Читать книгу Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner - Страница 9
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ОглавлениеDer Winter war gegangen. Mein erster Blick an diesem Morgen führte mich in mein Selbst. Ordne dich, Markus! Was machen wir mit der Zeit nach dem Aufstehen? He, das fragst du mich jeden Morgen! Hör auf, mich zu bevormunden! Mein Lachen brachte Prinz auf den Plan. Er sprang mit einem Satz auf mein Bett, seine braunen Augen suchten mich. Ach, du meine Güte, Prinz will raus in die Natur!
Noch müde, gerade der Nacht entsprungen, in den Knochen noch halb taub, ungewaschen, nur die Augen leicht mit Wasser gespült, halb angezogen, stolperte ich über den Stuhl in der Küche. Meine Hände konnten gerade noch die Tür umklammern und den Sturz abdämpfen. Ein Glück!
Auf der Straße führte Prinz seinen morgendlichen Tanz auf. Jedem Baum schnüffelte er mit der Nase am Boden entgegen. Er las die Zeitung seiner Hunde Welt: neue Spuren, andere neue Markierungen, wer seid ihr.
Am Kiosk holten wir eine Zeitung. Der Mann hinter dem Tresen nuschelte ein „Juten Morgen“, mehr nicht. Viel redete ich nie mit ihm, manchmal ein paar Worte mehr, wenn ich meinen Lottogewinn abholte. Dann sagte er: „Soll ick et verrechnen?“ Und meine Worte waren, außer einem kurzen „ja“, auch nicht viel mehr.
Draußen hörte ich meine innere Stimme: He, Markus, der will mit dir nicht reden! Na und? Ist mir doch egal! Es ist Sonntag und mir geht es mit meinem Freund gut! Der Winter ist vorbei, ein langer und harter noch dazu, wir haben ihn überstanden, dachte ich.
Der Tag war so richtig etwas für meine Seele. Am Teich in der Morgensonne fühlte ich mich wohl. Meine Augen gingen neugierig umher, sahen Schwäne mit einer kleinen Bugwelle durch den Teich paddeln, ein paar Erpel stritten sich um ein Entenweibchen.
Im Haus gegenüber im zweiten Stock öffnete meine alte Dame Erika gerade die Fenster, der Duft des Morgens zog an ihr vorbei, die Gardinen flatterten, legten sich mächtig ins Zeug. Komisch, hier unten am Teich spürte ich nichts davon. Plötzlich meldete sich mein Magen, tanzte Boogie-Woogie und knurrte wie im Kampf – Hunger!
„Prinz, komm jetzt!“
Wir machten uns auf den Weg. Im Treppenhaus hörten wir leise Musik. Oben angekommen, machte ich mich erst einmal daran, meinem Freund Futter zu geben.
Ich bin auch noch da, rief er in mir. Na, klar doch, aber erst ab in die Dusche, mir ist kalt. Schnell noch Kaffee aufgesetzt! Der Kessel summte seine Melodie.
Ein Brausen am Morgen im nassen Element, stehend im Wellenbad der Gefühle! „Heiß und kalt im Wechsel der Zeit geschafft“, blicke ich in den Spiegel, noch mit einem leichten Hauch Duschnebel behangen, Tropfen rannen dem Boden entgegen. Hier sah ich mich selbst in meiner Verschwommenheit. Meine Hände befühlten meinen Bart.
Rasieren? Nein, morgen, Markus, ich habe Hunger jetzt! Na gut, dann eben nicht.
Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Schwarzbrot mit einem Becher Quark war mein Hunger schon so gut wie gestillt. Noch ein Apfel und ich hatte genug. Müdigkeit machte sich in mir breit, ein Blick auf die Uhr: dreiviertel acht. Ja, wenn man einen Freund wie Prinz hat, vergeht die Zeit eben anders!
Ich machte mir ein Zwischenlager fertig. Beim Lesen eines Berichts aus Lateinamerika fiel mir die Lektüre aus der Hand. Schlaf, Markus, schlaf!, hörte ich wie ein Echo meine innere Stimme, ruh dich aus, deine Kraft braucht dich noch!
Im Schlaf erwachten die Erinnerungen. Sie führten mich wie auf einem vorbestimmten Weg in die Welt des anderen Lebens. Es begann wieder der Kampf mit den anderen. Wellen schlugen hoch über mir zusammen, Stürme und Donner peitschten meine Seele. Ich rief mich, aber ich war nicht da. Da und dort sah ich meinen Freund Prinz, wie er von Wellen erfasst wurde. Er trieb in den Zeiten des Jetzt, des Gewesenen dahin.
Schweißnass, hustend und mit Krämpfen stürzte ich von einem Grauen ins nächste. In mir wollte die Lunge alles ausstoßen, was ich nicht brauchte. Mein Herz kämpfte wie ein Schiff in einem Sturm auf dem Meer. Es ließ mich nicht los. Was war es, was mich trieb? Wer zeigte mir dieses Leben, das ich nicht kannte? Leidend in den Zuckungen des Jetzt, die Lebenskraft gemindert, versank ich in Tiefschlaf.
Es war schon tiefe Nacht, halb eins, als ich wieder ins Leben zurückfand. Ich hatte den ganzen Tag geschlafen! Prinz lag am Fußende. Als ich ihn mir so betrachtete, war er noch auf einer Reise: Seine Pfoten rannten um die Wette.
Mit den Füßen wieder auf dem Boden der Tatsachen, machte ich mich daran, den Abendspaziergang mit meinem Freund vorzubereiten. Prinz lugte aus müden Augen herüber.
„Los, komm schon!“, rief ich.
Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und rannte zur Tür. Er hatte es gut: Seine Garderobe war immer dabei! Treppab ging es der Nacht entgegen.
*
Am nächsten Morgen gab ich Prinz, wie immer während der Woche, bei meinem alten Freund Heinz ab. Manchmal dachte ich schon: He, gib mir meinen Hund zurück, das ist meiner! Aber nein, im Ernst: Ich durfte stolz sein auf meinen hilfsbereiten Nachbarn. In die Firma durfte ich ja nicht mehr mit dem Kleinen; Jansen hatte mit Kündigung gedroht.
Der Bus hatte drei Minuten Verspätung. Die U-Bahn war an diesem Morgen nicht so voll, ich fand einen Platz. Meine Blicke erfassten ein junges Paar beim Turteln, schön wie am Teich am Sonntag dachte ich, hm.
Der Weg war lang, aber gewohnt. Trübsal und Gedankenspiel mit Markus gab es heute erstaunlicherweise kaum, ich versuchte es mehrfach, aber mein Ich war noch nicht in Form.
Im Büro war alles wie immer, ich warf meine Sachen auf den Kleiderständer.
„Mein Alter, wie geht es dir?“
Eine Antwort bekam ich nicht von meinem Sessel, er wartete geduldig auf mich. Ohne ein weiteres Wort ließ ich mich in ihn fallen. Knarrendes Geräusch des Leders und ein Ächzen des Gestelles entlockten meinem Sitzkameraden doch noch eine Antwort.
Gedankenverloren tat ich nicht viel, spielte an meiner Aktentasche herum, roch das alte Leder, den Geruch der Gegenwart und des Vergänglichen. Dann öffneten meine Finger endlich den Verschluss der Tasche.
Die Akte Petach lag in einem vergilbten Aktenordner ganz vorn. Dies hier also war mein Leben: Trüffelspüren am Tag, sein Zeichen der anderen Vergangenheit spielten mit meinen Fingern, den Seitenzahlen tackt gebend, welche es wenige gab, sie spielten offenbar keine eklatante Rolle in den Räumen des Lebens …
Markus? Ja? Komm jetzt zurück! Der Termin Tagesbesprechung drohte. Ich machte mich auf den Weg. Ralf war auch wieder vom Lehrgang zurück.
*
Der Besprechungsraum. Jansen wippte mit seinen Füßen dem Wellengang der Nordsee nach. Er war ruhelos. Dann ging es los: Frage- und Antwortspiel, wie eh und je. Heute erfassten seine Blicke nicht mich, sondern einen blonden jungen Mann, erst seit zwei Wochen im Dienst. „Herr Zerner, sie kommen wohl noch aus der Zeit der Schreiberlinge?“
Der junge Mann errötete. Jansen, hörte ich mich innerlich rufen, halt deine Schnauze, alter Sack, lass den jungen Mann zufrieden!
Jansen aber drehte weiter auf: „Zerner, sie schmeißen mir einen handgeschriebenen Vorgang auf den Tisch, was soll ich damit anfangen? Haben Sie keinen PC, keinen Drucker?“
Kleinlaut hörte ich ihn „doch“ antworten. Armer Junge, dachte ich.
„Jansen hat eine unheilbare Bewusstseinsspaltung“, hörte ich Ralf mir ins Ohr flüstern.
„Meinst du?“
„Na klar, so wie der sich aufspielt. Sein Job ist seine Spielwiese!“
„Was hat er, was wir nicht haben?“
„Wir haben keinen Hausdrachen der Tyrannei zu ertragen!“
Ralf und ich konnten uns das Prusten nicht verkneifen. Unser Lachen erfüllte den Raum, Tränen wollten mit im Spiel sein. Da hörten wir Jansens lauter werdende Stimme und auch die Kollegen mahnten besorgt zur Ruhe. Jansen stand mit Zornesfalten vorn. Oh Mann, wenn Blicke töten könnten!
„Kann ich nach der Lachübung der beiden Herren jetzt wohl in meiner Unterredung fortfahren?“
Nach zehn Minuten war der Spuk endlich vorbei.
*
Wir wanderten die Flure entlang, unseren Büros entgegen. Auf zu neuem Tatendrang! Normalerweise hätte Jansen uns zusammengeschissen – heute nicht, komisch.
Meine treue Sitzgelegenheit wartete schon auf mich. Ich ließ mich fallen: Augen zu und durch! Aufgeschlagen lag wieder die alte Akte vor mir. Seit Monaten versuche ich zu ermitteln, wo die Familie geblieben war … Die Welt in den Katakomben der alten Zeit, staubverhangen, sichteten ich und mein innerer Freund Markus ein Grundbuchamt in Pankow nach dem anderen.
Hier führte mich der Weg in den kommenden Tagen in sonderbare Lebenswelten.
Manchmal glaubte ich mich schon weiter in meinen Nachforschungen, dann aber schlug mir wieder die Macht des Vergessens ins Gesicht.
Verdammte Kacke, Markus, du bist auf dem falschen Weg! Hör doch auf, das bringt nichts! Da kannst du sämtliche Kirchenbücher durchforsten – es gibt hier nichts mehr! Mach Schluss! Du hast gut reden, ich muss mir dann das Gerede von Jansen anhören, nicht du! Schweigen. Markus? Was noch? Entschuldige bitte. Oh, ist schon in Ordnung. Hast ja Recht, ich reiße mir hier den Hosenboden auf für diesen Arsch!
Ich machte mich an die Arbeit, den Bericht fertigzustellen. Kalkulatorisch war ich auf dem besten Weg – aber meine Seele rebellierte. Sie führte mich sozusagen in andere Bewegungswelten – Gründe dafür wuchsen mit dem gelesenen, Menschen erscheinen mir, ich fühlte Ihre Feder in Dokumenten, dieses Kratzen lag in meinen Ohren, wie sie dadurch diese Tintenschwärze in den Unterlagen veränderten. Ich wollte, ich konnte nicht lassen von dem, was ich erlebt hatte. Ich war allein mit meinem Ich und spürte, fühlte: Es gab nur den einen Weg. Aber hier im Haus hatte ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben, daran musste ich mich halten.
Mein Bericht war fertig. Ich heftete die Unterlagen in einen neuen Aktenordner, dann machten sie sich auf die Reise – Jansens Büro entgegen. Den alten Aktensammler behielt ich, als Erinnerung. 365.000 Mark sollte der Erlös aus dem Verkauf bringen.
Der Rest des Tages zog sich dahin; allein im Büro meinen Gedanken folgend, war ich schon gar nicht mehr hier.
„Feierabend! Los, alter Junge!“, hörte ich Ralf plötzlich an der Tür rufen.
Wir verabschiedeten uns von den Kollegen und gingen noch eine Kaffee trinken im Café gegenüber.
„Na, hast du deinen Bericht geschafft?“
„Ja, hab ich! Und was macht dein Verkauf?“
„Läuft nicht wirklich gut, Markus.“
„Bei den Preisvorstellungen im Haus – kein Wunder!“
Heute wollte ein Gespräch nicht wirklich gelingen.
Wir machten uns auf den Weg nach Hause. Im U-Bahnhof Kochstraße roch es nach Erbrochenem – oder so ähnlich. Ich wollte weg. Versunken in Gedanken, füllte sich der Bahnsteig. Ein ratternder U-Bahn-Wurm des Lebens zog sich dahin im Grau des Untergrunds. Mit einem Quietschen kündigte der Zug sich an. Lichter tanzten an den Tunnelwänden entlang, dann stand er vor mir, die Türen öffneten sich.
Los, Markus, rein jetzt! Ich hörte ein Atmen neben mir. Ein angenehmer Geruch strömte in meine Trüffelnase. Ich sah mich um. Meine Augen fanden eine Frau, die ich nicht kannte, aber trotzdem oder gerade deswegen anziehend fand. Ein Buch lag in ihren Händen - Reisen in die Welt des Lebens. Schöner Titel, dachte ich. Ich konnte sie sehen im Tunnel der Nacht, von einer Station zur anderen gleitend, Spiegelbilder einer Frau im Tanz des Abends …
Ich musste umsteigen. Draußen hörte ich meine innere Stimme. Warum hast du sie nicht angesprochen, du Egoist, du Einsiedler? Mann, ich verstehe dich wirklich nicht! Hör bitte auf, so mit mir zu reden! Ich kann und will einfach nicht – ich bin noch nicht bereit für einen Neuanfang, hast du verstanden? Schweres Atmen meines Selbst.
Zu Hause angekommen, freute ich mich auf Prinz. Nachbar Heinz öffnete. „Willst du noch reinkommen, Markus?“
„Nein, danke.“ Prinz zog an meiner Jacke. „He, ich bin auch noch da!“ Ich sah seine funkelnden Augen im Treppenlicht.
Nach oben wollte ich noch nicht. Ich setzte mich auf meine Bank am See, spürte die Nacht heranziehen. Prinz suchte nach den besten Stellen im Unterholz für sein Geschäft – nicht auf Straßen und Parkanlagen wie die anderen Vierbeiner!
Trunken vor Müdigkeit, zog es mich schließlich ins Bett. Beim Abspülen des Schmutzes des Tages und beim Zähneputzen im Spiegel verging die Tageslast. Prinz hatte sich schon nachtfein gemacht, sein Lager war fertig. Ich noch nicht – mein Teewasser kochte; heiß ergoss es sich über die Ostfriesenmischung. Im Bett schaffte ich es nicht einmal mehr zu trinken. Doch es war Markus in mir, der müde war – ich nicht.
Ein Schrei riss mich zurück ins Wachsein: Prinz stand vor dem Bett und zog an meiner Hand, als würde er sagen: Komm schnell, ich muss mal! Sein Wesen hatte sich völlig verändert: Wolfsähnlich rannte er durch die Zimmer, drehte sich vor mir weg, führte einen verrückten Tanz auf.
Was war los, brannte es vielleicht? Ich öffnete die Wohnungstür und schnupperte im Treppenhaus herum: Es roch nach Bohnerwachs. In diesem Augenblick rannte mein Freund an mir vorbei die Treppe hinunter; ich hörte ihn an der Haustür fiepen, nicht dieses wilde Bellen.
Es dauerte zwei Minuten, meinen alten Wintermantel überzuwerfen. Dann stürzte ich die Treppe hinunter. Draußen zog Prinz mich mit dem Maul meine Hand ergreifend weiter, immer weiter; Straßenzüge um Straßenzüge, die Ecken der Nacht entlang.
Als ich den bekannten Straßennamen sah, wusste ich, was sein Ziel war. Dunkle Nacht, Nieselregen, vom Wind getragene Schwaden benetzten mein Gesicht. Als ich die Straße überquerte, erwischte mich fast ein Auto, es ging gerade noch mal gut. Dann standen wir vor dem alten Haus.
Prinz kratzte an der Tür zum Nebeneingang: Sie war verschlossen. Was keiner wusste: Ich hatte mir zwei Ersatzschlüssel fertigen lassen. Einen hatte ich hier im Garten versteckt, am alten Brunnen unter einer Fuge. Ich zog ihn hervor. Natürlich übersah ich im Dunkeln einen Rosenstrauch. He, wohin des Wegs? Lass mich los, hörte ich in mir Markus rufen. Meine Finger griffen etwas, rostiges altes Eisen, um sich festzuhalten – Dornen! zogen an meiner Kleidung, ich schüttelte die Ranken ab – frei, na endlich!
In dem alten großen Haus war es still wie bei meinem letzten Besuch. Prinz stürmte in den Keller, an mir vorbei durchsuchte er alles, weiter, immer weiter rannte er hinauf ins Obergeschoss. Ich folgte seinem Tanz. An einer geschlossenen Tür kratzte er mit der Pfote, seine Augen riefen: Komm, mach schon auf!
Ich öffnete.
Gefangen in der Zeit des Überganges.
Hier waren sie wieder, die Bewohner des Hauses, der Weihnachtszeit. Ihre Blicke trafen mich. Ich spürte: Sie wollen dich, Markus! Prinz setzte sich vor sie, ihr Blick fiel auf mich, ich geriet fest in ihren Bann.
„Was ist los, Prinz, was wollen diese Menschen aus dem anderen Leben von mir?“
Das Mädchen mit den Zöpfen und der weißen Schleife schob sich nach vorn. Ich sah ihr Sommersprossengesicht. Der sechsfache Leuchter übergoss es mit weichem, gelblich schimmerndem Kerzenlicht. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich konnte nichts verstehen. Auf ihren Lippen, die im Kerzenlicht flackerten, las ich plötzlich das Wort: „Hilf uns, Markus!“
Ich ging dichter an sie heran, sah ihre dunklen Augenränder, schaute auf die geräuschlos sich bewegenden Lippen. Ich hatte verstanden.
Sie verschwanden. Im Schattenspiel des Kerzenlichtes wichen sie zurück in die Dunkelheit, die Kerzen erloschen. Nacht erfüllte wieder den Raum.
Was meinten die Seelen der Vergangenheit damit: „Hilf uns, Markus“? Ich konnte doch nichts tun! Ich war doch selbst gefangen! Das Haus gehörte mir nicht einmal und ich konnte es auch nicht kaufen – mein Arbeitsvertrag untersagte mir jegliche geschäftliche Aktivität außerhalb der Firma.
Wir machten uns auf den Heimweg. Es war nass; aus dem Nieselregen war ein Schauer geworden. Gott sei Dank hatte ich meine alte Kutte. Regennass zogen wir der Heimat entgegen. Nachtwandler im Regen der Zeit.
*
Am nächsten Tag taumelte ich müde und gereizt durch den Morgen; stumm in mir gefangen, lief ich die Wege wie im Schlaf. In der U-Bahn kauerte ich im grellen Licht der Neonröhren und erwachte nur langsam aus dem Koma der Nacht. Gewaltsam in den Tag geschoben, fügte ich mich ein in den Tanz der Massen.
Fahrstuhl, 7. Etage. Ich taumelte meinem Büro entgegen, rannte im Vorbeigehen fast den alten Kopierer um, blieb mit dem Oberkörper auf ihm liegen.
Schlaf … Nein, geht jetzt nicht! Ich kannte den Tanz: Ich gegen mich! Los, Alter, an die Arbeit!
Im Büro lag eine neue Akte auf meinem Tisch, dick und schmutzig. Beim lustlosen Durchblättern stellte ich fest: ein Komplex alter Industrieanlagen. Meine Güte, was für einen Mist bekomme ich hier noch auf den Tisch? Markus? Ja – was ist denn? Abwechslung tut gut – Ha-ha! Scherzkeks. Aber mal im Ernst, Markus – hier hast du doch etwas, das dich ablenkt! Ich blätterte herum, versuchte, mir eine erste Meinung zu bilden. In mir wollten die Dinge nicht mit, aber ich setzte mich mal wieder durch. Bitte, es geht doch!
Mittag! In der Kantine gab es Linsen mit Speck, Seelachs mit Salat und Bratwurst, geröstete Kartoffelscheiben mit Speck und Zwiebeln. Ich entschied mich für Fisch – leichte Kost.
Im Fahrstuhl traf ich Jansen. „Blume, Ihre Arbeit war gut.“
Was, loben kann der auch?
„Das Haus Petach in der Wandlitzer Allee wird demnächst übrigens versteigert. Dem Termin am 24. Mai im Rathaus Pankow wohnen Sie dann bitte bei.“
Ich verstand noch nicht, wollte nicht begreifen. „Mein Haus soll versteigert werden?“
Jansen nickte, der Fahrstuhl hielt.
Er war weg. Markus, das ist nicht dein Haus! Erzähl mir nicht solch einen Schmarren! Pass auf deine Worte auf, sie könnten dich Kopf und Kragen kosten! Wieso, hört doch eh keiner!
Ich konnte mich nicht mehr von meinen Gedanken lösen. Mein gefangenes Ich spielte verrückt. Ich suchte einen Ausweg, um an mein Ziel zu gelangen. Ich dachte und plante. Ohne Wissen der anderen schmiedete ich einen Plan, der meiner Seele Rettung versprach – aber auch die Büchse der Pandora öffnete.
Ich machte mich an die Arbeit: Kommando WA 32. Ich hatte nun zwei Aufgaben zu bewältigen – eigentlich drei. Wieso drei, Markus? Erstens das neue Arbeitsgebiet, dann die WA 32 (was mich besonders berührte) und dann – mich selbst! An der letzteren Baustelle bist du nicht ganz schuldlos, mein Kleiner. Ich bin nicht dein Kleiner, ich bin ich selbst.
*
Das Nachtschwimmen im schweißnassen Nachtlager zog mich wieder in seinen Bann. Innere Kämpfe durchschüttelten mich. Ich suchte einen Weg aus meinem Schlamassel, aber fand nicht die Tür mit dem grünen Licht – überall nur Dunkelheit, die vom Nebel durchzogen wurde. Die Menschen aus dem alten Haus, ihre Gesichter – fragend sahen sie mich an und verstanden doch nicht. Schloss ein Nachtkreis sich um meine Seele?
Jeden Morgen fühlte ich die Schwäche eines alten Mannes, der seinen Körper sucht, ihn zusammensetzt wie ein Puzzle, dessen Teile er in der Nacht verloren hat. Wenn ich nicht Prinz und meine Freunde im Haus gehabt hätte, wie wäre es mir wohl ergangen? Wahrscheinlich wie im Mischwerk eines Betonwagens!
Am Abend, nachdem ich eine Runde im Park gegangen war, führte mein Weg mich in den zweiten Stock. Ich klingelte; es dauerte etwas, bis Erika öffnete.
„Hallo, Markus, wie schön, Sie zu sehen!“
Prinz begrüßte seine Freundin herzlich.
„Los, kommt rein in die gute Stube!“
Tee trinkend erzählte ich ihr von meinen Sorgen der Nacht. Es sprudelte wie ein Wildbach aus mir heraus und ich sah Erikas Augen durch die dicken Brillengläser leuchten. Sie war jetzt mit im Boot – ich war erleichtert, meinen Seelendruck verringert zu haben. Sofort ging es mir besser. Nachdem ich alles erzählt hatte, schwiegen wir.
„Wie wollen Sie das denn bewerkstelligen, ohne erwischt zu werden, Markus? Eine verdammt knifflige und zugleich auch spannende Aufgabe! Markus, Markus, nehmen Sie sich da nicht etwas zu viel vor?“
„Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich kann und will nicht als Versager meiner Seelenwanderung dastehen!“
„Seelenwanderung, aha. Auf mich können Sie jedenfalls zählen.“
Ein mutiger Entschluss meiner alten Dame!
„Aber: Ein richtiger Plan muss her, junger Freund, sonst geht die Sache nicht gut aus!“
Erika besorgte einen alten Schulfreund, einen Notar, seit langem schon im Ruhestand, aber blitzgescheit. Bernstein hieß er. Wir weihten ihn ein – na ja, nicht ganz, Erika war vorsichtig. Sie sagte ihm nur das, was er wissen musste – mehr nicht.
Alles lief wie ein Uhrwerk: Ich besorgte mir von meiner Bank eine schriftliche Zusage über 200.000 Mark, und Erika steuerte 80.000 Mark als Sicherheit bei – ein toller Zug meiner Nachbarin.
*
Der 24. Mai – mein Tag war gekommen!
Im Gerichtssaal 458 füllten sich langsam die Reihen. Mein Blick schweifte in die Runde: viele Alte, wenig Junge, da und dort ein paar Anzugträger. Die Versteigerung begann. Angebot um Angebot wurde in fliegende Worte gepackt, und Schlag auf Schlag wurde der Preis nach oben getrieben.
Zwischenstand: 215.000 Mark. Die Sitzung wurde unterbrochen für eine halbe Stunde. Jetzt konnte noch schriftlich nachgeboten werden. Zweifel packten mich: Welchen Betrag würde Bernstein auf die Liste schreiben? Mein Limit hatte er, aber was würde er wirklich bieten?
Die Versteigerung ging weiter. Angebot sechs: 225.000 Mark. Ein Herr Wagner hatte Pech. Angebote 4 und 5: beide genau 245.000 Mark. Auch die hatten verloren im Kampf um mein Haus.
Angebot 3 : 255.000 Mark. Bernstein saß da, ruhig, ich in meiner inneren Aufgewühltheit glich dem Stromboli: Anspannung bis zum Hals! Atmen, Markus, jetzt nur nicht schlapp machen! Eine Stimme im Hintergrund. Verzerrt durch das Pfeifen meiner Ohren hörte ich den vorletzten Bieter: „260.000 Mark, Notar Bernstein.“
Alles verloren, Markus, Bernstein ist nicht Sieger! Ich hörte gar nicht mehr hin. Raus, nichts wie raus hier, Luft für meine Lungen! Verfluchter Mist, ich hatte verloren! Tränen der Ohnmacht in den Augenwinkeln, lief ich den Weg vom Amtsgericht zurück, allein mit mir.
*
Erika klingelte spät am Abend. Sie fragte mich, warum ich einfach aus dem Gerichtssaal abgehauen war. Den Zuschlag hatte Bernstein bekommen. Der Richter hatte die letzten beiden Namen vertauscht!
Mein Kreislauf versagte; ich musste mich abstützen. Ich hatte gewonnen, ohne es zu wissen! Wie würde man sagen: dumm gelaufen! Für 279.500 Mark bekamen wir die Bäckerei und Konditorei Petach. Die Engel der Nacht schlafen auch am Tage nicht.
Der nächste Schritt: Mein Notar reichte seinen Deal weiter an mich. Es dauerte nur noch vier Wochen, dann war ich stolzer Besitzer einer Traumimmobilie – mit allem, was dazugehört, im wahrsten Sinne des Lebens.
Die Kosten für den Umbau und die Renovierung würden noch einmal 90.000 Mark betragen, na gut, 12.000 Mark hatte ich gerade noch auf dem Sparbuch. Das reichte bei weitem nicht. Mein innerer Schweinehund verhielt sich verdächtig ruhig – die inneren Streitgespräche blieben aus.
In dieser Woche war Erika dran, sich um Prinz zu kümmern. Die Schlüssel von meiner Wohnung hatte sie. Auf der Arbeit lief alles wie immer. Meine Aufgabe, den Industriepark zu taxieren, lief seinem gewohnten Ende entgegen. Die Tage vergingen. An einem Samstag Ende Juni hatte ich alles zusammen: Mein Lebenswerk konnte beginnen!
In der Zwischenzeit hatte ich mir einen alten VW Bully gekauft, 1.850 Mark, ein Schnäppchen mit vielen Beulen, aber der Motor war noch super. Damit konnte ich Baumaterial heranschaffen.
In der ersten Juliwoche begann ich damit, den Garten in Ordnung zu bringen, alte Hecken einzukürzen oder zu beseitigen. Prinz war ein gutes Arbeitstier. Nach ein paar Anfangsschwierigkeiten sah ich, wie der Berg aus Pflanzenabfällen an der Straße wuchs. Rosensträucher rauszureißen war unsere Aufgabe, nicht Prinz´ Sache; einmal zuckte er zusammen, als die Dornen seine Zunge anbohrten. Na, das war etwas für mich mit meinen dicken Handschuhen!
Der Tag war lang und hart. Müde blickten wir am Abend in die Runde. Stolz konnten wir beide sein.
*
Am nächsten Tag auf der Arbeit traf ich Ralf. Sein Blick sagte mir nichts Gutes, was, wusste er auch nicht – es ging nur das Gerücht um, dass einer in unserer Mannschaft falsch spielte. Ich machte mich auf den Weg zum Meeting, am Morgen zehn Uhr.
Jansen war sonst immer muffig gestimmt – heute nicht, er lachte, als ginge es ihm gut. Es war eine angespannte Sitzung. Endlich war ich an der Reihe.
„Und, Herr Blume, was macht Ihr Industrieprojekt?“
„Oh, sehr gut im Fluss, Herr Jansen!“
Ein eigenartiges Lächeln umspielte seine Lippen.
„Na toll, Herr Blume! Und was macht Ihr Projekt Wandlitzer Allee 32?“
Wumm! Der Schuss traf mich im falschen Moment!
Ungläubig blickende Kollegen zerlegten mich in Scheiben. Körperwelten in mir veränderten sich, Krämpfe zucken wie unter Strom durch meine Lebensbahnen, Hamburger Bahnhof, ich dachte daran. Heiß brannte meine Lunge, wie ein Rentier wollte ich Kälte suchen im Hohen Norden. Die Hitze brannte sich in mich ein, mein Blick suchte einen Ausgang, einen Fluchtweg … Totenstille im Raum. Jansen hatte kein Lächeln mehr auf dem Gesicht, Zornesröte raste durch seinen Kopf wie ein Dampfkessel.
Ich fing an, mich zu verteidigen: „He, was soll der Scheiß hier? Welcher Kollege ist hier auf einem Geistertrip? So einen Mist habe ich noch nie gehört!“ Gut, Markus, gib Ihnen Saures!
„Herr Blume, in der letzten Woche hat ein Kollege Sie in der Wandlitzer Allee arbeiten gesehen!“
„Na und?“
„Wir haben das Grundbuch eingesehen: Sie stehen als Besitzer im Grundbuch – und sonst kein anderer!“
Sie war offen, die Büchse der Pandora. Hilfesuchend blickte ich zu Ralf. Natürlich konnte er mir nicht helfen; er wusste überhaupt nicht von meinem Plan.
„Herr Jansen, ich habe das Grundstück von einem Notar Bernstein gekauft, der es vorher ersteigert hatte.“
Jansen lachte. „Haben Sie mal in Ihren Vertrag gesehen, Herr Blume? Unter Punkt 4, Absatz 3, steht: Ein Mitarbeiter darf ein Objekt aus seinem Bestand nicht erwerben. Eine Sperrklausel von einem Jahr ist bindend verankert!“
„Ich möchte aus meiner Sicht zu der Situation nichts mehr sagen.“ Schweigend verließ ich den Raum.
Bestürzung, Zukunftsangst durchzog mich – der Lotse ging von Bord auf stürmischer See. Ich spürte das Salz des Ertrinkenden. Im Zimmer verging die Zeit, sie zog wie im Schneckentempo einher.
Ein Klopfen riss mich zurück ins Jetzt. Die blöde Sekretärin von Jansen stand in der Tür. „Der Chef möchte sie sprechen, Herr Blume.“
Ich folgte ihr, nein, meine Füße folgten ihr Schritt um Schritt – dem unvermeidlichen Abgrund entgegen. Im Vorzimmer ließ mich der Sack eine Stunde warten. Dann war ich an der Reihe.
„Herr Blume, ich möchte Ihnen hiermit vorab die mündliche Kündigung aussprechen. Sie haben in eklatanter Manier unserem Ansehen in der Abteilung geschadet …“
Halt deine Fresse, hörte ich meine innere Abwehr sich melden.
Ein Schwall von Vorwürfen ergoss sich über mich; schließlich unterbrach ich ihn schroff. „Es reicht, Herr Jansen, ich nehme die Kündigung an! Auf sechs Monate haben Sie meine Kündigungszeit festgeschrieben. Bis Dezember also!“
Ich ging, ohne ein weiteres Wort, ging …
… einer unbekannten Zukunft entgegen.
Markus – Markus? Bitte sei still!
*
Im Vorzimmer sah ich meine Akte liegen. Die dusslige Sekretärin war nicht da. Mein Blick erfasste den Moment fingerschnell – ich blätterte durch die Seiten, dem Verräter auf der Spur. Der Name sagte mir alles: blutjung, unschuldiges Gesicht, aber schon ein Arsch, der Kollegen anscheißt!
Auf dem Flur, nur zwei Meter von meinem Büro entfernt, lief er mir über den Weg, mein junger Kollege Zerner. Sein Blick berührte mich nicht, er schaute an mir vorbei. Blitzschnell zog ich ihn rücklings am Kragen, packte ihn in mein Zimmer und schubste ihn in die Ecke neben dem Aktenschrank. Die Tür flog hinter mir zu.
„Zerner, du Verräterschwein! Verdammt noch mal, warum hast du nicht mit mir gesprochen, bevor du mich ans Messer geliefert hast? Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass so ein junger Talentierter ein Spion sein kann!“
Nach Atem ringend versuchte er, mir seine Situation zu erklären. Er scheiterte kläglich; seine Beweggründe waren zu banal, um bei mir Mitleid zu erregen. Ich wurde zornig. Er giftete zurück: Ich, nicht er, sei ein Verräter des Teams!
Ich rief: „Was weißt du junger Kerl schon davon?“
Die Situation eskalierte. Er bedrängte mich, wollte mich aus dem Weg haben. Nein, Markus, gib nicht auf! Ich stürzte über den Tisch, landete auf dem Boden. Du brauchst nicht zurückstecken, alter Freund!, hörte ich meinen inneren Schweinehund bellen. Ich schubste zurück, er fing an, mich mit den Fäusten zu bearbeiten. Es wurde ein Ringkampf. Ich schmeckte Blut, ein Schlag traf meine Nase. Dann wurde ich zum Stier: Schlag auf Gegenschlag prasselten meine Fäuste nieder, ich wollte meinen letzten Kampf gewinnen, wenn auch nur für kurze Zeit! Bei einer rechten Geraden auf sein Kinn wurden seine Beine weich; blutend sank er mir zu Füßen.
„Das hast du nun davon, Zerner!“
Die Tür schwang auf, Ralf stürzte ins Zimmer. „Oh mein Gott, Markus, was ist denn hier los?“
„Der kleine Verräter hier wollte nicht zuhören! Er hat mich angegriffen! Übelste Beschimpfungen musste ich ertragen!“
Mein Adrenalinspiegel sank endlich, meine Beine und mein Körper begannen zu zittern. Ich war fertig mit mir – und auf dem Weg in eine andere Zeit.
Mein Zimmer füllte sich. Ich musste das Gebäude auf der Stelle wegen dieser Tätlichkeiten verlassen. Na und! Meine Habseligkeiten unter dem Arm, verließ ich mein altes Leben. Im Fahrstuhl traf ich meinen alten Freund H. W. Norbert. Sein Blick fiel auf meine Nase.
„Die ist aber dick, Markus. Hast du etwa mit Jansen geboxt?“
„Nein, alter Junge, mit jemand anderem. Bis dann!“
Die Straße war voller Leben. Junge Menschen im Jetzt gingen durch das Licht der Sonne. Ich ordnete meine zerrissenen Gedankenfetzen. Es war schwierig.
*
Meine ordentliche Kündigung wurde in eine fristlose umgewandelt. Mein Trotz war stärker als meine Angst: Ich war jetzt ich – allein. Na und?
In der U-Bahn spürte ich die Menschen um mich herum stärker als sonst. Die Unbekannten der Unterwelt, Reisende, die fremden Zielen entgegenfuhren. Meine Augen waren geschlossen. Ich hörte den Klang fremder Stimmen, die wellenartigen Geräusche im Zug. Es tat gut, jetzt nicht Ich zu sein, sondern nur ein Teilchen zwischen anderen. Hier lebte eine andere Kultur als unter der Sonne – sonderbare Wesen, Verhaltensregeln einer anderen Spürbarkeit des Seins. Markus, du bist schon wieder ganz der Alte. Ein Lächeln im Spiegel des Tunnels, mit meinen eigenen Augen. Ich weiß.
Ich betrachtete meine Begleiter. Ein Mann las seine Abendzeitung wie das Dossier eines Geheimdienstes, ängstlich, dass jemand neben ihm ein einziges Wort stehlen könnte. Ich war da anders: Meine Zeitung ließ ich die anderen oft mitlesen, aber auch nicht immer: Nicht jeder Nachbar war ein wirklicher. Die Menschen lesend zu betrachten war eine Erquickung: Da gab es Schnellleser, Langsamleser, Ritualleser und Kaumleser, viele Arten traf man hier an.
Der Kaumleser ist eine seltene Gattung; schlafend schafft er schon die erste Seite nicht. Der Ritualleser nimmt sein Buch wie eine Bibel in die Hand und versucht den letzten Seitenanschlag zu spüren, den er gelesen hat, um mit dem Aufschlagen fortzufahren. Der Langsamleser schaut immer auf die Uhr und verliert das Geschehen um ihn herum nie aus den Augen. Mein liebster Kandidat aber ist der Schnellleser: Stoppuhrgleich versucht er, jede Lesung mit einem besseren Quotendurchschnitt zu gewinnen …
Markus? Was ist? Wir müssen raus!
Leopoldplatz, umsteigen in die U 9, zwei Stationen bis Osloer, dann wieder umsteigen in die U 8, dann zwei Stationen bis Residenzstraße. Endlich aussteigen, der Sonne entgegen!
Die Oberwelt hatte mich wieder. Dieser Abschnitt da unten war Vergangenheit: verlorener Job, gewonnen eine andere Welt. Ich muss mich finden, hörte ich. Neue Schritte in eine unbekannte Zeit. Bäume rauschten, bunter Blätterwald, Blumen am Wegesrand. Herzzerreißend war der Tag, was mir die Zukunft wohl bringen würde? Komm, Markus, wir schaffen das! Nimm dich zusammen, wir brauchen Kraft für das, was vor uns liegt!
Der Haustürgriff grüßte mich wie einen alten Kumpel, kalt war seine Berührung, aber herzlich. Im Treppenhaus das schwache Licht der Abendsonne, leise Musik. Wohlriechende Düfte riefen in meiner Trüffelnasse Verlangen hervor, Magensäfte meldeten sich rebellisch: Wir haben Hunger!
Die Wohnung im ersten Stock. Als ich den Löwenkopf zog, erklang ein schnarrendes Klingeln. Heinz machte auf. „He, wie siehst du denn aus, Markus? Bist du etwa gestürzt?“
„Nein. Wo ist Prinz?“
„Draußen mit meiner Frau, im Park. Am See.“
Ich ging durch den Park, da sah ich die beiden schon von weitem auf einer Bank. Die Begrüßung war eine Freude, wie am Morgen. Zu dritt gingen wir den Weg Richtung Heim. Wilhelmine war eine schweigsame Frau. Prinz ging uns immer einen Augenblick voraus. Abschied im Treppenhaus, ihr Blick fragend auf mich gerichtet. Schweigend ging sie zurück in ihre Wohnung.
Ich war müde und fertig, fühlte den Schlaf, aber der Hunger, ein wütender sogar, stellte seine Forderungen. Ich gab mich geschlagen.
In dieser Nacht gegen zwei weckte mich Prinz, er zog an meiner Decke. Schweiß bedeckte meinen Körper. Na, schlecht geträumt? Nein, wirklich nicht.
Am Morgen nach dem ersten Tag danach machte ich mich an die Arbeit – Tragweite der Zukunft, den kommenden Tragödien nicht im Geringsten bewusst.