Читать книгу Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner - Страница 7

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Der 21. Dezember 1991 begann mit der gleichen Gewalt wie der Vortag. Noch immer tobte über der Stadt ein Schneesturm. Die Menschen auf den Straßen waren schleichende Schatten.

Für mich ein Tag, an dem ich lieber im Bett geblieben wäre. Allein die Vorstellung, dass ich noch bis zum 24. Dezember arbeiten musste, machte mir das Aufstehen nicht gerade leicht.

Meine Wohnung war dunkel, trist. Ich hatte keine Lust auf Weihnachtsdekoration. In den Jahren davor war mein Wohnzimmerfenster immer festlich geschmückt gewesen. Dieses Jahr hatte ich dazu keine Stimmung. Ich fühlte mich leer, ausgelaugt.

„He, alter Junge, was ist mit dir los? Du bist schon fünfunddreißig Jahre auf dieser Welt, und deine Gefühlswelt ist die eines alternden Teenagers, dem gerade sein Idol gestorben ist! Verdammt noch mal, Markus, reiß dich zusammen, lass dich nicht hängen!“ Verschwinde, kümmere dich um deinen eigenen Kram. „Ich kann dich wirklich nicht verstehen, Markus!“ Schön, mein Herr. Ich musste selbst lachen bei diesem Gedankenspiel. Ist schon gut, ich werde mich bessern! „Na, geht doch, alter Junge!“

Zurück aus meinem Ich, führten meine Gedanken mich zu meinem Nachbarn – Jochen Lampe. Der hatte es besser als ich, seit sechs Wochen war er jetzt Rentner, seine Frau Gerda schmückte alles festlich. Sicher, ich mochte die leuchtende Pracht in den Fenstern. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, es selbst zu tun.

In unserem Haus lebten noch zwei andere Mieter: im Erdgeschoss Heinz Grahn mit seiner Frau Wilhelmine und im zweiten Obergeschoss unsere alte Dame, Fräulein Erika Grüneberg, schon seit 1932 hier ansässig. Ich glaube, sie war die erste Mieterin, die schon als Kind hierhergezogen war. Damals war es noch ein Neubau. Wir pflegten einen guten nachbarschaftlichen Kontakt zueinander. Jeder war für den anderen da, wenn es mal eng wurde.

Es wurde langsam Zeit, dass ich mich fertig machte. Es war schon wieder sieben nach acht, mein Bus fuhr in fünfzehn Minuten an der Ecke Lampesteig, Richtung U-Bahnhof Residenzstraße.

In den letzten Tagen war ich vergesslich. Beim Rausgehen ließ ich meinen Hut liegen, vergaß meine Handschuhe. Am Schlimmsten war es vor vier Tagen gewesen, da hatte ich meine Hausschuhe noch angehabt, als ich das Haus verlassen wollte. Heinz hatte hinter mir hergerufen: „Markus, du hast ja noch deine Hausschuhe an!“

Ich schaute auf meine Füße. „Scheiße, schon wieder was vergessen!“

Beim Hochrennen lachte Heinz mir hinterher: „Markus, renn nicht so schnell, sonst kommst du nicht heil zur Arbeit!“

In die Stiefel und weg war ich, mit großen Sätzen die Treppe runter auf die Straße, dabei riss ich fast zwei Leute um. Ich rief gerade noch „Entschuldigung“, dann war ich schon um die Ecke. Noch hundert Meter, Markus, dann hast du den Bus erreicht!

An der Haltestelle war kein Mensch mehr da. Ein Blick auf die Uhr sagte warum: fünf Minuten zu spät! Verdammt, warum war die Zeit seit einigen Tagen so gegen mich? Was ich auch machte, immer kam ich zu spät!

Der Schneesturm rüttelte mich, als wollte er mich für meine schlampige Tageseinteilung bestrafen. Ach, was sollte das ganze Gejammer? Mit hängendem Kopf machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum U-Bahnhof Residenzstraße. Die Minuten vergingen im Schneesturm wie Stunden; dreißig Minuten brauchte ich, um den kurzen Weg zurückzulegen. Einmal war ich kurz davor, mich auf die Nase zu legen. Beim Rutschen und Schlittern tastete ich nach etwas zum Festhalten: Mal war es der Briefkasten am Straßenrand, mal der Arm einer Person, die ich nicht kannte, im Sturm blind unterwegs wie ich. Ich hörte noch ihr Fluchen: „Pass doch auf, du alter Sack!“ Ich tat so, als würde es nicht mich treffen. Markus, nur weiter, noch ein paar Schritte, machte ich mir Mut.

Bevor ich das Ziel erreichte, riss mich das unaufhörlich fauchende Sturmschneegemisch wieder von den Beinen. Vor mir sah ich etwas Dunkles. Ich griff mit beiden Händen danach – eine Laterne. Ich rutschte bis auf die Knie an ihr runter. So ein blöder Tag! So langsam reichte es mir. In mir kochte es; am liebsten wäre ich den Weg zurückgeflogen: rein ins Bett und schlafen bis zum Frühling! Der Verzweiflung folgte auf den Fuß die Ermahnung meiner inneren Stimme: Aber nicht doch, Markus, ab zur Arbeit und kein Weg zurück!

Bei diesem Gedankenspiel meines Seelenfreundes lachte ich aus ganzem Herzen. Ich raffte mich auf, noch ein paar Meter, endlich war mein Ziel, die U-Bahn, erreicht! Ich fühlte schon die Wärme, die mir aus dem Schacht lockend entgegenkam, rannte die Treppe runter. Der Zug stand gerade noch, der Schaffner rief: „Einsteigen, bitte!“

Ein, zwei, drei große Schritte – im letzten Moment geschafft! Ich blickte mich um. Scheibenkleister, der Pöbel hat sich hier breit gemacht, keiner denkt an mich! Einen Platz bekam ich nicht, alles voller Menschen. Markus, ist doch egal, du bist noch jung, hast ja noch Kraft, sprach ich mir Mut zu.

In meinem morgendlichen Durcheinander fiel mir nicht auf, welch schöner vorweihnachtlicher Duft aus den Wohnungen bei mir im Haus in meine Nase drang.

„Komisch, ich stehe hier unter Menschen und spüre meine Nase nach Mandel und Pfefferkuchen suchen“, stehe mit meinen Gedankenbeinen im Treppenhaus.

Der Zug raste von einer Station zur nächsten. Nach der vierten verließen viele die Bahn. Ich sicherte mir erst einmal einen guten Platz. Meinen Nachbarn links musste ich ein bisschen beiseiteschieben – der hatte seine Tageszeitung mit beiden Armen ausgebreitet, als gehöre ihm der ganze Sitz. Er schaute mich grimmig an, als würde er sagen: Das ist mein Platz!

„Widerlicher alter Sack, dachte ich, du solltest dich lieber mal rasieren und deine Wäsche wechseln, hier riecht’s streng!“ Über meine inneren Worte bog ich mich innerlich vor Lachen, ich schmunzelte vor mich hin. Das hatte zur Folge, dass die Dame mir gegenüber, sie war so um die vierzig, mir freundlich zulächelte. Na, geht doch, Markus, lass die Aggressionen anderer nicht an dich ran, und der Tag wird gut! Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, was für ereignisreiche Tage vor mir liegen sollten.

Wie jeden Tag musste ich mehrfach umsteigen. Diese Prozedur spielte sich in meinem Inneren fast automatisch ab: Hier die Rolltreppen runter, da die Treppen wieder rauf, um den nächsten Zug zu erreichen. So kam ich immer, wenn auch mit etwas Glück, pünktlich an.

„Manchen Weg ging ich morgens schnell, ohne ihn zu kennen“. An anderen Tagen rannte ich wie irre, als würde eine Horde wilder Hunde mich durch die Stadt jagen. „Ja, ich hatte meinen Termin beim Grundbuchamt vergessen!“

Manchmal traf mich das, was mit meinen Aufträgen zusammen hing, wie eine Keule.

Schmutz und Dreck war meine tägliche Arbeit, sie begleiteten mich immer, Argwohn und Intoleranz waren meine Widersacher, auf Ämtern und Behörden vor allem.

„Hilfsbereitschaft war für diese Gattung Mensch ein Fremdwort.“

Als ich vor Jahren mit diesem Job angefangen hatte, wollte ich nach ein paar Tagen alles hinwerfen. Dann habe mich so langsam daran gewöhnt. So manches Mal versuchte ich, die Rätsel der Vergangenheit aufzudecken, um meinen Job gut zu machen, ein schweres Unterfangen an Tagen wie diesem! Momentan ging es mir ganz gut von der Hand; ich war wie ein Entdecker in einem fernen Land, der neue Wege sucht. Die ihm neues Wissen bringen, aber auch neue Fragen stellen – hier in meiner, ja, meiner Stadt Berlin. Hier treffen Wellen und Wogen aus allen Teilen des Erdballes aufeinander, keine Welle gleicht der anderen, mal leiser, dann wieder lauter brausen sie dahin, ja es ist gut so …

Der Weckruf der U-Bahn riss mich aus dem Land der Träume: Kochstraße. Ich stürzte aus dem Zug, rannte die Treppe rauf, die Zeit drängte! Nur noch ein paar Straßen bis zu meinem Arbeitsplatz, die Wohnungsgesellschaft BLW. Seit einigen Jahren war ich hier als Wohnungsbetreuer tätig – Hausverwerter, wie meine Arbeit intern genannt wurde.

Im siebten Stock angekommen, entledigte ich mich im Büro erst einmal meiner Sachen. Ich griff den Besprechungs-Aktenordner und ging ins Nebenzimmer. Dort saß mein alter Kollege Ralf Marloff, ihn kannte ich schon seit unserer Betriebs-Wirtschaftslehre, BWL, ein trockenes Studium. Er hatte die Aufgabe, sich um den Verkauf sanierter Wohnungen zu kümmern. Wie er mir mal verriet, auch nicht gerade sein Traumberuf, aber was sollte er machen? Er brauchte halt die Kohle, früh geheiratet, seine Frau war schon schwanger und gleich noch Zwillinge!

Eine schwierige Aufgabe also, aber Ralf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seit einem dreiviertel Jahr hatten wir einen neuen Vorgesetzten, Herr Jansen. Ich mochte den Typen nicht. Seine ganze Art war mir zuwider. Auf freier Wildbahn ging ich solchen Menschen aus dem Weg. Ich wollte mir doch nicht den Tag versauen! Aber hier im Job ging es eben nicht, ich versuchte, mich halbwegs auf ihn einzustellen – Augen zu und durch. Auch wenn die Angriffe Jansens manchmal ein wenig weit gingen – Ralf und ich blieben immer gelassen.

Täglich um zehn war Besprechung im zehnten Stock bei Jansen – der ließ vielleicht den Chef raushängen! Er guckte immer in die Runde, als wolle er unsere armen Seelen fragen: „Seid Ihr auch alle fleißig gewesen, habt Ihr für mich brav die heißen Eisen aus den Kohlen geangelt?“

Kein Lächeln lag dabei auf seinem Mund, seine stahlgrauen Augen schauten uns nur grimmig an. Ralf sagte einmal zu mir: „Entweder hat er einen großen Drachen zu Hause oder er verstellt sich nur, um seine Schwächen nicht ans Tageslicht gelangen zu lassen!“

Ich antwortete: „Was er macht oder nicht, ist mir egal, mit dem Typen will ich außerhalb meiner Arbeitszeit nie was zu tun haben!“

*

Ralf und ich betraten das Sitzungszimmer, die anderen Kollegen waren schon da. Ich hörte Jansen von vorn rufen: „Meine Damen und Herrn, es muss besser werden, nehmen Sie Platz!“

Dann ging das Ganze fast eine Stunde, so wie dieses Frage-Antwort-Spiel aus der Grundschule: „Wie weit sind Sie? Was haben Sie gemacht? Welche Strategie verfolgen Sie?“

Ralf fragte er: „Wie sieht Ihre Prognose für die nächsten Tage aus, Herr Marloff?“

„Ganz gut, Herr Jansen“, antwortete Ralf, „ich habe die drei Dachgeschosswohnungen fast verkauft! Notarbedingte Bereiche sind noch abzuklären, aber in zwei Tagen ist die Sache dann erledigt.“

„Mal was Erfreuliches an so einem Tag“, knurrte Jansen lakonisch.

So ging es weiter, ein Kollege nach dem anderen kam an die Reihe. Manch einer hatte einen roten Kopf und Schweißperlen auf der Stirn. Warum sie schwitzten, konnte ich nur zu gut verstehen: Jansen war ein Arsch, er nutzte wirklich jede Schwäche aus. In Gedanken versunken, hatte ich nicht mitbekommen, dass ich selbst längst dran war. Jansen hatte mich angesprochen. Ralf zupfte mich am Ärmel: „He, Markus, du bist dran!“

„Ja, bitte, Herr Jansen, was haben Sie auf dem Herzen“, lächelte ich ihn freundlich an.

Diesen naiven Satz konnte er nicht vertragen, ich sah eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

„Herr Blume“, bellte er mich an, „was ich auf dem Herzen habe, werde ich Ihnen ganz gewiss nicht sagen! Passen Sie gefälligst auf, wenn ich hier meine Arbeit mache! Schlafen können Sie zu Haus, ist das klar?“

„Verstanden, Herr Jansen“, rief ich. Bei diesem Typ kam man am besten weiter mit kurzen Sätzen. Ich hatte keine Lust, mich aufzuregen.

Jansen redete weiter. „Herr Blume, ich habe eine Immobilie vom Rathaus Pankow zur Bearbeitung erhalten. Seit mehr als zwei Jahren versucht das Amtsgericht, die Erben einer gewissen Familie Petach ausfindig zu machen. Sollen vor Jahren nach Australien ausgewandert sein. Es gibt hier wahrscheinlich niemand mehr von denen. Kümmern Sie sich mal um diesen Fall!“

Er warf einen halb zerfallenen Aktenordner vor sich auf den Tisch, den ich mir holen sollte. Wie immer war der Vorgang von seinem Büro keineswegs vorbereitet worden – alles war lose in die Akte geworfen. Jansens Sekretärin war selbst beim Laufen eine Bedrohung, eine absolute Null. Im Haus munkelten die Kollegen ohnehin, er habe sie nur zur seelischen und sonstigen Betreuung eingestellt. Wenn ich mir die Dame so ansah, musste es wohl stimmen …

Ich, der Pedant, der Ordnungsmensch, und dann dieses zerfallene Fragment! Es grauste mich schon, wahrscheinlich einen halben Tag an den Papieren zu arbeiten, um eine halbwegs arbeitsfähige Grundlage zu schaffen.

„Meine Damen und Herren, an die Arbeit!“, rief Jansen.

*

Beim Verlassen des Besprechungszimmers wünschte ich allen einen guten Tag. Auf dem Weg ins Büro holte ich mir eine Tasse Kaffee aus dem Automaten. Das Gesöff konnte man eigentlich nicht trinken, aber ich tat es doch immer wieder. Vor meinem Zimmer flog mir der Becher beim Öffnen der Tür aus der Hand, brauner Kaffeeschwall ergoss sich über die Mahagonitür auf den braunen Teppich. Na ja, man sah es eigentlich kaum … Was für ein Mist passiert mir heute wohl noch? Soll sich doch die Putze darum kümmern, mir reicht es jetzt!

Im Zimmer schmiss ich die Akte erst einmal in hohen Bogen auf den Tisch. Ich musste mich für ein paar Minuten entspannen, die Augen schließen. Dann fiel mir ein, dass ich ja noch eine Flasche Wasser im Schrank hatte. Dieses Gesöff aus dem Automaten konnte mir für heute gestohlen bleiben.

Ich trank Wasser, schlenderte im Büro herum, sah aus dem Fenster. Ich hatte keine Lust, mit der Akte anzufangen. So gingen die Stunden dahin. Auf einmal kamen mir meine verflossenen Liebschaften in den Sinn. Alle Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, waren nach ein paar Wochen wieder ausgezogen. Im Grunde hatten Sie ja recht gehabt. Immer abwesend, nie Zeit, meine Gedanken immer dabei, andere Dinge zu klären, und die zwischenmenschlichen Beziehungen stets aus den Augen verloren.

„War schon okay, ihr Verhalten mir gegenüber.

Das hatte ich ihnen aber natürlich nicht erzählt; nach meiner Auffassung wäre es eine Bloßstellung gewesen. Nur ich muss wissen, was gut für mich ist. Ich brauche diesbezüglich all meine Kraft! Ha, ha, ich lachte selbst über meinen frauenfeindlichen Spruch.

Markus, mach dir nichts vor, du bist einsam, hörte ich meinen inneren Freund rufen. Ich habe meine Arbeit, basta, keilte ich zurück.

„Petach/Australien“ also war mein neuer Fall. Ich schaute aus dem Fenster. Überall weihnachtlich leuchtende Scheiben, glänzend in allen Farben. Ich seufzte und wandte mich wieder meinem Bürostuhl zu. Meine Hände umfassten die Lehne. Diesen Stuhl hatte ich schon ein paar Jahre, er war mir bei der Besichtigung einer alten Liegenschaft ans Herz gewachsen. Ich hatte ihn mitgenommen und von einem Polsterer aufarbeiten lassen. Wenn ich auf ihm saß und meine Arbeiten verrichtete, fühlte ich mich wohl. Meine Blicke streiften wieder die vergilbten Unterlagen. Minutenlang verharrte ich in dieser andächtigen Stellung, als ob sich eine Aura bilden würde um mich und um die alten Seiten, die da vor mir auf der Tischplatte lagen.

Nach meinen inneren Unterredungen meldete sich endlich Interesse in mir an der Geschichte. Eigentlich gar nicht uninteressant, dieser Fall! Ich musste sofort an die Akte aus Pankow! Seite für Seite durchforschte ich die Papiere, aß dabei mein Pausenbrot und trank wie immer meinen obligatorischen halben Liter Fruchtsaft.

Nachdem ich mich mit den Unterlagen etwas vertraut gemacht hatte, schrieben meine Hände eine Liste der zu klärenden Punkte auf. Ich fange meist mit dem Grundbuch an und setze meinen Weg dann systematisch in die Vergangenheit fort. Irgendwie ist es doch erstaunlich, welche Schaffenskraft der Mensch zu erreichen vermag.

„Komisch, der eine sucht den Weg, allem aus dem Weg zu gehen“. Andere suchen ihr Heil im Streit und Zerwürfnis. Der Dritte ist mehr mein Naturell: Er sucht nach dem verborgenen Schatz. Natürlich nicht den materiellen, nein, dazu ist die Zeit zu schade. Er sucht nach dem, was uns auszeichnet, nach dem Spürsinn, der kleinen Trüffelnase.

Das ist unser Lebenselixier, das lässt uns Freiraum, um von dem Alltäglichen Abstand zu bekommen. Ja, das ist es, was wir suchen, kleine Trüffelsucher in dieser Stadt …

Nachdem ich mir die Eckdaten zusammengestellt hatte, wollte ich mir am nächsten Tag das Grundstück in Pankow ansehen – natürlich nur, wenn der Sturm sich gelegt hatte und ich in der Lage war, den Ort sicher zu betreten. Denn in Gefahr wollte ich mich nicht begeben, dazu hing ich doch zu sehr an meinen Leben.

Wie es aussah, war der Tag fast zu Ende. Die ersten Kollegen verließen ihre Büros. Ralf und ich waren fast immer die Letzten. Heute saßen wir gegenüber von unserem Büro noch ein bisschen im Café und unterhielten uns über die Dinge des Lebens.

*

Ralf brauchte nichts mehr einzukaufen; er hatte für seine Familie schon alle Geschenke beisammen.

„Und, Ralf“, fragte ich ihn, „wie sieht es bei dir aus? Gehst du zu jemand Heiligabend?“

„Nee, ich bleibe zu Haus und werde mich mal so richtig ausschlafen.“

„Was, du besuchst keine Bekannten?“

„Nein, Ich habe dir doch gerade gesagt, ich bleibe zu Haus.“

Als ich durch die Scheibe nach draußen guckte, bemerkte ich, wie Ralf mich anschaute. Er schüttelte den Kopf. Ich tat so, als ginge es mich nichts an.

Wir gönnten uns noch einen Milchkaffee und einen kleinen Kuchen. Draußen schneite es unaufhörlich; der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Nachdem wir ein Glas Barolo getrunken hatten, verließen wir gegen halb sieben das Kaffee. Ralf lief zum Bus. Er brauchte nur drei Stationen zu seiner Wohnung.

Die Akte Petach, die ich für morgen in meine Tasche stecken wollte, suchte ich vergebens. Meine Aktentasche war leer. Ein heißer Blitz durchfuhr mich: Ich hatte sie auf der Heizung im Büro liegengelassen! Also wieder zurück ins Büro. Im Haus war keiner mehr – nur Norbert, der Hauswart. Er wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte ein paar Mal kräftig.

„Ja, wer stört mich beim Abendbrot?“

„Ich bin es, Markus!“

„Mann oh Mann, nicht du schon wieder! Warte, ich komme runter!“

Der Sturm schüttelte mich vor dem Eingang durch; die Zeit wollte nicht vergehen. Ungeduldig stand ich vor der Tür – wo er wohl blieb? Es vergingen nur Minuten, bis der Hauswart an der Tür war, aber durch das missliche Wetter wurde die Zeit ellenlang.

Norbert und ich fuhren mit dem Fahrstuhl ins zweite Geschoss. Hier trennten sich unsere Wege. Der Fahrstuhl summte leise bis zum siebten Geschoss. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Büro. Ich schloss die Tür auf. Im Halbdunkeln fiel mein Blick auf die Heizung. Hier lagen die Unterlagen.

Beim Einpacken der Akte fiel ein alter Schlüssel aus einem kleinen Seitenfach auf den Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn in die Aktentasche und machte mich endlich auf den Heimweg.

Minuten später saß ich entspannt in der U-Bahn. Auf einmal fiel mir der Schlüssel ein. Ich stellte mir vor, morgen in der Frühe in Pankow im Schnee zu stehen, keinen Schlüssel dabei. Das wäre für mich ein Grund gewesen zu hinterfragen, ob das, was mir so alles unterlief, noch ganz normal war. Ich brachte meine Gedanken schnell auf einen anderen Weg und dankte dem Zufall, dass ich meinen Weg noch mal über das Büro genommen hatte.

In der U-Bahn war nicht viel los. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen mit vollen Taschen. Die hatten bestimmt viel Geld für Weihnachten ausgegeben. Ich fühlte Ruhe in mir und diese quirlige Gelassenheit, Menschen zu taxieren. „Ich bin ein Meister in meiner Welt, Markus, eben.“

„Mir gegenüber saß ein Mann, der diese Zeitung zwischen seinen fetten Fingern hielt“. An der linken Hand trug er einen übergroßen Ring mit einem Löwenkopf mit roten Augen. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Als ich meine Augen auf seine Schuhe lenkte sah ich, sie waren voller verkrustetem Dreck. Schlampe!

Ich versuchte, mit meinen Blicken die Zeitung zu durchdringen, um in das fette Gesicht dieser Type zu gelangen. Zuerst lief alles gegen mich. Er rührte sich nicht. Ab und zu stiegen kleine Wolken Zigarrenrauch auf. Beim Betrachten der Wölkchen fiel mir auf, dass der Mann die Zeitung auf dem Kopf hielt. Was für eine Kunst! Rauchend im Zug, dazu noch die Zeitung rückwärts lesend, perfekt! Meine Blicke vertieften sich noch mehr in die Zeitung.

„Ich starrte auf ihren Mittelpunkt. Langsam, ganz langsam senkte sie sich, sachte, zuerst sah ich nur die nach Gel triefenden angegrauten krausen Haare am Schädel angepresst, dann erschien das Gesicht. Erst die Stirn mit kleinen Falten, dann die buschigen Augenbrauen, seine stahlblauen Augen passten überhaupt nicht zu diesem Typen.

Oh Schreck, was für eine rote Nase der hat, dachte ich. Ich sah in sein Gesicht, aufgeblasen wie ein rosa Luftballon und dieses schaute mich über die Zeitung geradewegs an. Dabei zog er kräftig an seiner Zigarre.

„Ich lachte ihn an, sagte fröhlich, wie man eben zu seinen Mitmenschen sein sollte: „Sie haben schon seit zwanzig Minuten Ihre Zeitung auf den Kopf gelesen! Wie machen Sie das denn?“

Der Fette bekam einen hochroten Kopf. Oh Mann, gleich platzt er!

In diesem Moment sprang der Kerl auf. Ich fürchtete, dass er sich mit einem Wutschrei auf mich werfen würde. Aber nein, was tat er? Er nahm die Zeitung, zerriss sie in Fetzen und schmiss sein Werk auf den Boden, um es mit seinen großen Füßen zu bearbeiten. Dann rannte er ans andere Ende des Abteils. Beim nächsten Bahnhof verließ er den Zug. Was es doch für Menschen gibt.

In der Residenzstraße sah ich plötzlich (Wunder gibt’s doch noch, ich habe meinen Bus erwischt!) war alles voll, Leute mit Paketen und Päckchen zogen durch die Straßen, ja, bald war Weihnachten.

Zu Hause zog ich mich erst einmal aus meinen Körperverpackungen, dann kochte ich mir eine Kanne Tee, Friesentee, und machte mir ein paar belegte Brote. Eigentlich wollte ich noch ein bisschen lesen, hatte aber doch keine richtige Einstellung zur Literatur an diesem Tag. Nachdem ich meine Abendpflege erledigt hatte, schlief ich schnell ein.

*

Am nächsten Tag, dem 22. 12. 1991, stand ich gegen sechs Uhr auf und schaltete schlaftrunken das Radio ein, meinen Lieblingssender, RIAS. Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Wintertag werden. Ich freute mich. Der Tag konnte kommen! In mir war ein gutes Gefühl, alles lief prima. Ich hatte nichts vergessen und stand mit allem, was ich für den Tag brauchte, vor meiner Wohnungstür. Im Haus roch es nach Zimt und Honigkuchen. Im zweiten Stock öffnete Erika die Tür.

„Markus, könnten Sie mir heute Abend vielleicht ein paar Sachen mitbringen?“

„Aber sicher doch.“ Ich nahm den Einkaufszettel. Erika wollte mir gleich Geld geben.

„Nein, lassen Sie mal, das können wir doch heute Abend abrechnen …“

Ich machte mich auf den Weg nach Pankow. Auf der Straße überlegte ich: Wie kommst du jetzt am besten zur Wandlitzer Allee 32? Es sind von hier nicht mehr als acht Kilometer, aber die Verbindung mit der BVG ist nicht sehr gut. Ich entschloss mich, ein Taxi zu nehmen. Das konnte mit der Spesenabrechnung eingereicht werden.

Ich ging zur nächsten Ecke, winkte mir ein Taxi heran und setzte mich auf den Beifahrersitz. Der Taxifahrer, ein junger Mann mit Zickenbart, begrüßte mich überschwänglich, als wären wir alte Freunde.

Die Fahrt war schwierig. Überall war die Stadtreinigung dabei, den Schnee in den Griff zu bekommen. Etwas später als ich gedacht hatte, erreichten wir das Ziel.

Ich stieg aus und zahlte im Stehen. Nachdem das Taxi weg war, schaute ich mich um. Ich befand mich in einer Vorortstraße. Die Häuser waren groß, dunkel und wirkten irgendwie, als sei die Zeit stehengeblieben. Ein Großteil von ihnen schien leer zu stehen. Mir gegenüber lag das Grundstück Nr. 32. Der schmiedeeiserne Zaun, der ein großes Anwesen einschloss, war an einigen Stellen brüchig, trotzdem ahnte man noch seine alte Pracht. Hinter dem Zaun standen zwei große Tannen, auf ihren Ästen lag Schnee. Sonnenstrahlen glitzerten darauf.

Beim Betreten des Grundstücks verfing ich mich in einer Rosenranke; die versteckt unter einer weisen Wolke aus Schnee lag, ich brauchte einige Minuten, um mich zu befreien. Alles lag unter einem halben Meter Schnee. Ich versuchte einen Rundgang über das Grundstück. Dabei arbeitete ich Punkte auf meiner Liste ab: Baumbestand, Erschließung, Nebengebäude, eventuelle Altlasten, Abwassergruben lagen unter Schnee verborgen, Zustand der Zäune und Mauern … Gott sei Dank, das hatte ich geschafft!

Ich stieg die flache Außentreppe empor und stand vor dem alten Eingang. Nachdem ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, versuchte ich die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Als ich mich dagegen presste, ging es auf einmal leicht.

Ich stand in einem halbdunklen Raum und ließ meine Blicke schweifen. Die Scheiben waren durch den Frost mit Winterrosen verziert – ein schöner Anblick. Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, schloss ich die Haustür hinter mir, nahm meine Taschenlampe und suchte den Keller. Meist liegt er hinter der Küche, richtig, ich stand vor der Kellertür! Bei meinen Recherchen hatte ich einen eigenen Bearbeitungsstil entwickelt: Ich durchsuchte erst immer den Keller auf Feuchtigkeit und Schimmel, nahm dann die Wände sorgsam unter die Lupe und stieg schließlich zu den Speichern hinauf. Dabei erledigte ich meine Strichliste, ging mechanisch Raum für Raum ab.

Der Keller war kalt und dunkel, aber das war ich gewöhnt. Ich leuchtete die Wände mit meiner Taschenlampe ab und fand alles so weit in Ordnung. Nachdem der Keller fertig war, kümmerte ich mich um das Dachgeschoss. Das Treppenhaus lag im Halbschatten; mit meiner Taschenlampe leuchtete ich mir den Weg nach oben. Überall waren Spinnennetze, aber sonst war alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, in einem erstaunlich guten Zustand.

Oben angekommen, prüfte ich die Sparren des Dachstuhls. Kein Befall vom gemeinen Holzwurm vorhanden! Komisch, so etwas hatte ich noch nicht erlebt, nicht der geringste Befall. Ich machte ein großes Kreuz auf meiner Liste.

Als ich gerade mit den Zimmern im Obergeschoss anfangen wollte, sah ich einen Lichtschein aus einem Türspalt hervorschimmern. Dazu hörte ich leises Summen. Verdutzt drehte ich den Kopf. Sollte die Sonne schon eine solche Kraft haben? Das konnte zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht sein! Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Ich schob meine Hände an den Kopf: „Nee, Fieber haste nicht, alles in Ordnung.“ Ich schlug meine Augen wieder auf.

Ein großer Kerzenständer mit neun Kerzen brannte hell und klar mitten im Raum. Auf einem Plüschsessel vor dem Fenster saß ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Es spielte mit ihrer Puppe, dabei summte es leise ein Lied vor sich hin. Sie trug ein weißes Rüschenkleid mit Spitzen an den Ärmeln. Ihre roten Haare waren zu Zöpfen geflochten; an ihren Enden hingen weiße Schleifen. Die Schuhe glänzten dunkelrot und waren bis eine Handbreit über den Knöcheln geschnürt.

Plötzlich sprang sie vom Sessel auf und rannte auf mich zu. In der letzten Sekunde drehte sie sich jedoch wieder in Richtung Stuhl und ließ sich fallen wie ein Stein.

Ich hörte, wie sie sang – ein Kinderlied, wie meine Großmutter es mir oft vorgesungen hat.

„Hallo, du, wo kommst du denn her?“

Das Mädchen schien mich nicht zu hören. Mein Puls raste. Ich betrat das Zimmer und wollte das Kind an der Schulter berühren. Meine Hand griff ins Leere.

Erschrocken wich ich zurück. Das Mädchen war so angezogen wie vor achtzig Jahren, auch die Umgebung schien alt zu sein. Ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen.

Langsam verließ ich das Zimmer wieder, verschloss die Tür bis auf einen Spalt. Wo war ich bloß gelandet? Auf der Treppe setzte ich mich auf die Stufen. Ich versuchte, meine Sinne in normale Bahnen zu lenken, schaffte es aber nicht. Den Handlauf schon in der Hand, sah ich gegenüber aus einer anderen Tür Licht. Meine Neugierde war größer als meine Furcht.

Meine Trüffelnase wurde wach; vorsichtig öffnete ich die Tür. Im Schaukelstuhl wippend, saß ein Mann von etwa siebzig mit einer Pfeife in der Hand, aus der unentwegt Wölkchen stiegen. Langsam bewegte er sein Bein hin und her, im Rhythmus mit seinem sich hebenden und senkenden Brustkorb.

Auf einmal stieg mir ein Duft von Kaffee und Kuchen in die Nase, der von unten zu kommen schien. Was war das jetzt wieder? Ich ging langsam die Treppe nach unten. Durch eine Glasscheibe sah ich altmodisch gekleidete Menschen in einem Raum, der einer Konditorei ähnelte. Sie saßen an Tischen und tranken Kaffee und Kuchen. Markus, du bist in einer Bäckerei gelandet!

Mein Herz schlug schneller. Ich öffnete die Tür. Niemand drehte sich nach mir um. In der Ecke neben der Tür stand ein Weidenkorb, in ihm schlummerte ein kleiner brauner Hund mit schwarzen Augen. Ich winkte ihm zu, aber auch er konnte mich nicht sehen. Was für eine unglaubliche Geschichte!

Immer wieder kamen Menschen, holten Brot und Stollen, ein reges Treiben. In dem Raum, der etwa vierzig Quadratmeter groß sein mochte, leuchteten überall kleine Sterne. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Adventskranz mit drei brennenden Kerzen. Ich blickte auf den Kranz als stände ich unter einem Narkotikum. Hier ist ja die gleiche Zeit wie bei uns 1991!

Neben mir öffnete sich die Tür. Das Mädchen und der alte Mann von oben kamen herein, gingen an mir vorbei, setzten sich an den einzigen noch freien Tisch und sangen Weihnachtslieder. Der alte Mann spielte auf seiner Mundharmonika. Ein schönes Bild. Ich fühlte mich wohl, Tränen traten aus meinen Augen, rollten meine Wangen entlang, fielen zu Boden und platzten wie Knospen im Frühling. Dabei benetzten sie den Raum und berührten den Weidenkorb unter mir.

„Welcher Frieden auf dieser Gemeinschaft ruht, dachte ich.“

Die Zeit ging dahin; langsam wurde es dunkel. Ich bemerkte es nicht. Beiläufig schaute ich auf meine Uhr: Was, schon Viertel nach Vier? Bin ich schon sechs Stunden hier? Ich konnte es mir nicht erklären. Ich musste mich schleunigst auf den Heimweg machen.

Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass der kleine Hund mir nachlief. Am Ausgang, für den ich immer noch den Schlüssel hatte, stand er neben mir, schaute hoch und roch an meinen Schuhen. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.

Was ist geschehen, Markus, fragte ich mich? Es kann doch nicht sein, dass ein Hund mich erkennt, aber all die anderen nicht? Ich trug den Kleinen zurück in den Verkaufsraum, ging schnell zur Tür und verschloss sie hinter mir. Auf der Straße angekommen, konnte ich links neben dem zweiten Eingang an der Scheibe eine Aufschrift erkennen:

Bäcker und Konditormeister Petach

Meine Erlebnisse – „waren sie real gewesen, oder hatte ich mich überarbeitet und sah nun Gespenster?“

Ich ging zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Auf dem Weg nach Hause fiel mir der Zettel von Erika in die Hände: Schillerstraße bei Edeka: Brot - Butter - Honig - Flasche Rotwein, lieblich stand auf den Zettel, und: schwarzen Tee besorgen. Diese Dinge kaufte ich schnell ein.

Im Haus angekommen, ging ich gleich zu Erika in den zweiten Stock, um ihr ihre Sachen zu bringen.

„Na, Markus, Sie sehen aber ganz schön abgekämpft aus! Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht, dass Sie so fertig sind?“ Sie zog mich in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer neben dem Klavier musste ich mich erst einmal setzen.

„Hier, Markus, trinken Sie erst mal einen Tee, dann werden Ihre Lebensgeister schon wieder erwachen!“ Erika lachte.

Auf dem großen Eichentisch stand ein Bunter Teller mit Pfefferkuchen und ein Weihnachtskranz aus Holz, den Erika sich in den zwanziger Jahren bei einem Winterurlaub im Erzgebirge gekauft hatte. In den vergangenen Jahren hatte ich mich hier oft nach schweren Tagen eingefunden. Ich fühlte mich wohl bei ihr, eigentlich wie früher – daheim. Erika setzte sich mir gegenüber an den Tisch, schaute mich durch ihre starke Brille an. Schon als kleines Kind hatte sie Augengläser (Brille) tragen müssen.

„Markus, etwas stimmt nicht mit Ihnen! Möchten Sie darüber sprechen?“

Ich nickte, zum Sprechen war ich in diesem Moment nicht fähig. Erika war eine Frau, die warten konnte – oh ja, und wie! Es war ruhig im Haus, nur von weitem hörte man ab und zu ein Auto. Durch den Schnee war alles leiser als sonst. Ich versuchte, die Ereignisse in meinem Inneren chronologisch zu ordnen, schaffte es aber nicht. Ich räusperte mich noch einmal. Markus, lass einfach los!

Ich begann ihr alles zu erzählen: von dem Haus, dem Kind, dem Mann, von der Bäckerei, von meinen Tränen und von den vielen Menschen. Zum Schluss vergaß ich natürlich auch nicht den Hund: wie er mich erkannt hatte und alles andere. Nachdem ich fertig war, ging Erika in die Küche und schenkte uns erst einmal einen großen Pott Tee ein.

„Markus, was Sie mir da erzählen, das ist ja eine unglaubliche Geschichte.“

„Ja, aber … Erika glauben Sie mir?“

Sie sah meine flehenden Augen. Ein Lächeln huschte über Ihr Gesicht. „Markus, ja, ich fühle, dass Sie die Wahrheit sagen.“

„Ich möchte wissen, warum der Hund mich erkannt hat. Erika, haben Sie dafür eine Erklärung?“

„Dazu, Markus, fällt mir eine Geschichte ein. Vor langen Jahren war mein Vater mit seinem Bruder in den Bergen. Das Wetter änderte sich schlagartig: Sturm kam auf und die beiden waren den Unbilden der Natur hilflos ausgeliefert. Stunde um Stunde tobte der Sturm durch den Wald. Rennend erreichten Sie ein altes moosbewachsenes Haus. Fenster und Tür waren geschlossen. Beide waren völlig durchnässt und warfen sich gegen die Tür, die sofort aufbrach. Vor Schwäche stürzten sie zu Boden und lagen dort bestimmt einige Stunden. Vater ist dann als erster wach geworden, sein Bruder lag neben ihm, weiß im Gesicht. Vater hörte keinen Atem, er schüttelte ihn, aber er wurde nicht mehr wach. Vater weinte bitterlich, er hatte nicht erwartet, in dieser Stunde seinen Bruder zu verlieren! Auf einmal veränderte sich alles: Die Tür ging auf, zwei Männer kamen auf meinen Vater zu, hoben seinen Bruder empor, legten ihn auf den Eichentisch mitten im Raum und sprachen mit sonderbaren Lauten zueinander. Der eine hob seinen Kopf und flößte ihm einen Trank ein.

Innerhalb weniger Sekunden war Vaters Bruder wieder wach, als wäre nichts geschehen. Seine roten Backen strahlten, wie immer. Die Gestalten aber, die dem Bruder neues Leben eingehaucht hatten, verschwanden im Nebel! Das Zimmer wurde wieder zur Nacht. Nachdem der Sturm sich am Morgen gelegt hat, sind beide wieder wohlbehalten zu Haus angekommen. Beide, Vater und Bruder Gustav, lebten noch viele Jahre in Berlin. Er hat mir dies alles erst an seinem Todestag erzählt.“

„Vielleicht ist es die Magie der Tränen, welche die Menschen schützen und in sie dringen, an das Gute zu glauben?“

„Ja, Markus, deine Tränen, sie haben diesen Hund zu deinem Freund gemacht! Lass nicht los, geh wieder hin! Mach deine Arbeit weiter! Aber erst müssen Sie mir eins versprechen, Markus: Erzählen Sie nur mir Ihre Geschichte. Sonst wird alles umsonst sein.“

*

Am nächsten Tag, dem 23. Dezember, meldete ich mich in der Firma und sagte, dass ich noch einen zweiten Außentermin in Pankow bräuchte, weil das Anwesen unerwartet weitläufig sei. Ich wollte die Akte „Wandlitzer Allee 32“ noch bis zum Heiligen Abend fertig stellen.

Gegen zehn war ich wieder vor Ort. Der Schlüssel passte. Die Tür ging leicht auf. Sie klemmte nicht wie gestern. Alles war still. Ich ging nach oben, um meinen Bericht zu vervollständigen. An der Tür angekommen, wo gestern das Mädchen gespielt hatte, klopfte ich. Niemand antwortete. Mit Herzklopfen öffnete ich die Tür. Ich fand alles leer. So begann ich damit, Zimmer für Zimmer in meinen Protokollen festzuhalten.

Zum Schluss vermaß ich den Verkaufsraum. Auch hier war alles leer – fast alles. In der Ecke, wo gestern das Mädchen mit dem alten Mann gesessen hatte, lag eine weiße Schleife. Ich bückte mich und steckte sie in die Seitentasche meines Mantels. Ich war glücklich, weil ich nun wusste, dass alles, was ich erlebt hatte, vielleicht doch real gewesen war.

So verging der Tag.

Ich wollte auch morgen nicht in die Firma. Ich hatte einfach keine Lust mehr, morgen noch für fünf Stunden ins Büro zu fahren! Ich rief Jansen an und meldete mich krank. Er war stinkig, schwafelte was von der Weihnachtsfeier. Mir doch egal, soll er doch seine blöde Weihnachtsfeier ohne mich machen! Ich hatte keine Lust, mir immer die gleichen Redensarten anzuhören. Der Typ ging mir wirklich auf den Keks.

Markus Blume führt dich durch die Zeit

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