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Lebensregeln

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Ich nahm ein Blatt Papier und wollte vor allen Dingen meine Pflichten und Arbeiten für das nächste Jahr verzeichnen. Das Papier mußte liniert werden, da ich aber kein Lineal fand, benützte ich dazu das lateinische Wörterbuch; aber abgesehen davon, daß ich, mit der Feder am Wörterbuch entlang fahrend und es dann fortschiebend, statt der Linie auf dem Papier eine längliche Tintenpfütze gemacht hatte, reichte das Buch auch nicht über das ganze Blatt, und die Linie war an der Ecke umgebogen. Ich nahm ein anderes Blatt, schob das Wörterbuch weiter und nun gelang das Linieren einigermaßen. Nachdem ich meine Pflichten in drei Arten zerlegt hatte: in die Pflichten gegen mich selbst, gegen meinen Nächsten und gegen Gott, begann ich die ersteren niederzuschreiben; es stellte sich aber heraus, daß sie so zahlreich und so verschiedenartig waren und daß es so viele Unterabteilungen gab, daß es mir nötig erschien, zuerst die »Lebensregeln« niederzuschreiben und dann erst das Verzeichnis zu entwerfen. Ich nahm sechs Bogen Papier, nähte sie zu einem Heft zusammen und schrieb darauf »Lebensregeln«. Dieses Wort war so schief und ungleichmäßig geschrieben, daß ich lange überlegte, ob ich es nicht lieber umschreiben sollte, und mich beim Anblick des zerrissenen Planes und der mißratenen Aufschrift quälte. Warum war in meiner Seele alles so klar und schön, und warum erschien es auf dem Papier und überhaupt im Leben so häßlich, wenn ich etwas von dem, was ich dachte, verwirklichen wollte?

»Der Beichtvater ist da, bitte herunterzukommen und die Glaubenssätze anzuhören«, meldete Nikolaj.

Ich verbarg das Heft in der Tischlade, warf einen Blick in den Spiegel, kämmte mein Haar in die Höhe, was mir meiner Überzeugung nach ein gedankenvolles Aussehen gab, und ging hinunter ins Divanzimmer, wo schon ein mit einem Tuch bedeckter, mit einem Heiligenbild und brennenden Wachskerzen bestellter Tisch stand; Papa trat zu gleicher Zeit mit mir durch die andere Tür ins Zimmer. Der Beichtvater, ein weißhaariger Mönch mit strengen, greisenhaften Zügen, erteilte Papa den Segen; Papa küßte seine kleine, breite, dürre Hand, ich tat das Gleiche.

»Ruft Wolodja«, sagte Papa, »wo ist er? Oder nein, er beichtet ja in der Universität.«

»Er arbeitet mit dem Fürsten«, sagte Katjenka und blickte dabei Ljubotschka an. Ljubotschka wurde plötzlich rot, runzelte die Stirn, stellte sich, als habe sie irgend welche Schmerzen und ging hinaus. Ich folgte ihr. Sie blieb im Salon stehen und schrieb mit einem kleinen Bleistift noch etwas auf ihren Zettel.

»Was, hast du noch eine neue Sünde?« fragte ich.

»Nein, nichts, nur so«, antwortete sie errötend.

In diesem Moment ertönte im Vorzimmer die Stimme Dmitrijs, der von Wolodja Abschied nahm.

»Für dich ist alles eine Versuchung«, sagte Katjenka, ins Zimmer tretend und sich zu Ljubotschka wendend.

Ich konnte nicht begreifen, was mit meiner Schwester vorging: sie war so verlegen, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten und daß ihre Verwirrung, sich zum äußersten Grade steigernd, in Ärger gegen sich selbst und gegen Katjenka ausartete, die sie offenbar reizte.

»Man sieht gleich, daß du eine Ausländerin bist!« (Nichts konnte Katjenka tiefer kränken als die Bezeichnung Ausländerin, daher gebrauchte Ljubotschka auch den Ausdruck.) »Vor einer solchen Feier –« fuhr sie in wichtigem Tone fort, »und du bringst mich absichtlich aus der Stimmung, – du solltest doch begreifen, es ist doch durchaus kein Scherz –«

»Weißt du, Nikolenka, was sie aufgeschrieben hat?« fragte Katjenka, die durch die Bezeichnung Ausländerin gekränkt war, »sie hat geschrieben –«

»Ich hätte nie geglaubt, daß du so schlecht bist«, rief Ljubotschka in Tränen ausbrechend und von uns fortgehend, »in einem solchen Augenblick und absichtlich immer und ewig einen zur Sünde verleiten! Ich kümmere mich doch auch nicht um deine Gefühle und um deine Leiden!«

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