Читать книгу Anna Karenina, 1. Band - Лев Толстой, Лев Николаевич Толстой, Leo Tolstoy - Страница 5
Erster Teil
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ОглавлениеDarja Alexandrowna, im Korsett, die bereits spärlich werdenden Zöpfe des früher einmal üppig und schön gewesenen Haars im Nacken aufgesteckt, mit eingefallenem, hageren Gesicht und großen, aus den magern Zügen hervorstehenden, erschreckt aussehenden Augen, stand inmitten einer Menge im Raume umherliegender Sachen vor einer geöffneten Chiffonniere, aus welcher sie soeben etwas herausnahm.
Als sie den Schritt ihres Mannes vernahm, blieb sie stehen, den Blick auf die Thür gerichtet und angestrengt versuchend, ihrem Gesicht einen strengen und verachtungsvollen Ausdruck zu geben. Sie fühlte, daß sie ihn fürchtete und das bevorstehende Wiedersehen. Soeben hatte sie wieder versucht, was sie schon zehnmal versucht hatte innerhalb der letzten drei Tage; ihre und ihrer Kinder Sachen einzupacken um sie zu ihrer Mutter zu bringen – und wiederum hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Aber auch jetzt, wie schon früher, hatte sie sich wiederholt, daß es so nicht fortgehen könne, daß sie handeln müsse, strafen, ihn beschämen und wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes an ihm ahnden, den er ihr bereitet. Sie sprach nur immer davon, daß sie ihn verlassen werde, aber sie fühlte, es sei unmöglich; es war in der That unmöglich, deshalb, weil sie sich nicht entwöhnen konnte, ihn als ihren Gatten anzusehen und als solchen zu lieben. Ferner erkannte sie auch, daß wenn sie hier, in ihrem eigenen Hause, kaum imstande war, ihre fünf Kinder zu beaufsichtigen, dies noch viel schwieriger dort werden würde, wohin sie mit ihnen allen wollte. Hierzu kam, daß seit drei Tagen das Kleinste erkrankt war, weil man ihm verdorbene Bouillon gegeben, und daß die anderen Kinder gestern fast nichts zu essen erhalten hatten. Sie fühlte es, daß das Haus zu verlassen unmöglich war, aber im Selbstbetrug packte sie gleichwohl die Sachen und stellte sich, als werde sie fahren.
Als sie ihren Gatten gewahrte, steckte sie die Hände in den Kasten ihrer Chiffonniere, als suchte sie etwas darin, und blickte erst zu ihm auf, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Ihr Gesicht, dem sie einen strengen und entschlossenen Ausdruck geben wollte, drückte Verwirrung und Leiden aus.
„Dolly!“ begann er mit leiser, weicher Stimme. Er zog den Kopf in die Schultern und wollte sich einen kläglichen und devoten Ausdruck geben, strahlte aber dabei in Frische und Gesundheit. Mit schnellem Blick maß sie vom Kopf bis zu den Füßen seine von Jugendkraft und Gesundheit strotzende Erscheinung. „Ja, er ist glücklich und zufrieden,“ dachte sie, „und ich? Seine widerliche Gutherzigkeit, um die ihn jedermann so liebt und verehrt, ich hasse sie.“ Ihr Mund preßte sich zusammen, der Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres bleichen nervösen Gesichts bebte.
„Was wünscht Ihr?“ frug sie mit fliegendem unnatürlichem Brusttone.
„Dolly!“ wiederholte er mit zitternder Stimme, „Anna wird heute hier ankommen.“
„Und was hat das für mich zu sagen? Ich kann sie nicht empfangen!“ rief sie aus.
„Aber du mußt doch, Dolly!“
„Geht, geht, geht!“ rief sie ohne ihn anzublicken, und als sei ihr dieser Schrei von einem körperlichen Schmerz entlockt.
Stefan Arkadjewitsch konnte wohl ruhig sein, wenn er seines Weibes dachte, er konnte hoffen, daß sich „alles noch machen werde“ nach dem Ausdrucke Matweys und ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee nehmen; als er aber ihr abgemagertes, leidendes Antlitz gewahrte, diesen Ton ihrer Stimme vernahm, der in das Schicksal ergeben und hoffnungslos klang, da stockte ihm der Atem, es schnürte ihm ein Etwas die Kehle zu, und seine Augen funkelten in Thränen.
„Mein Gott, was habe ich gethan! Dolly! Um Gottes Willen – Weißt du“ – er war außer stande, fortzufahren, ein Schluchzen saß ihm in der Kehle.
Sie klappte die Chiffonniere zu und blickte ihn an.
„Dolly, was soll ich sagen! Nur eines kann ich sagen: Vergieb! Erinnere dich, sollten neun Jahre des Lebens, Minuten nicht wieder erkaufen können, eine einzige Minute!“
Sie senkte die Augen und lauschte, in der Erwartung, was er noch sagen werde, und gleichsam als beschwöre sie ihn, daß er sie von seiner Unschuld überzeuge.
„Eine Minute der Vergessenheit,“ brachte er hervor und wollte fortfahren, aber bei diesem Worte krampften sich wie in körperlichem Schmerze abermals ihre Lippen zusammen und wieder spielte der Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres Gesichts.
„Geht, geht, hinaus von hier!“ schrie sie noch durchdringender, „und sprecht mir nicht von Euren Fehltritten und Lastern!“
Sie wollte hinauseilen, aber sie begann zu wanken und mußte sich an der Lehne eines Stuhles halten, um sich zu stützen. Sein Gesicht verlängerte sich, seine Lippen traten auf und seine Augen schwammen von Thränen.
„Dolly!“ wiederholte er, schon schluchzend, „um Gottes willen, denke an unsere Kinder, sie sind doch unschuldig! Ich bin schuldig, bestrafe mich, befiehl mir, meine Schuld zu sühnen. Wie ich nur kann, ich bin zu allem bereit! Ich bin schuld, und es ist mit Worten nicht zu sagen, wie sehr ich schuldig bin! Aber, Dolly, vergieb!“
Sie ließ sich nieder. Er hörte ihren schweren, lauten Atem, und ein unbeschreiblicher Schmerz um sie überkam ihn. Mehrmals wollte sie zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht. Er wartete.
„Du gedenkst deiner Kinder nur, wenn du mit ihnen spielen willst, ich aber weiß, daß sie jetzt verloren sind,“ sagte sie, offenbar in einer Phrase, die sie während der letzten drei Tage nicht nur einmal für sich gesprochen haben mochte.
Sie sprach „du“ zu ihm, und er schaute voll Dankbarkeit auf sie und bewegte sich vorwärts, um ihre Hand zu ergreifen, sie aber trat mit Ekel vor ihm zurück.
„Ich gedenke wohl meiner Kinder, und würde daher alles thun in der Welt, um sie zu retten, aber ich weiß selbst nicht, womit ich dies thun soll; dadurch etwa, daß ich sie von ihrem Vater fortführe, oder dadurch, daß ich mit einem ausschweifenden Gatten noch zusammenbleibe, ja – mit einem ausschweifenden Gatten! Sagt selbst, angesichts des Vorgefallenen, ob es für uns möglich ist, weiter zusammen zu leben? Wäre das etwa möglich? Sagt doch, wäre das etwa möglich?“ wiederholte sie, ihre Stimme erhebend, „angesichts dessen, daß mein Gatte, der Vater meiner Kinder, in ein Liebesverhältnis mit der Gouvernante seiner Kinder tritt!“
„Aber was soll ich thun, was ist zu thun?“ erwiderte er mit kläglicher Stimme, ohne zu wissen, was er sagte, und den Kopf immer tiefer und tiefer hängen lassend.
„Ihr erscheint mir abstoßend, ekelerregend!“ rief sie aus, mehr und mehr in Erbitterung geratend. „Eure Thränen sind – nur Wasser! Ihr habt mich nie geliebt, in Euch ist kein Herz und kein Adel! Ihr seid für mich abstoßend, häßlich, fremd, ja – vollkommen fremd geworden!“ Voll Schmerz und Wut brachte sie das für sie selbst furchtbare Wort „fremd“ heraus.
Er blickte nach ihr hin; die Wut, welche sich auf ihren Zügen malte, erschreckte und befremdete ihn; er begriff nicht, daß sein Mitleid mit ihr sie in Erregung versetzte. Sah sie in demselben doch eben nur das Mitleid mit ihr und nicht die Liebe. „Nein, sie haßt mich, sie verzeiht mir nicht,“ dachte er bei sich.
„Es ist furchtbar, furchtbar!“ fuhr er fort.
In diesem Augenblick schrie in einem Nebenzimmer ein kleines Kind auf, welches gefallen sein mochte; Darja Alexandrowna horchte auf und ihre Züge wurden plötzlich weich. Sie besann sich noch einige Sekunden, als wüßte sie nicht, wo sie sei und was sie thun solle, dann bewegte sie sich, schnell aufstehend, nach der Thür.
„Aber sie liebt doch mein Kind,“ dachte er, die Veränderung in ihrem Gesicht bei dem Geschrei des Kindes ‚seines Kindes‘ bemerkend; „wie sollte sie mich da hassen können?“
„Dolly, noch ein Wort,“ begann er, zu ihr hintretend.
„Wenn Ihr mir nachkommt, rufe ich die Leute und die Kinder herbei! Alle sollen wissen, was Ihr für ein – Niedriger seid! Ich fahre jetzt fort, Ihr aber werdet hier mit Eurer Liebhaberin bleiben!“
Sie ging hinaus, die Thür hinter sich zuschlagend.
Stefan Arkadjewitsch seufzte, er wischte sich das Gesicht ab und verließ mit leisen Schritten das Gemach.
„Matwey sagt, es würde sich machen, aber wie soll das werden? Ich sehe keine Möglichkeit. Ach, o, wie entsetzlich: und wie trivial sie schrie,“ sprach er zu sich selbst, ihres Schreies und der Worte „Niedriger“ und „Liebhaberin“ gedenkend. „Möglicherweise haben die Mägde es gehört! Entsetzlich gemein, entsetzlich!“ Stefan Arkadjewitsch wartete noch einige Sekunden, rieb sich die Augen aus, seufzte und trat die Brust aufreckend, hinaus.
Es war Freitag; im Speisesaal zog ein deutscher Uhrmacher die Uhren auf. Stefan Arkadjewitsch erinnerte sich eines Scherzes über diesen gewissenhaften kahlköpfigen Uhrmacher, – daß derselbe nämlich selbst für das ganze Leben aufgezogen worden sei, um Uhren aufzuziehen – und lächelte. Stefan Arkadjewitsch liebte einen guten Witz. Aber vielleicht macht es sich doch noch. Das Wörtchen ist gut „es macht sich,“ dachte er, „das muß man erzählen.“
„Matwey!“ rief er. „Also richte alles vor mit Marja im Diwanzimmer für die Anna Arkadjewna,“ befahl er dem erscheinenden Matwey.
„Zu Diensten.“
Stefan Arkadjewitsch warf seinen Pelz über und trat auf die Freitreppe hinaus.
„Ihr werdet nicht im Hause speisen?“ frug Matwey, der ihn begleitete.
„Je nachdem. Übrigens nimm hier für etwaige Ausgaben,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, ihm zehn Rubel aus seiner Brieftasche einhändigend. „Wird es genügen?“
„Mag es genug sein oder nicht, man muß sich eben einrichten,“ sagte Matwey, die Thür zuwerfend und die Freitreppe hinaufgehend.
Darja Alexandrowna war mittlerweile, nachdem sie ihr Kind beruhigt und an dem Geräusch des fortrollenden Wagens wahrgenommen hatte, daß ihr Gatte fortgefahren sei, in das Schlafzimmer zurückgekehrt. Dies war ihr einziger Zufluchtsort vor den häuslichen Sorgen, die an sie herantraten, sobald sie es nur verließ. Auch jetzt, während der kurzen Zeit, da sie in die Kinderstube getreten war, beeilten sich die Engländerin und Matrjona Philimonowna, an sie mehrfache Fragen zu stellen, welche keinen Aufschub duldeten und auf die sie allein nur zu antworten vermochte. Was sollte den Kindern zur Promenade angezogen werden, sollte man ihnen Milch geben, müßte man nicht nach einem neuen Koch senden?
„Ach, laßt mich, verlaßt mich!“ antwortete sie, und ließ sich, in das Schlafzimmer zurückgekehrt, auf dem nämlichen Platze nieder, von dem aus sie mit ihrem Manne gesprochen hatte, um nun, die mageren Hände mit den Ringen, die fast von den knöchernen Fingern herabglitten, zusammenpressend, in der Erinnerung nochmals die ganze Unterredung zu überdenken. „Er ist weggefahren. Aber wie mag er mit ihr abgebrochen haben? Ob er sie noch sieht? Weshalb habe ich ihn nicht gefragt,“ dachte sie, „nein, nein, zusammenkommen kann ich nicht mehr mit ihm. Wenn wir auch unter einem Dache zusammenbleiben sollten, wir werden uns fremd sein. Auf immer fremd!“ wiederholte sie mit besonderer Hervorhebung das für sie so furchtbare Wort. „Und wie ich ihn geliebt habe, großer Gott, wie ich ihn geliebt habe! Liebe ich ihn jetzt etwa nicht? Liebe ich ihn nicht noch mehr, als früher? – Aber die entsetzliche Hauptsache ist die“ – begann sie, ohne indessen ihren Gedanken zu beenden; Matrjona Philimonowna erschien in der Thür.
„Wollt Ihr doch befehlen, daß nach meinem Bruder geschickt werde,“ sagte sie, „damit er das Essen bereite, sonst werden die Kinder wie am gestrigen Tage bis sechs Uhr wieder nichts zu essen haben!“
„Gut. Ich komme sogleich um anzuordnen. Ist nach frischer Milch geschickt worden?“
Darja Alexandrowna versenkte sich nun wieder in die Sorgen des Tages und erstickte in ihnen auf einige Zeit ihren Kummer.