Читать книгу Anna Karenina, 1. Band - Лев Толстой, Лев Николаевич Толстой, Leo Tolstoy - Страница 6

Erster Teil
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Stefan Arkadjewitsch hatte in der Schule gut gelernt, dank seinen guten Anlagen, aber er war faul und müßig gewesen und hatte daher zu den Letzten gehört; ungeachtet seines stets zerstreuten Lebens aber, seines niederen Ranges und seiner Jugend, bekleidete er die ehrenvolle, mit gutem Gehalt dotierte Stelle eines Natschalnik in einem der Moskauer Gerichtshöfe. Er hatte dieses Amt erhalten durch den Gatten seiner Schwester Anna, den Alexey Alexandrowitsch Karenin, der eine der höchsten Stellen in dem Ministerium inne hatte, zu welchem jener Gerichtshof gehörte. Hätte indessen Karenin seinen Schwager nicht in dieses Amt bestellt, so würde dieser mit Hilfe von hundert anderen Persönlichkeiten, Brüdern, Schwestern, Verwandten, Vettern, Onkeln und Tanten dieses Amt oder ein dem entsprechendes mit sechstausend Rubel Gehalt erlangt haben, so wie er sie brauchte, da seine Verhältnisse trotz des bedeutenden Vermögens seiner Frau, derangiert waren.

Halb Moskau und Petersburg war ihm verwandt, mit Stefan Arkadjewitsch befreundet. Er war geboren inmitten jener Menschen, welche die Macht in dieser Welt waren oder bildeten. Ein Drittel der Männer aus der Staatsverwaltung war mit seinem Vater befreundet und hatte ihn schon im Kinderhemdchen gekannt; ein anderes Drittel stand sich mit ihm auf „du“, und das dritte – waren lauter gute Freunde von ihm selbst; es ergab sich hieraus, daß alle die Spender der irdischen Güter in Gestalt von Staatsämtern, Arenden, Konzessionen und ähnlichen Dingen dieser Art, sämtlich mit ihm befreundet waren und ihn nicht unberücksichtigt lassen konnten. Oblonskiy brauchte sich auch gar nicht besonders zu bemühen, um ein fettes Amt zu erhalten; er brauchte nur die Annahme eines solchen nicht zu verweigern, niemandem mißgünstig zu sein, nicht zu streiten, niemandem zu nahe zu treten, kurz, nichts zu thun, was er nach seiner ihm eigenen Gutmütigkeit auch ohnehin niemals gethan haben würde. Es wäre ihm lächerlich erschienen, hätte man ihm gesagt, daß er nicht ein Amt mit einem Gehalte zugewiesen bekommen würde, wie er ihm notwendig war, umsoweniger, als er ja gar nichts Außergewöhnliches damit forderte. Er wollte nur das haben, was seine Altersgenossen erhalten hatten, und er konnte ein Amt von der nämlichen Art nicht minder gut ausfüllen, als jeder andere.

Stefan Arkadjewitsch liebten nicht nur alle diejenigen, die ihn in seiner gutmütigen, heiteren Sinnesart, seiner untadelhaften Ehrenhaftigkeit kennen gelernt hatten, sondern es lag überhaupt in ihm, in seiner hübschen, freundlichen Erscheinung, seinen blitzenden Augen, schwarzen Augenbrauen, Haaren, seinem weißen und rosigen Gesicht etwas physisch Wirkendes, was alle Menschen freundschaftlich und erheiternd anmutete, die mit ihm in Berührung kamen. Kam es einmal vor, daß nach einer Unterhaltung mit ihm sich ergab, es sei nichts gerade Lustiges dabei gewesen, so freute sich doch jedermann – schon am nächsten oder übernächsten Tage – ganz ebenso wieder wie das erste Mal, – über eine neue Begegnung mit ihm.

Seit drei Jahren im Besitz des Amtes des Natschalnik eines der Gerichtshöfe in Moskau, hatte sich Stefan Arkadjewitsch neben der Liebe auch die Achtung seiner Amtskollegen, untergebenen Natschalniks und aller derer erworben, die mit ihm geschäftlich zu thun hatten.

Die vorzüglichsten Eigenschaften Stefan Arkadjewitschs, die ihm diese allgemeine Achtung im Dienste erworben hatten, bestanden zuerst in einer außergewöhnlichen Leutseligkeit im Verkehr, die in ihm auf der Erkenntnis der Mängel seines Ichs beruhte, zweitens in einer vollkommenen Liberalität, nicht jener, von welcher er in der Zeitung gelesen hatte, sondern in jener, die ihm im Blute lag, und mit welcher er in vollkommenem innerem Gleichgewicht mit jedermann verkehrte, welches Berufes und Standes er immer auch sein mochte; drittens – was das Wichtigste war – in einer vollkommenen Kaltblütigkeit gegenüber den Gegenständen, mit denen er sich zu befassen hatte, kraft deren er sich niemals hinreißen ließ und nie Fehler machte.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch am Platze seiner Amtswaltung angelangt war, begab er sich begleitet von dem ehrerbietigen Portier der das Portefeuille trug, in sein kleines Kabinett, legte die Uniform an und verfügte sich in das Gerichtszimmer. Die Schreiber und Beamten erhoben sich sämtlich mit freundlichem und ehrerbietigem Gruße. Stefan Arkadjewitsch ging eilig, wie er dies stets zu thun pflegte, nach seinem Platze, drückte den Mitgliedern die Hände und nahm Platz. Er scherzte ein wenig, sprach ruhig wie viel sich eben gerade schickte, und widmete sich dann seiner Arbeit.

Niemand verstand es besser als Stefan Arkadjewitsch, jene Grenze in Selbständigkeit, in Einfachheit und im amtlichen Verkehr zu finden, welche zu einer angenehmen amtlichen Thätigkeit notwendig ist. Der Sekretär trat freundlich und ehrerbietig wie jedermann im Gerichtshof Stefan Arkadjewitschs mit den Papieren zu diesem heran und sprach in dem nämlichen familiär liberalen Tone mit ihm, wie er eben durch ihn erst eingeführt worden war.

„Wir haben gewisse Nachrichten von der Regierung des Gouvernement Penza erhalten. Hier sind sie, wäre es vielleicht gefällig“ —

„Haben wir sie endlich erhalten?“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, die Akten mit dem Finger zuschlagend. „Also frisch ans Werk, meine Herren!“ und die Gerichtssitzung begann.

„Wenn sie wüßten,“ dachte er, mit ausdrucksvoller Miene das Haupt bei dem Anhören des Referats neigend, „welch ein arger Sünder eine halbe Stunde vor diesem Augenblick der Präsident dieser Sitzung war!“ Sein Blick aber lächelte bei der Verlesung des Referats. Zwei Stunden vergingen nun vorschriftsmäßig und ohne Unterbrechung in den Amtsgeschäften, nach Verlauf dieser Zeit jedoch trat die Frühstückspause ein.

Noch nicht zwei Stunden waren vergangen, als sich die großen Glasthüren des Saales plötzlich öffneten und jemand hereintrat. Alle Mitglieder der Sitzung schauten, gleichsam wie bei einer photographischen Aufnahme, erfreut über die willkommene Zerstreuung, nach der Thür, aber der Wächter, welcher dort postiert war, trieb den Eingedrungenen sogleich wieder zurück und schloß hinter ihm von neuem die Glasthür.

Als die Aktenlektüre beendet war, erhob sich Stefan Arkadjewitsch, streckte sich, zog in Gegenwart der Sitzungsmitglieder eine Cigarette hervor und begab sich, diesen noch großmütig eine vorzeitige Muße schenkend, in sein Kabinett. Seine beiden Kollegen, der altgediente Nikitin, und der Kammerjunker Grinjewitsch, folgten ihm.

„Nach dem Frühstück wollen wir die Sache vollends erledigen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch.

„Wir werden schon fertig werden,“ meinte Nikitin.

„Ein echter Verschwender muß aber doch dieser Thomitsch sein,“ bemerkte Grinjewitsch in Hinblick auf eine von den Persönlichkeiten, welche an dem Prozeß beteiligt waren, den man soeben behandelt hatte.

Stefan Arkadjewitsch runzelte die Stirn bei diesen Worten Grinjewitschs, und gab diesem damit zu verstehen, daß es nicht angemessen sei, vorzeitig ein Urteil auszusprechen; er antwortete nichts auf Grinjewitschs Bemerkung.

„Wer war denn vorhin hereingekommen?“ frug er den Wächter.

„Irgend jemand, Ew. Excellenz, war ohne angefragt zu haben eingetreten, ich hatte mich gerade wegbegeben. Man frug nach Euch, und ich beschied, daß wenn die Mitglieder der Sitzung herauskommen würden“ —

„Wo ist der Mann?“

„Der Mann ging auf den Vorsaal hinaus und hat sich dort aufgehalten. Der dort ist es,“ antwortete der Wächter, auf einen stark und kräftig gebauten Mann mit krausem Barte zeigend, der, ohne seine Schaffellmütze vom Kopfe zu nehmen, schnell und gewandt die ausgetretenen Stufen der steinernen Treppe hinaufstieg. Ein schmächtiger Beamter, welcher sich gerade mit einem Portefeuille unter den von oben Herabkommenden befand, war stehen geblieben und schaute mit verdächtigem Blicke nach den Füßen des Hinaufeilenden, worauf er sich mit fragendem Ausdruck nach Oblonskiy hinwandte.

Stefan Arkadjewitsch stand auf der Treppe. Sein gutmütiges Gesicht glänzte aus dem gestickten Kragen der Uniform nur noch mehr auf, nachdem er den Eilenden erkannt hatte.

„Da ist er ja! Lewin; endlich!“ rief er mit vertraulichem und ironischem Lächeln dem ihm entgegenkommenden Lewin zu. „Wie kommt es denn, daß du es nicht verschmäht hast, mich in dieser Löwenhöhle aufzusuchen?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, nicht zufrieden, seinem Freunde die Hand zu drücken und ihm einen Kuß applizierend.

„Bist du schon lange hier?“

„Soeben bin ich angekommen, und mich verlangte sehr, dich zu sehen,“ antwortete Lewin, befangen und zugleich auch aufgeregt und unruhig im Kreise umherblickend.

„Nun, komm, wir wollen in mein Kabinett gehen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch.

Er kannte die selbstbewußte und leicht gereizte Befangenheit seines Freundes, und zog ihn, nachdem er ihn bei der Hand genommen hatte, hinter sich her nach dem Kabinett, gleich als geleite er ihn durch Gefahren.

Stefan Arkadjewitsch stand sich auf „du“ mit allen seinen Freunden; mit den Alten von sechzig Jahren, mit den jungen von zwanzig, mit Schauspielern und Ministern, mit Kaufleuten und Generaladjutanten, so daß sehr viele der mit ihm auf Brüderschaft stehenden sich auf den beiden Endpunkten der gesellschaftlichen Stufenleiter der Standesunterschiede befanden und sehr verwundert gewesen wären, wenn sie erfahren hätten, daß sie durch Oblonskiy etwas allgemein bindendes gemeinsam hatten.

Er stand auf du und du mit jedermann, mit dem er Champagner getrunken hatte, und er trank mit Allen Champagner; aus diesem Grunde aber verstand er auch, wenn er in Gegenwart seiner Untergebenen ihn herabwürdigende „Duzfreunde“ traf, wie er viele seiner Freunde nannte, infolge des ihm eigenen Taktgefühls den unangenehmen Eindruck den dies auf die untergebenen Beamten machte, herabzustimmen. Lewin war nicht einer von denen, die durch das Duzen ihn erniedrigten, aber Oblonskiy in seinem Takte empfand, Lewin werde innerlich nicht wünschen können, daß er die beiderseitige Intimität so zum Ausdruck bringe, und deshalb beeilte er sich, ihn in das Kabinett zu führen.

Lewin war fast im nämlichen Alter mit Oblonskiy und er stand auf dem Duzfuße mit diesem nicht nur infolge des Champagnertrinkens. Lewin war Oblonskiys Kamerad und Freund von frühester Jugend auf; beide liebten einander ungeachtet der Verschiedenheit ihrer Charaktere und Geschmacksrichtung, wie sich eben nur Freunde lieben können, die von erster Jugend auf miteinander zusammen gewesen sind.

Aber nichtsdestoweniger, wie oft kommt es nicht unter den Menschen vor, daß wenn Zwei sich verschiedene Wirkungskreise erkoren haben, jeder von ihnen, wenn er auch die Thätigkeit des andern beurteilen kann und gutheißt, sie gleichwohl auf dem Grund seiner Seele verachtet. Jedem schien es, als wenn das Leben, welches er führe, allein ein wirkliches Leben sei, und daß das, welches der andere führe, nur eine Selbstüberschätzung sei. Oblonskiy konnte sich eines leichten, ironischen Lächelns beim Erblicken Lewins nicht erwehren. Es war dies stets der Fall, wenn er Lewin von dessen Dorfe nach Moskau kommen sah, denn was dieser eigentlich auf dem Dorfe trieb, das vermochte Stefan Arkadjewitsch niemals vollständig zu verstehen – es interessierte ihn aber auch herzlich wenig. —

Lewin kam nach Moskau stets in Aufregung, in Hast und Unruhe, in einer gewissen Beklemmung und mit einem gewissen Zorn über diese Beklemmung, hauptsächlich aber mit einer völlig naiven, urwüchsigen Anschauung der Dinge. Stefan Arkadjewitsch lachte darüber und liebte es dabei.

Ganz ebenso verachtete auch Lewin in seinem Innern sowohl die großstädtische Lebensweise seines Freundes und dessen Amtsthätigkeit, die er für höchst leer und nichtig hielt, und lachte wiederum über Oblonskiy. Aber der Unterschied lag darin, daß Oblonskiy, indem er that was alle thun, voll innerer Wahrheit und Gutmütigkeit lachte, während Lewin dies ohne jene Wahrheit und bisweilen voll Zornes that.

„Wir haben lange auf dich gewartet,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, in das Kabinett eintretend und die Hand Lewins loslassend, gleichsam als wolle er diesem damit zeigen, daß nun die Gefahren vorüber seien. „Ich freue mich herzlich, dich zu sehen,“ fuhr er fort, „nun, was machst du? Wie geht es? Wann bist du angekommen?“

Lewin schwieg; er schaute auf die ihm unbekannten Gesichter der beiden Kollegen Oblonskiys und insbesondere auf die Hand des eleganten Grinjewitsch, die so schneeweiße schlanke Finger hatte, an deren Enden so lange, gelbliche zurückgebogene Nägel saßen, sowie auf die ungeheuren, glitzernden Knopfspangen auf dem Oberhemd; diese Hände hatten augenscheinlich all seine Aufmerksamkeit gefesselt, und gaben ihm keine Freiheit zu denken mehr. Oblonskiy bemerkte dies sogleich und lächelte.

„Ah, erlaubt, daß ich Euch bekannt mache,“ sagte er.

„Meine Amtsbrüder; Philipp Iwanitsch Nikitin – Michail Stanislawitsch Grinjewitsch“ – und fuhr hierauf fort, zu Lewin gewendet, „ein Landrichter, ein noch unverdorbener Mensch der Natur, ein Gymnast, der mit einer Hand fünf Pud aufhebt, der Vieh züchtet und jagt und mein Freund ist, Konstantin Dmitriewitsch Lewin, ein Bruder von Sergey Iwanowitsch Koznyscheff.“

„Sehr angenehm,“ antwortete der Alte.

„Ich habe wohl die Ehre, Ihren Herrn Bruder zu kennen, den Sergey Iwanowitsch,“ sagte Grinjewitsch, seine feine Hand mit den langen Nägeln Lewin reichend.

Dieser verzog das Gesicht, drückte ceremoniell die dargereichte Hand und wandte sich hierauf sogleich an Oblonskiy. Obwohl er eine hohe Achtung vor seinem in ganz Rußland bekannten einzigen Bruder, welcher Schriftsteller war, hegte, so vermochte er es doch nicht zu ertragen, wenn man sich an ihn nicht wie an Konstantin Lewin wandte, sondern an den Bruder des berühmten Koznyscheff.

„Nein, nein, ich bin kein Landrichter mehr; ich habe mit alledem gebrochen und werde zu keiner Bauernversammlung mehr fahren,“ sagte er, sich an Oblonskiy wendend.

„So schnell ist das gegangen!“ antwortete Oblonskiy lächelnd, „aber wie ist das geschehen, und weshalb?“

„Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir schon einmal erzählen,“ versetzte Lewin, begann aber dabei schon im Augenblick zu berichten.

„Mit kurzen Worten; ich habe mich überzeugt, daß es keinen Wirkungskreis für den Semstwo mehr giebt oder geben kann,“ sagte er in einem Tone, als habe ihn soeben jemand beleidigt. „Einerseits ist er eine Spielerei; man spielt Parlament, und ich bin weder jung genug hierzu noch hinlänglich bejahrt, um an Spielzeugen Gefallen zu finden, andrerseits“ – er gähnte – „ist er ein Mittel für die sogenannte Clique des betreffenden Landkreises, Geld zu verdienen. Früher gab es Vormundschaften, Gerichte, jetzt existiert das Semstwo, nicht unter der Flagge von Sportelschneiderei, sondern der des unverdienten Gehalts,“ sprach er so hitzig, als habe jemand von den Anwesenden seine Meinung schon bestritten.

„Aha, da bist du ja, wie ich sehe, wiederum in einem neuen Entwicklungsstadium, in dem des Konservatismus,“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Indessen, wir wollen doch später mehr hierüber sprechen.“

„Ja wohl. Später. Ich habe dich indessen einmal sehen müssen,“ antwortete Lewin, scheel auf die Hand Grinjewitschs blickend.

Stefan Arkadjewitsch lächelte kaum merklich.

„Sagtest du nicht auch einmal, daß du nie und nimmermehr einen modernen Anzug anlegen würdest?“ frug er, auf die Garderobe Lewins blickend, dessen Anzug augenscheinlich von einem französischen Tailleur gefertigt war. „Es ist schon so; ich sehe, daß hier eine neue Phase eingetreten ist.“

Lewin errötete plötzlich, doch er errötete nicht so, wie die erwachsenen Leute, also flüchtig, und ohne daß man selbst davon Notiz nimmt, sondern so wie Knaben erröten, welche fühlen, daß sie in ihrer Befangenheit lächerlich werden, und die infolge davon mehr und mehr Scham empfinden, röter und röter werden, und fast in Thränen ausbrechen.

So seltsam war es, dieses verständige, männliche Antlitz in solch einem knabenhaften Zustande zu sehen, daß selbst Oblonskiy abstand, es länger noch anzublicken.

„Aber wo wollen wir uns sehen? Ich muß dich ja so dringend sprechen,“ fuhr Lewin fort.

Oblonskiy schien nachzudenken.

„Machen wir es so: Wir fahren zu Gurin frühstücken und dort können wir uns unterhalten; bis drei Uhr stehe ich zu deiner Verfügung.“

„Nein,“ antwortete Lewin sinnend, „ich muß noch weiter fahren.“

„Gut; dann speisen wir Mittag zusammen.“

„Speisen? Ich will ja gar nichts Besonderes von dir, nur zwei Worte mit dir sprechen, dich etwas fragen; dann können wir uns meinethalben unterhalten.“

„Nun, so sag mir diese zwei Worte und nach dem Mittagessen können wir weiter reden.“

„Die zwei Worte sind diese,“ sagte Lewin, „jedoch – sie haben nichts Besonderes.“ —

Sein Gesicht nahm plötzlich einen zornigen Ausdruck an, welcher von dem Bestreben, seine innere Gepreßtheit zu unterdrücken herrührte.

„Was machen die Schtscherbazkiy? Steht es noch immer bei ihnen wie früher?“ frug er.

Stefan Arkadjewitsch, welcher längst wußte, daß Lewin in seine Schwägerin Kity verliebt war, lächelte fast unmerklich, seine Augen blitzten aber heiter auf.

„Du sagtest mir zwar zwei Worte, ich aber bin nicht imstande, dir mit ebenso viel Worten nur zu antworten, denn – entschuldige auf einen Augenblick“ —

Ein Sekretär trat mit Akten ein und näherte sich Oblonskiy mit freundlicher Ehrerbietung und einem gewissen, allen Sekretären gemeinsamen bescheidenen Selbstbewußtsein, welches hier hervorging aus dem Gefühl der Überlegenheit über seinen Vorgesetzten in der Kenntnis der Amtsgeschäfte. Der Sekretär begann mit fragendem Ausdruck eine Angelegenheit auseinanderzusetzen.

Stefan Arkadjewitsch legte ohne den Sekretär zu Ende zu hören, freundlich seine Hand auf den Arm desselben.

„Nein, nein, Ihr müßt schon so thun, wie ich gesagt habe,“ antwortete er ihm, seine Weisung durch ein Lächeln abschwächend und kurz auseinandersetzend, wie er die Sache auffasse. Er nahm die Akten weg und sagte: „So also macht Ihr es gefälligst wohl, Zacharias Nikitin!“

Verwirrt entfernte sich der Sekretär.

Lewin hatte sich während der Zeit der Beratung mit demselben vollständig wieder von seiner Verlegenheit befreit; er stand jetzt, beide Arme auf einen Stuhl gestützt und auf seinem Gesicht zeigte sich eine ironische Aufmerksamkeit.

„Ich verstehe nicht, verstehe nicht,“ sprach er.

„Was verstehst du nicht?“ frug Oblonskiy, mit sonnigem Lächeln eine Zigarette hervorholend. Er erwartete von Lewin wieder eine seltsame Deduktion.

„Ich verstehe nicht, was Ihr da thut,“ sagte Lewin, die Achseln zuckend. „Wie kannst du das vollen Ernstes thun?“

„Wovon sprichst du denn?“

„Nun, davon, daß – Ihr nichts thut!“

„So denkst du wohl, aber wir sind von Geschäften überhäuft.“

„Von papiernen. Mag sein, du hast eine besondere Anlage dazu,“ bemerkte Lewin.

„Denkst du, daß ich etwa Mangel daran litte?“

„Ist nicht ganz unmöglich,“ antwortete Lewin. Aber nichtsdestoweniger liebe ich deine Erhabenheit hier und bin stolz, daß ich einen so großen Mann zum Freunde habe. Du hast mir aber doch noch nicht auf meine Frage geantwortet,“ fügte er hinzu, mit verzweifelter Anstrengung Oblonskiy gerade in das Auge schauend.

„Nun, gut, gut; warte noch ein wenig und du wirst schon noch hören. Es ist recht gut, wenn man nicht weniger als dreitausend Desjatinen Landes im Karazinsker Kreise besitzt und solche Muskeln hat wie du, solch eine Frische wie ein zwölfjähriges Mädchen – aber du kommst schon auch noch auf unseren Standpunkt. Was aber jenes andere anbetrifft, wonach du frugst, so ist von einer Veränderung nichts zu berichten; schade indessen ist es, daß du so lange nicht hier gewesen bist.“

„Ist etwas vorgefallen?“ frug Lewin erschreckt.

„Nein, nichts,“ antwortete Oblonskiy. „Wir werden schon noch weiter sprechen, warum aber bist du denn eigentlich nach Moskau gefahren?“

„O, davon werden wir gleichfalls nachher sprechen,“ versetzte Lewin, wiederum bis an die Ohren errötend.

„Schön. Ich begreife,“ äußerte Stefan Arkadjewitsch.

„Weißt du übrigens, ich würde dich zu mir einladen, allein meine Frau ist jetzt nicht recht gesund. Willst du indessen die Schtscherbazkiys heute sehen, so sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt im Zoologischen Garten, von vier bis fünf Uhr. Kity läuft Schlittschuh. Fahre hin, und ich werde auch nachkommen; wir können alsdann irgendwo vereint dinieren.“

„Ausgezeichnet, auf Wiedersehen also.“

„Sieh aber zu, denn so wie ich dich kenne, kannst du alles plötzlich vergessen haben, oder wieder auf das Dorf gefahren sein!“ rief Stefan Arkadjewitsch lachend aus.

„O nein; gewiß nicht.“

Er eilte davon, und besann sich erst an der Thür des Kabinetts, daß er die Kollegen Oblonskiys gar nicht zum Abschied begrüßt hatte.

„Er scheint ein sehr energischer Herr zu sein,“ sagte Grinjewitsch, nachdem Lewin gegangen war.

„Ja, Verehrtester,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, den Kopf schüttelnd – „der ist doch ein Glückspilz! Dreitausend Desjatinen Landbesitz im Karazinsker Kreise, und diese Gesundheit! Könnte es unser einem nicht ebenso gut ergehen.“

„Beklagt Ihr Euch etwa noch, Stefan Arkadjewitsch?“

„Ach ja, es ist recht traurig, recht schlimm,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.

Anna Karenina, 1. Band

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