprechungen an der Öffnung zur Unterwelt. Schock, Klaustrophobie, weiche Knie. Der Boden unter mir öffnete sich. Ich lächelte Dieter an.

„Ich dachte …“

„Dieter, meine Angst verstehst du nicht. Ich lächle aus Verzweiflung, nicht aus Freude!“

Eintauchen in eine unbekannte Welt: Rohrleitungen aus Kupfer, glänzend, kilometerlang, in verschiedenen Dicken, 15 mm bis 110 mm, durch Absperrventile unterbrochen, ungelötet. Na, mal sehen.

Tage im Reich der Unterwelt erwarteten mich.

„Montag in einer Woche fängst du hier an, Markus. Atze und Sauerstoffflaschen sind bestellt, nebst Schläuchen und Brenner.“

Ich nickte ihm zu. Aber ich fühlte Angst.

*

In der Nacht fingen die Alpträume an. Schweißnass wanderte ich durch unbekannte Räume, öffnete Türen, wanderte über nächtliche Treppen. Was ist es, was du suchst, Markus? Angstgeräusche erfüllten meine Seele. Was suchst du? Hör auf, mich mit deinen Fragen zu martern, ich kann nicht mehr!

Nasser Schlafanzug, kalter Körper. Prinz blinzelte mich an mit müden Augen.

„Komm, leg dich schlafen alter Knabe, mein innerer Schweinehund hatte genug!“

Ich hörte Worte – diese verstehen? Nein, nicht wirklich! Markus ist wieder auf seinem alten, schlimmen Trip. Drogenähnlich. Nein. Noch schlimmer.

*

Ein müder Samstag. Der Dezember war da. Verdammt warm draußen, Sonne, kein Regen, Südwestwind, leichte Brise. Tannenrauschen vor dem Haus.

„Guten Morgen, Prinz!“

Er wollte raus, ich nicht. Ich öffnete schlaftrunken die Hintertür zum 2000-Quadratmeter-Garten, Prinz tobte sich aus. Ich fühlte mich noch nicht danach, er war eben etwas verrückt. Kaffee am Tisch ist immer toll, den Blick in die Sonnenwelt gerichtet. Plötzlich war wieder Ruhe, stille in mir. Seltsam, Markus. Findest du? Ich führte meine Seele aus im friedlichen Zwiegespräch. Kein Streit, wie so oft. Wollen wir die Fenster weihnachtlich schmücken? Willst du? Schon, ein wenig. Na, dann los.

Ich holte die Kiste aus dem Keller, schmückte die Fenster, viel war nicht übriggeblieben, der Umzug hatte in meinem Weihnachtsschmuck gewütet, schade. Der Tag ging schnell dahin, die Nachmittagssonne verschwand im Schatten. Ich ging ins Bett, Stille lag im Raum, es fühlte sich gut an - diese Ruhe.

Plötzlich riss mich diese helle Stimme aus einer anderen Zeit: Komm. Das ist Sie mit dem roten Haar „Markus – Markus, hilf uns!“ Wer bist Du.

Herzrasen, Herzpoltern, Schwindel. „Was ist, warum ruft mich jemand, den ich nicht sehen kann? Wo bist du?“

„Ich bin hier, im Haus!“

Gedankenkreisen – Kloß im Hals. Schlaf, komm Markus! Nein, ich wollte nicht mit, lasst mich hier, „Ich möchte nicht mehr wandern durch das dunkle Brunnental.

Verzweifelt wankend verließ ich das Bett, mit wildem Haar rannte ich ins Bad. Kaltes Wasser ergoss sich über mich. Saukalt. Ich schrie mich aus: „Ist mir kalt, furchtbar kalt!“

Schwankend, dem gefühlten nassen Satan entsprungen, mit einem Badetuch die Kälte aus dem Körper reibend, kehrte langsam Wärme zurück. Plötzlich stand ich am Ende des Flures. Hier gab es noch immer kein Licht.

Dort, hinter der Rigipswand, war die Tür zu der anderen Welt. Ein Schaudern stieg an mir hoch, Markus lass das, dieser wilde Drang schob alles beiseite!

Den Arm erhoben, zum Schlag ausholend, sauste diese alte rote Feuer-Axt in die Trennwand. Ich hatte sie vergessen, verdrängt, jene andere Welt! Laut wurde es durch die Hiebe meiner Hände. Ja, gib es frei, weiter so, Markus! Dumpfer alter Kaffeegeruch drang durch die Tür dahinter mir entgegen.

Ein Haufen Schutt wuchs zu meinen Füßen. Prinz beobachtete mich; er setzte sich am anderen Ende des Flures auf sein Hinterteil.

Endlich hatte ich ein breites Loch geschlagen. Ein erster Blick durch die Tür, diese alte verräucherte Glasscheibe lag im dunklen Schattenland:

Dunkelheit. Ach ja, die Scheiben hatte ich seinerzeit ja mit weißer Kreide bestrichen, zum Schutz und gegen die Verwitterung!

Dunkelheit, ein Druck meiner Hand auf die Tür, knarrendes Geräusch der Scharniere, ungeölt. Ein leerer Raum. Prinz rannte hinein, ich hörte ihn fiepen, er wanderte in seine Vergangenheit – und dann wieder zu mir zurück. Seinem Fiepen folgend, lief ich in diese künstliche Nacht.

Stolpernd tastete ich mich durch den Raum, fühlte das Fenster. Die Flügel waren kalt, die Scheiben rau von der Kreide. Meine Fingernägel kratzten über das Glas, ein Lichtstrahl des neuen Tages drang hindurch, wurde stärker. Ich kratzte immer weiter, das Licht entfaltete sich, meine Hände schmerzten.

Hol dir lieber warmes Wasser, Markus, es ist Sonntag! Wenn du so weitermachst, wird dein erster Arbeitstag schmerzhaft! Schau auf deine Finger! Ich will dich nicht immer an alles erinnern müssen!

Ich schwieg, die Idee war gut. Das heiße Wasser bewirkte Wunder: Der Raum tauchte ins Jetzt. Reinigende Strahlen, staubbehangen das Gewesene. Ich fühlte: Es ist nicht sichtbar, aber da. Im Sonnenlicht an der Tür drehte ich den Schlüssel nach links. Sie öffnete sich nach innen. Ein Windhauch schoss an mir vorbei. Herbstblätter vermischten sich mit Wind.

Bis zum Mittag schuftete ich, dann hatte ich Hunger.

Nach dem Essen machte ich mich weiter an die Arbeit: Ein scharfer Besen für das Grobe, Wischwasser für den Staub der Zeit. Ein großer Raum, vierzig Quadratmeter, über mir die Pracht der alten Stuckdecke. Hinter einer Tapetenwand hörte ich ein dumpfes Geräusch. Mit dem Taschenmesser schlitzte ich die Tapete auf – eine verborgene Tür!

Das Schließblech war nicht mehr da, nur die kleine Öffnung der Klinke war noch zu sehen. Ich zog einen Schraubendreher aus der Werkzeugtasche. Als ich ihn nach rechts drehte, öffnete sich die Tür nicht, aber als ich mich mit der Schulter dagegen warf, sprang sie auf.

Ein dunkler Raum. Wo führte sie mich hin? Im Licht der Taschenlampe erblickte ich eine seit ewigen Zeiten schlafende Backstube: Spinnennetze, staubverhangen. Verdammt, Markus, das alles gehört dir! Zwick dich mal! Aua, ich bin doch da!

Ich schloss die Tür wieder. Alles langsam, mein Lieber.

Beim Blick zur Decke fehlten etwa vier Quadratmeter Putz. Die mussten mal rausgefallen sein. Komm, wir machen jetzt noch die Decke zu. He, alter Streber, es ist Sonntag, der erste Advent! Na los, komm schon!

Ich ärgerte meinen inneren Schweinehund, holte Leiter, Baustrahler, Rigipsplatten und Schrauben. Deckenreste rausschlagen, altes Stroh entfernen, Rigipsplatten anschrauben. Meinen Kopf als Stütze benutzend, versenkte der Akkuschrauber eine Rigipsschraube nach der anderen, fast fertig! Fugenfüller hast du vergessen, stellte ich fest.

Ein Schmerz durchzuckte mich. Der Akkuschrauber stürzte zu Boden, mein Blick erfasste die Situation sofort: Ich war gefangen an der Decke, eine verdammte Schraube hatte sich durch meinen Zeigefinger geschraubt! Es begann zu pochen wie der Briefträger mit einem Einschreiben vor der Tür.

Schmerzen verzerrten mein Gesicht, Angst durchraste meinen Körper, Blut tropfte auf mein Gesicht. Gefangen blickte ich der Nacht entgegen.

Meine Blase meldete sich zum Rapport: Bald konnte ich das Wasser nicht mehr halten. Auf der obersten Stufe der Leiter stehend, zitternd, ergoss mein Inneres sich warm plätschernd meine Beine entlang über die Schuhe. Die Flüssigkeit wurde vom alten Boden aufgesogen wie von einem Schwamm.

Schmerzen durchschüttelten meine Seele. Markus, hörte ich mich, mach was, du musst hier weg! Eine Ohnmacht kommt dich holen! Verdammt, nein, ich wollte nicht daran denken: Ich sah meinen abgerissenen Finger, angeschraubt an der Decke – und ich am Boden mit gebrochenem Bein, gestürzt aus vier Metern Höhe!

Ich versuchte, das Taschenmesser aus der Hose zu holen. Endlich, geschafft! Die Klinge, mit den Zähnen gepackt, öffnete sich aus der Griffschale. Pochende Schmerzen, Schaum im Mundwinkel, ein geschlagener Boxer in seiner letzten Runde, so schwankte und taumelte ich auf der Leiter.

Mein Messer setzte an zum Befreiungsschlag. Als die Klinge in den Kreuzschlitz drang, drehte ich nach links. Schmerzen durchzuckten mich bis in die Fußspitzen, Blut spritzte mir in die Augen. Fast blind war ich nun, mehr fühlend als sehend! Beiß die Zähne zusammen, altes Haus! Schreiend drehte ich das Messer dem Leben entgegen.

Prinz bellte wie verrückt, stützte die Vorderpfoten auf die Leiter, mein Gott, diese Schmerzen, wie eine Geburt zu neuem Leben! Es dauerte und dauerte, die Schraube drehte sich Windung um Windung aus dem alten Holz durch mein Fleisch.

Die Klinge war tapfer, obwohl sie sich schon verbog. Nicht brechen, bitte! Geschafft! Endlich! Mein Finger war befreit von der Decke des Grauens. Noch zwei letzte Umdrehungen, die verfluchte Schraube war mit Blut getränkt. Ich stolperte die Leiter hinunter, stürzte durch den Raum, zurück ans Licht, in meine Welt.

Ohnmächtig vor Schmerzen, fiel ich mit nasser Hose auf den Boden. blieb erst mal liegen, Taube Mattigkeit zogen mich in Ihre Momente.

*

Es wurde dunkel. Prinz, mein alter Freund, wärmte mich. Ich lag auf dem Boden zwischen Schutt. Etwas zog an mir vorüber; fast unwirklich spürte ich eine Berührung auf meiner Wange. Ich fühlte: Ich war behütet. Der Schmerz klopfte im Takt, aber nicht mehr so heftig, dass ich aus meiner Ohnmacht erwacht wäre. Ein Singen führte mich zurück ins Leben. Meine Augen öffneten sich schwer. Blut klebte in meinen Wimpern. Im Schleier des Lichtes sah ich sie neben mir sitzen – das kleine Mädchen aus der Vergangenheit. Ihre Augen lachten. Rote Haare, diesmal nicht zum Zopf geflochten, bildeten einen Lockenkopf. Ihr Lächeln sah mich.

Mein Blick ging an ihr vorbei zur Decke – Blut! Ich wusste wieder Bescheid. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie war immer noch da. Meine Gedanken, zum Wort des Sprechens verpackt, fragten sie: „Wo kommst du denn her?“

„Ich lebe hier im Haus meiner Eltern.“

„Du auch?“

Ich war sprachlos und griff nach ihr. Meine Hände gingen nicht durch sie hindurch wie vor einem Jahr. Ich wollte sie fragen, wie sie hieß; meine Gedanken wurden getragen ohne Worte.

„Ich bin Miriam. Und du bist der durchgeknallte Markus mit der schönen Stimme.“ Ein Lächeln von mir.

Was war nur geschehen? Wir verstanden uns.

„Markus, das war nicht geschickt von dir, dich an die Decke zu nageln! Es war ein Geschrei, furchtbar, du hast mir richtig Angst gemacht! Das hatte ich schon lange nicht mehr gespürt.“

„Tut mir leid, Miriam, ich habe mich sehr ungeschickt angestellt.“

„Schon gut.“

Ich versuchte mich aufzurichten, schwankte durch den Raum. Miriam folgte mir bis an die Tür.

„Komm mit.“

„Nein, Markus, ich kann nicht.“

Sie verschwand im Raum der Zeit.

Mir ist kalt, Markus! Ich ließ die Badewanne volllaufen. Heiß war das Wasser des Lebens; mein verletzter Finger pulsierte, schwoll an. Scheißfinger! Ich stieg aus der Wanne, ein warmes Frotteehandtuch umhüllte mich.

Prinz war nicht gut drauf, er mied meine Nähe.

Schließlich konnte ich die Schmerzen nicht mehr ertragen und ging zum Notarzt. Er legte mir einen Verband an und gab mir eine Tetanusspritze. Morgen, am Montag, sollte ich wiederkommen, zum Verbandswechsel.

*

Als ich zurückkam, lag das Haus im Dunkeln. Ich rief nach Prinz, er antwortete nicht. Komisch, dachte ich. Da zupfte es an meiner Hand.

„Prinz, verdammt - hast du mich erschreckt!“

Es zog mich in die Vergangenheit, dem „Blutraum“ entgegen. Ängstlich öffnete ich die Tür.

Mein Atem stockte. Die andere, ferne Zeit war wieder da. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, die erste Kerze brannte, sonst war Stille. Alles war, wie ich es vor einem Jahr gesehen hatte. Und ich konnte es fassen, berühren – eine reale andere Welt!

Ich packte den ersten Kaffeehausstuhl, musste mich setzen, befühlte meine Stirn. Fieber? Nein! Pochender Finger? Ja! Ich bin hier, bin angekommen.

Ungläubige Blicke führten mich durch den Raum. Ich stand auf, wanderte umher, berührte alles mit den Fingern: Furchen in den alten Eichenplatten zeigten mir das Leben, das einmal an diesem Ort pulsiert hatte. Der Verkaufstresen, die alte Kasse, die Schubkästen mit den Messingbeschlägen, die Spiegel, am Rande schon blind werdend – eine vergessene Welt lebte hier weiter. Ich bückte mich, öffnete einen Schrank – leer! Beim Schließen bemerkte ich einen weißen Zipfel an der rechten Seite im Schrank. Ich zog daran, aber es geschah nichts. Ich schlug mit der gesunden Hand dagegen und eine geheime Tür öffnete sich. Ein gerahmtes Bild und eine alte, dunkelblaue Kladde lagen dort verborgen. Ich schlug das Heft auf – Gräser, getrocknete Blumen, in Zeitungspaper eingeschlagen.

Lokal-Anzeiger der Reichshauptstadt/Montag, der 17. Mai 1920.

„Markus, du hast mein Geheimnis gefunden.“

Ich zuckte zusammen.

„Miriam, das hat mich jetzt wirklich zusammenzucken lassen!“

„Ich habe die Sachen schon vermisst.“

„Wer ist das da auf dem Bild?“

„Das bin ich, da war ich vier Jahre alt.“

„Ein hübsches Mädchen.“

„Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Du bist mein Goldschatz.“

Wir lachten, sie zeigte mir ihre Sammlung, erklärte, wo und wie sie alles gefunden hatte. Auf der nächsten Seite lag das gleiche Bild von ihr zwischen getrockneten Pflanzen – wie auf einer Blumenwiese liegend. Eine Seite weiter, zwischen der Judenkirsche, war ein anderes Bild eingefügt. Sie lachte.

„Das bin ich auch, mein erster Schultag.“

„Warum hast du die Bilder zwischen getrocknete Blumen gelegt?“

„Weil die nicht so vergänglich sind wie Menschen.“

Wir blätterten weiter, ich hörte sie lachen. „Das hier ist mein Vater, Gustav.“

Ich sah einen Mann, halb verborgen hinter einem Farn. „Warum denn so?“

„Weißt du, im Wald beim Blaubeersammeln, da habe ich mich immer versteckt! Vater und Mutter suchten mich.“

Auf der letzten Seite noch einmal das gleiche Bild mit einem kleinen Zweig, dazwischen Blätter und zwei Blüten.

„Warum ist dies hier anders, Miriam?“

„Ich habe sie vom Grab meiner Mutter. Ich wollte, dass mein Papa nicht mehr traurig ist.“

„Du, Miriam?“

„Ja, was ist?“

„Du bist ein tolles Mädchen.“

Sie lachte, wir lachten. Ich wollte sie in die Arme nehmen, doch sie wich zurück.

„Miriam, wie heißt dein Vater eigentlich?“

„Gustav Petach – meine Mutter Frida, ich“, erklärte sie Markus, „ich bin die Miriam-Magdalena. Mein Kosename ist Miri.“

„Ich habe euch gesucht.“

„Warum, Markus?“

„Monatelang – aber niemanden von euch gefunden!

„Wir sind in der anderen Zeit. Deshalb musste dein Suchen nach uns erfolglos bleiben.“

Ich schüttelte mit dem Kopf.

Unser Gespräch wurde lang. Nächte wurden zu Tagen und schließlich Wochen des Kennenlernens. Vertrauen wurde unser Herzschlag; unser Seelentakt stimmte sich aufeinander ein. Wie oft wollte ich sie in die Arme nehmen und drücken! Es blieb immer ein Abstand zwischen uns. Sie vertraute mir – aber ihre Seele war nicht frei. Sie war klein mit einem großen Herzen, ich war es „noch“ nicht!

Markus Blume führt dich durch die Zeit

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