Читать книгу Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner - Страница 8
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ОглавлениеEndlich, der 24. Dezember. Weihnachten war da! Ich lag bis um zwei Uhr mittags im Bett und ließ fünfe gerade sein – das hatte mein Großvater immer gesagt, wenn er seine Seele baumeln lassen wollte. Nachdem ich mich so gegen drei fertig machten wollte, klingelte es an der Tür.
Jochen stand draußen. „He, Markus, hast du vergessen, dass wir dich zum Essen eingeladen haben?“
Ich wurde rot. „Scheiße, Jochen, ich habe es wirklich vergessen!“
„Macht“ ja nichts. Los, altes Haus, rein in die Hosen und ab nach unten in die gute Stube!“
Rums, und schon war er wieder weg. Ja, diese Rentner hatten wirklich keine Zeit!
*
Im Treppenhaus fühlte ich zum ersten Mal Weihnachten. Bei Lampe im Erdgeschoss klingelte ich nur einmal. Frau Lampe machte die Tür auf.
„Kommen Sie rein, Markus.“
Im Wohnzimmer waren alle da: Erika saß mit roten Wangen am Ofen, Heinz Grahn und seine Frau links neben Erika. Ich nahm den Platz rechts daneben. Vor dem Essen sangen wir. Es gab Ente mit Rotkohl und Wein. Der Nachtisch bestand aus Mandelpudding mit Sahne und einem kräftigen Schuss Rum.
Wir redeten und lachten, es wurde ein schöner Abend. Schnell verging die Zeit; gegen neun verabschiedete ich mich. Ich wollte noch ein paar Briefe schreiben.
In meiner Wohnung angekommen, fiel mir die weiße Schleife ein, die ich gestern gefunden hatte. Behutsam nahm ich sie aus der Seitentasche des Mantels und hielt sie in meinen warmen Händen. Ich wurde müde und ging schlafen. Lange lag ich auf dem Bett, konnte aber nicht einschlafen. Dreimal stand ich wieder auf.
Markus, was ist mit dir? Wenn du nicht schlafen kannst, geh ein wenig spazieren und lass das Grübeln! Schon gut, hast ja Recht!
Ich zog wieder meine Sachen an und machte mich daran, die Nacht meiner Seele zu spüren. Innerlich war ich von Unruhe erfüllt. Ich ging nach unten auf die Straße. Kein Mensch weit und breit. In den Fenstern leuchteten Sterne und Engel. Wie die Uhren die Zeit ließ mich ein innerer Antrieb einen Straßenzug nach dem anderen ablaufen, ohne Ziel. Als ich endlich auf die Uhr schaute, war es kurz vor zwei. Ich musste zurück nach Hause.
Als ich meinen Kopf hob, oh Schreck, stand ich vor der Haustür Nr. 32! Das alte Haus lag im Dunkeln. Meine Hände tief in den Taschen meines Mantels vergraben, wollte ich mich auf den Weg nach Hause machen – da fühlte ich den Schlüssel in der linken Tasche. Ich zog ihn hervor und hielt ihn fest umschlossen in meiner Faust.
Wie unter einem inneren Zwang bewegte ich mich auf die Tür zu, schloss sie auf und trat in das dunkle Haus. Es war totenstill. Langsam suchte ich meinen Weg in den großen Raum der Konditorei. Die Tür war nicht zu. Langsam öffnete ich sie. Alles war dunkel und leer.
Ich setzte mich in die Mitte des Raumes und sang mein Lieblingslied, das ich schon als Kind in der Familie gesungen hatte: Stille Nacht, Heilige Nacht. Dabei hielt ich die kleine Schleife in meiner Hand. Tränen liefen mir die Wangen herab.
Ich war allein und sang in einem leeren, kalten Haus ein Weihnachtslied! Wenn mich jemand hören würde, dachte ich. In meiner Hand aber spürte ich Wärme, die meinem Körper, meine Seele traf wie ein Pfeil der Glückseligkeit.
Ein Licht durchfuhr meine Faust, erschrocken öffnete ich sie. Der Raum wurde von Sekunde zu Sekunde von meiner linken Hand aus, in der die Schleife lag, heller, strahlender. Ich sah plötzlich Konturen von Möbeln und Menschen. Zuerst waren sie nur schattenhaft sichtbar, aber Sekunden später konnte ich alles klar erkennen.
An den Tischen saßen die gleichen Menschen wie bei meiner ersten Begegnung: der alte Mann und das Mädchen. Alle im Raum sangen mein (unser!) Weihnachtslied. „Ich spürte etwas Feuchtes meine Hand berühren.“ Es war die Nase meines Freundes, der kleine braune Hund mit den schwarzen Augen. Ich saß noch immer auf dem Boden. Ich nahm den Hund auf meine Arme und streichelte ihn. Gemeinsam sangen wir. Ich war glücklich. Ja, in mir waren nicht die Zweifler am Werk.
Zum Ende des Liedes erhoben sich alle und drückten mir die Hand. Das kleine Mädchen lachte mich an: „Markus, habe keine Angst, wir möchten uns bei dir bedanken für das Lied, das du für uns gesungen hast! Als Zeichen unserer Liebe möchten wir dir etwas geben, das dich immer an diesen Tag erinnern wird. Unser Weihnachtsgeschenk hast du schon auf den Arm. Es wird dich immer lieben – bis zu seinem letzten Atemzug!“
Langsam verschwanden die Gestalten. „Zuletzt war auch das Mädchen mit den roten Zöpfen fort.“
Ich war glücklich und zufrieden. Ich machte mich auf den Weg nach Haus. Es war schon spät. Der kleine Hund, den ich von jetzt an „Prinz“ nannte, begleitete mich.
Er lief neben mir im Schnee, sprang hier und dort in eine Schneeverwehung.
Ich war ein zufriedener Mensch. Mich konnte jetzt nichts mehr aus der Ruhe bringen! Prinz sollte von diesem Tag an viele Jahre bei mir leben. Über diese Geschichte habe ich noch mit keinem Menschen gesprochen – nicht einmal mit Erika.
*
Zu Hause angekommen, war alles still. Alle schliefen schon. Prinz und ich machten uns daran, die Etagen zu erklimmen. Sein kleiner Stummelschwanz wackelte hin und her, wenn er an den Wohnungstüren der Nachbarn schnupperte. Oben angekommen, blieb er vor meiner Tür stehen. Hier wurde er richtig wild, sprang an der Tür hoch.
„Schon gut, Kleiner, wir sind gleich drin!“
Ich schloss auf. Ich trocknete Prinz erst einmal sein Fell und reinigte ihm die Füße. Danach war ich dran: Ich setzte mir Wasser für eine Tasse Grünen Tee auf.
„Na, Prinz, hast du noch einen Wunsch?“
Prinz schaute an mir hoch, seine Zunge hing aus seiner Schnauze. Was er mir wohl sagen wollte? Ich musste erst einmal nachdenken: Was braucht mein Kleiner? Ein Tier hatte ich bis jetzt noch nicht gehabt. „Meine Gedanken zogen mich wieder in eine andere Zeit.“ schweiften zurück in die Vergangenheit, ich hörte dieses Bellen schon von Weitem mir in der Gedankenwelt entgegen rufen, unser Junge ist zurück.
Hier fiel mir mein Großvater ein, der früher Hunde gezüchtet hatte. Harte Burschen, bissfreudige Monster, gute Auslese für Munitionslager der Armee, ich war ein Mitglied Ihres Rudels geworden. „Damals als Junge …“
Natürlich Markus, ein Hund muss essen und trinken!
Ein Trinkgefäß fand ich im Schrank der Spüle und füllte es mit Wasser. Als Fressnapf nahm ich eine alte Edelstahlschale, die brauchte ich nicht mehr. Was aber sollte ich meinem Hund geben? Hundefutter hatte ich nicht, ich hatte ja noch nie einen eigenen Hund gehabt! Meine Gedanken suchten verzweifelt nach Essbarem. Ich mischte dem Kleinen schließlich ein Fressen à la Markus zusammen: Thunfisch mit Haferflocken und Mohrrüben. „So, mein Kleiner, an die Arbeit!“
Ich war gespannt, wie Prinz diese meine Kreation finden würde.
Seine Nase schnüffelte am Topf. Er drehte sich zu mir um und ich hörte zum ersten Mal sein Bellen – leise, aber wohlwollend. Er ließ nichts übrig, alles wurde mit der Zunge blank geputzt.
Danach gingen wir schlafen. Ich überließ Prinz meinen alten Waschkorb, in den ich noch eine Decke gelegt hatte.
In dieser Nacht begann für mich ein anderes Leben. Die vergangenen Tage ließen mich im Traum alles noch einmal erleben. Schweißgebadet schwamm ich in meiner Traumwelt. Irgendetwas hat mich in seinen Bann gezogen - Das fühlte ich, wer seid Ihr, diesen Hauch, der mich in seine Welt zog, kannte ich noch nicht. sollte ich das noch zu spüren bekommen, oh ja.
*
Am anderen Morgen, als ich meine Augen öffnete, stand Prinz mit seiner feuchten Schnauze am Bett. Als er merkte, dass ich wach wurde, sprang er am Bett hoch, als wollte er sagen: Raus hier, genug geschlafen!
Müde und unausgeschlafen begrüßte ich meinen neuen Freund. Schwankend betrat ich den neuen Tag, tollte mit ihm durch die Wohnung. Laut bellend raste er hinter mir her.
„So, Kleiner, erst mal Pause!“
Ich machte mir einen Tee und verrichtete meine morgendliche Körperpflege. An Essen war noch nicht zu denken, mir war schlecht.
Leise versuchte ich, das Haus allein zu verlassen. Natürlich klappte es nicht: Prinz raste die Treppe runter, dabei sah ich es schon kommen: Seine Krallen versuchten, sich in den Boden zu verkrallen, aber er hatte keine Chance, der Boden wurde von unserer Hauswartsfrau zu gut gebohnert. Prinz purzelte die Treppe runter, ich hörte ihn quieken. Er rappelte sich wieder auf. Jetzt bewegte er sich bedächtiger.
Vor dem Haus Eiseskälte. Prinz stürzte sich in den erstbesten Schneehaufen und forderte mich auf, bei seinem wilden Treiben mitzumachen. Natürlich hatte ich keine Lust, mich am frühen Morgen in einen Schneehaufen zu werfen. Wir gingen die Straße entlang, alles lag noch in stillem Frieden. Ich jagte Prinz mit Schneebällen durch den nahen Park.
„Markus, hörte ich seine, diese bestimmenden Worte, ab nach Hause, deine Füße sind kalt und dein Hunger ist auch nicht ohne!“
Wir machten uns auf den Weg zurück. An der Haustür begegnete uns Heinz Grahn. Erst bemerkte er meinen Hund nicht – als wir allerdings beide im Hausflur waren, spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Heinz musste lachen, als er meinen Kleinen sah.
„Mann, wo kommt der denn her? Markus, wie bist du denn auf den Hund gekommen?“
Ich musste innerlich lachen. „Tja, Heinz, eine lange Geschichte.“
*
In den nächsten Tagen wurde unsere Wohnung zur WG. Alle meine Nachbarn wollten Prinz sehen! Hier war es, das Leben im Einklang, das ich mir so wünschte. Nach einigen Tagen normalisierte sich unsere Hausgemeinschaft leider wieder.
Die Tage vergingen; das neue Jahr begann mit Alltag. In der letzten Nacht meiner Freiheit beschlich mich eine seltsame Beklemmung. „Was wollt Ihr von mir?“ In mir sollte sich etwas breit machen, das ich noch nicht kannte. Was es war, wusste ich nicht. Nur spüren konnte ich es. Ich versuchte, meine Gedanken noch ein wenig auf Schlaf zu stellen und mich zu lösen. Ich war angekommen in meiner zweiten Lebenswelt.
Am Morgen machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Alles normal, kein Schneesturm. In der U-Bahn benahm Prinz sich, als wenn er hier zu Hause wäre. Komisch, dachte ich, machte mir aber keine Gedanken darüber. Gelassen schaute sich Prinz die Menschen an, bei einigen verharrte er länger. Manchmal, wenn er die Leute betrachtete, wedelte er leicht mit dem Stummelschwanz, als würde er in ihre Seele schauen und die Guten und weniger Guten erkennen. Welch eine Gabe, dachte ich versunken.
In meinem Inneren merkte ich nicht, wie sich jemand neben mich setzte. Ich hörte ein leises Knurren, augenblicklich erwachte ich. Prinz fixierte mit seinem feinen Gespür einen Mann. Neben mir, oh Schreck, hat sich, dieser aus der Vergangenheit über Kopf lesende Fette niedergelassen! Seine stahlgrauen Augen taxierten mich.
Gott sei Dank mussten wir umsteigen. Wir rannten den Bahnsteig entlang, um den Anschlusszug zu erreichen. So schafften wir in kurzer Zeit den Weg zum Büro.
Hier gab es erst einmal ein großes Hallo. Wir wünschten uns alle ein neues Jahr. Prinz stand natürlich im Mittelpunkt. Er genoss es. Allen musste er Hallo sagen – außer Jansen. Ich sah in seinen Augen Missgunst. Er wollte nicht eine gute, freundschaftliche Atmosphäre – nein, er wollte der Boss sein, ignorant gegenüber dem Normalen, Zwischenmenschlichen. Der Tag konnte nicht gut werden. Scheiße, nicht schon am ersten Tag!
Ich vermisste meinen alten Freund Ralf, hörte, er sei mit Fieber zu Hause geblieben.
Im Büro entledigte ich mich erst einmal meiner Winterklamotten. Am Schreibtisch ordnete ich meine Unterlagen. Prinz legte sich unter meinen Tisch und döste.
Es klopft. Ich rief: „Herein!“ Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Jansen stand im Raum an meiner Bürotür! Ich spürte Unheil aufziehen. Seine Augen flackerten nervös und seine Mundwinkel hingen herab wie bei einem Boxer, der sich nach einem Niederschlag aufrappelt.
Ich hörte ihn schwer atmen. „Herr Blume, welche Frechheiten erlauben sie sich eigentlich noch? Erst kommen sie nicht zur Weihnachtsfeier, dann melden sie sich einfach krank und jetzt schleppen sie mir auch noch diesen Köter ins Büro! Es reicht mir mit Ihnen, Blume!“ Seine Gesichtshaut verfärbte sich bläulich.
Ich dachte, er fällt um – sicher sein Herz. Ich merkte: Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Prinz lag immer noch unter dem Bürotisch. Ich sah, wie er Jansen fixierte. Markus, hörte ich meine innere Stimme, Mach was, sag was, du musst jetzt die Initiative übernehmen!
Ich sprang auf. „Was ist bloß mit Ihnen los, Herr Jansen? Sie kommen einfach in mein Büro und machen mich am ersten Tag hier fertig? Eine verdammte Sauerei ist das!“
Jansens Gesichtshaut verfärbte sich erneut; aus dem Blauton wurde ein schönes tiefes Rot. Er schnappte nach Luft, gleichzeitig fing er an, zu stottern: „Herr Blu-hume, Herr Blu-hume, nicht in diesem Ton mit mir, ha-haben sie mich verstanden!!“
Ich nickte, drehte mich um und ließ mich auf den Bürostuhl fallen. Ruhig, Markus, ruhig, lass den Arsch, ist doch nicht deine Art, dich wegen diesem Blödmann aufzuregen! Ach ja, stimmt, du hast auch recht, was soll’s …
Ich lächelte Jansen an. „Was nun, Herr Jansen?“, fragte ich.
„Was nun, was nun“, quatschte er mir nach, „morgen ist der Köter nicht mehr hier, ist das klar? Oder sie können gleich mit zu Hause bleiben!“
Ich lächelte immer noch. „Aber Herr Jansen, soll ich vielleicht Ihre Worte so zu verstehen wissen: Komme ich morgen noch mal mit meinen Begleiter (wohlweislich nahm ich den Begriff Hund nicht in den Mund), dann schmeißen sie mich raus?“
Jansen schaute mich grimmig an. „Worauf sie Gift nehmen können, Blume! Und einmal raus ist immer raus! Haben wir uns verstanden, mein Freund?“ Türenknallend verließ er mein Büro.
Markus, durchatmen, Fenster auf, lass die negativ geladene Luft entweichen! Mein Kleiner stand neben mir, als würde er mich auffordern, an positive Dinge zu denken.
Na, Lust auf Arbeit? fragte ich mich. Ich hörte mich antworten: Die kannst du für heute ja wohl vergessen! Dabei musste ich so laut lachen, dass einige Kollegen ins Zimmer stürmten und mich verwundert anschauten.
„Markus, alles in Ordnung?“
„Ja“, lachte ich, „alles im grünen Bereich!“ Auf die Attacken Jansens hatten sie überhaupt nicht reagiert. Ja, wie traurig hat sich hier alles zur „Normalität“ entwickelt!
*
Ich fühlte mich gut. Mein Kleiner schlummerte unter dem Tisch, meine Tasche lag noch immer verschlossen vor mir. Mutig zog ich sie an mich, spürte das alte Leder in meinen Händen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen. Ach, die vielen Jahre, die sie mit mir meine Wege gegangen ist und mit meiner Trüffelnase die Welt erforscht hat! Ich fühlte die Vergangenheit; in ihr war ich meiner Seele nah. Die Zeit meiner inneren Reise wollte sich in mir austoben. Ich musste mich wieder einmal höllisch zwingen, diesen Weg nicht zuzulassen. He, Markus, du bist auf deiner Arbeit! Schweren Herzens löste ich mich, ja, ich machte mich an die Arbeit – an meinen Auftrag, die Akte Petach.