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Das Geschichtsexamen

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Am 16. April betrat ich unter dem Schutze St. Jérômes zum ersten Male den großen Universitätssaal. Wir waren in unserem ziemlich eleganten Phaeton vorgefahren. Ich war zum ersten Male in meinem Leben im Frack, und alles, was ich an mir hatte, sogar die Wäsche und die Strümpfe, war ganz neu und sehr fein. Als der Schweizer mir unten den Mantel abnahm und ich in der ganzen Pracht meines Anzuges vor ihm stand, genierte ich mich sogar ein wenig, daß ich gar so elegant sei; als ich jedoch den hellen Parkettsaal betrat, der voller Menschen war, und die Hunderte junger Leute in Gymnasiastenuniform oder in Frack, von denen einige mich gleichgültig anblickten, und am Ende des Saales die Professoren mit ihren ernsten Mienen sah, die ungezwungen um die Tische herumgingen oder in großen Lehnstühlen saßen, – da verlor ich sofort die Hoffnung, die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und mein Gesicht, das zu Hause und noch hier im Flur eine Art von Bedauern darüber verriet, daß ich wider Willen so vornehm und stattlich aussah, nahm den Ausdruck größter Verzagtheit und einer gewissen Mutlosigkeit an. Ich verfiel sogar in die entgegengesetzte Übertreibung und freute mich sehr, als ich aus der nächsten Bank einen außergewöhnlich schlecht und unsauber gekleideten, noch nicht alten, aber fast ganz grauhaarigen Herrn erblickte, der, von den andern entfernt, auf einer der hinteren Bänke saß. Ich setzte mich sofort zu ihm und begann die Examinanden zu betrachten und meine Beobachtungen zu machen; es gab da verschiedene Gestalten und Gesichter, doch sie alle ließen sich, nach meinen damaligen Ansichten, leicht in drei Gattungen teilen.

Da waren solche, die wie ich mit dem Hauslehrer oder den Eltern zum Examen gekommen waren, in ihrer Zahl der jüngere Iwin mit dem mir bekannten Frost und Ilinka Grapp mit seinem alten Vater; diese alle hatten einen Flaum um das Kinn und steife Wäsche an, saßen ruhig da, ohne die Bücher und Hefte, die sie mitgebracht hatten, zu öffnen, und blickten mit sichtlicher Ängstlichkeit auf die Professoren und die Prüfungstische. Die Examinanden der zweiten Gattung waren junge Leute in Gymnasiastenuniform, von denen viele sich schon rasierten; sie waren zumeist miteinander bekannt, sprachen laut, nannten die Professoren mit Tauf- und Vatersnamen, studierten noch, reichten einander die Hefte, kletterten über die Bänke, holten sich aus dem Korridor Pastetchen und belegte Butterbrote, die sie gleich verzehrten, wobei sie nur ein wenig den Kopf zur Bank hinabneigten. Die Examinanden der dritten Gattung, deren es übrigens nicht viele gab, waren ganz alte Männer im Frack oder noch häufiger im geschlossenen Rock, der die Wäsche verdeckte; diese benahmen sich sehr ernst, saßen abgesondert da und hatten ein düsteres Aussehen; der, der mir dadurch ein Trost gewesen, daß er sicherlich schlechter gekleidet war als ich, gehörte zu dieser letzten Gattung. Den Kopf auf beide Hände gestützt – zerwühlte, halbgraue Haare drängten sich durch seine Finger –, saß er da und las in einem Buche, nachdem er mich nur einen Augenblick mit seinen glänzenden Augen nicht grade wohlwollend angeblickt hatte. Er machte ein finsteres Gesicht und streckte nach der Seite, wo ich Platz genommen, seinen glänzenden Ellenbogen hin, damit ich nicht näher an ihn heranrückte. Die Gymnasiasten dagegen waren sehr umgänglich, und ich fürchtete mich ein wenig vor ihnen. Einer schob mir ein Buch in die Hand und sagte: »Geben Sie das dem da!« ein anderer rief im Vorübergehen: »Lassen Sie mich mal durch, mein Lieber!« ein dritter kletterte über die Bank und stützte sich dabei auf meine Schulter wie auf einen Tisch. All das war mir fremd und unangenehm; ich hielt mich für viel mehr als diese Gymnasiasten und meinte, daß sie sich solche Familiaritäten gegen mich nicht erlauben sollten. Endlich begann das Aufrufen der Namen: die Gymnasiasten traten furchtlos vor, antworteten zumeist gut und kehrten gut gelaunt auf ihre Plätze zurück. Die Examinanden meiner Gattung waren viel schüchterner und antworteten, wie ich glaube, auch schlechter; von den alten antworteten einige ausgezeichnet, die anderen sehr schlecht. Als der Name Ssemjonow aufgerufen wurde, stieg mein Nachbar mit den grauen Haaren und den glänzenden Augen über meine Füße, indem er mich unhöflich anstieß, und trat an den Tisch heran. Wie man aus den Gesichtern der Professoren schließen konnte, antwortete er sehr gut und ohne Scheu. Nachdem er auf seinen Platz zurückgekehrt war, nahm er, ohne nachzufragen, welche Note er bekommen, ruhig seine Bücher und ging hinaus. – Schon mehrmals war ich beim Klang der Stimme, welche die Namen aufrief, zusammengefahren, aber noch war nach dem alphabetischen Verzeichnis die Reihe nicht an mich gekommen, obgleich schon Namen, die mit I anfingen, aufgerufen worden waren. – »Ikonin und Tenjew«, rief plötzlich jemand in der Professorenecke. Ein Schauer lief mir über den Rücken und das Haar.

»Wer ist gerufen? Wer ist Bartenjew?« wurde um mich her gefragt.

»Ikonin, geh, du bist gerufen; aber wer ist Bartenjew – Mortenjew? Ich kenne ihn nicht; melde dich doch«, rief ein hochgewachsener, rotwangiger Gymnasiast, der hinter mir stand.

»Sie sind an der Reihe«, sagte St. Jérôme zu mir.

»Ich heiße Irtenjew«, sprach ich zu dem rotwangigen Gymnasiasten, »ist Irtenjew gerufen?«

»Jawohl, warum gehen Sie denn nicht? – Seht nur den Stutzer«, fügte er halblaut hinzu, doch so, daß ich seine Worte hörte, als ich aus der Bank trat. Vor mir ging Ikonin, ein schlanker, junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der zu der dritten Gattung gehörte, zu den alten. Er trug einen olivgrünen, engen Frack, eine blaue Atlashalsbinde, auf welche rückwärts die langen, blonden Haare fielen, die sorgfältig à la mushik gekämmt waren; mir war sein Äußeres schon in der Bank aufgefallen: er war nicht häßlich und recht gesprächig, und mich frappierte besonders das seltsame, rotblonde Haar, das er sich auf den Hals herabhängen ließ, und noch mehr seine merkwürdige Gewohnheit, immer wieder die Weste aufzuknöpfen und sich unter dem Hemd die Brust zu kratzen.

Drei Professoren saßen an dem Tisch, zu dem ich mit Ikonin herantrat; keiner von ihnen erwiderte unseren Gruß. Ein junger Professor mischte die Fragezettel wie ein Spiel Karten; ein anderer mit einem Orden auf dem Frack blickte einen Gymnasiasten an, der sehr schnell etwas von Karl dem Großen erzählte und jeden Satz mit »endlich« begann; und der dritte, ein alter Herr mit Augengläsern, blickte uns mit gesenktem Kopfe über die Brille an und zeigte auf die Fragezettel. Ich fühlte, daß sein Blick gleichzeitig auf mich und auf Ikonin gerichtet war und daß ihm irgend etwas an uns nicht gefiel (vielleicht Ikonins rotes Haar), denn er machte, wiederum uns beide zugleich anblickend, ein ungeduldiges Zeichen mit dem Kopfe, daß wir die Fragezettel schneller nehmen sollten. Ich war ärgerlich und fühlte mich gekränkt, erstens weil niemand unsern Gruß erwidert hatte, und zweitens weil man mich offenbar mit Ikonin unter dem einen Begriff »Examinanden« zusammenfaßte, und daß man gegen mich wegen Ikonins roter Haare voreingenommen war. Ich nahm ohne Scheu einen Zettel und wollte eben antworten, als der Professor mit den Augen auf Ikonin wies. Ich las meine Frage durch, sie war mir bekannt, und ruhig wartend, bis an mich die Reihe kam, beobachtete ich, was vor meinen Augen geschah. Ikonin war gar nicht schüchtern, ja er schob sich gleichsam mit seiner ganzen Figur fast zu keck vor, um den Zettel zu ziehen, warf sein Haar zurück und las mutig, was auf dem Zettel geschrieben stand. Er öffnete schon den Mund um, wie mir schien, die Antwort zu beginnen, als plötzlich der Professor mit dem Orden den Gymnasiasten mit einer Belobung entließ und uns anblickte; Ikonin schien sich auf etwas zu besinnen und hielt inne. Das allgemeine Schweigen dauerte etwa zwei Minuten.

»Nun?« sagte der Professor mit der Brille.

Ikonin öffnete den Mund, blieb aber wieder stumm.

»Sie sind doch nicht allein hier, belieben Sie zu antworten oder nicht?« fragte der junge Professor.

Aber Ikonin blickte ihn nicht einmal an, er betrachtete aufmerksam seinen Zettel und brachte kein Wort hervor. Der Professor mit den Augengläsern schaute ihn sowohl durch die Brille, als über die Brille und auch ohne Brille an, denn er hatte Zeit gehabt, die Brille abzunehmen, sorgfältig zu putzen und wieder aufzusetzen. Ikonin brachte kein Wort hervor. Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem Gesichte, er warf das Haar zurück, wandte sich wieder in ganzer Größe dem Tische zu, legte den Zettel hin, sah alle Professoren der Reihe nach an, sah dann mich an, kehrte sich um und ging mit festen Schritten, die Arme hin- und herschwenkend, auf seinen Platz zurück. Die Professoren warfen sich Blicke zu.

»Ein nettes Täubchen!« sagte der junge Professor, »es ist einer, der auf eigene Kosten studiert.«

Ich trat näher an den Tisch heran, aber die Professoren fuhren fort, fast flüsternd miteinander zu sprechen, als ahne niemand von ihnen meine Anwesenheit. Ich war damals fest überzeugt, daß alle drei Professoren nur die eine Frage beschäftigte, ob ich das Examen bestehen und ob ich es gut bestehen würde, und daß sie sich nur aus Wichtigtuerei so stellten, als sei ihnen das ganz gleichgültig, und als bemerkten sie mich nicht.

Als der Professor mit der Brille sich gleichgültig zu mir wandte und mich aufforderte, die Frage zu beantworten, und ich ihm in die Augen sah, schämte ich mich gewissermaßen für ihn, daß er so heuchelte, und ich stockte ein wenig beim Beginne der Antwort; dann aber ging es besser und besser, und da die Frage der russischen Geschichte, die ich sehr gut kannte, entnommen war, so endete ich glänzend und verstieg mich sogar dazu, daß ich, um die Professoren fühlen zu lassen, daß ich nicht Ikonin sei, und daß man mich mit ihm nicht verwechseln dürfe, ihnen vorschlug, noch eine Frage zu ziehen. Aber der Professor sagte nur mit dem Kopfe nickend: »Gut ist's!« und vermerkte etwas im Notizbuch. Als ich zu meiner Bank zurückgekehrt war, hörte ich sofort von den Gymnasiasten, die weiß Gott woher alles erfuhren, daß ich eine Fünf1 bekommen habe.

1 In den russischen Schulen gilt 5 als die beste, 1 als die schlechteste Zensurnote. (Anm. d. Übers.)

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