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Frühling

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In dem Jahr, in welchem ich die Universität bezog, fiel das Osterfest spät in den April, so daß die Prüfungen auf die Woche nach dem Sonntage Quasimodogeniti1 angesetzt waren, und somit mußte ich in der Passionswoche sowohl zu den Sakramenten gehen als auch mein Studium fürs Examen beenden.

Das Wetter war nach dem nassen Schnee – von dem Karl Iwanowitsch zu sagen pflegte: »Der Sohn löst den Vater ab« – schon seit etwa drei Tagen windstill, warm und klar. Auf den Straßen sah man kein Fleckchen Schnee mehr, statt des schmutzigen Breies erschienen das feuchtglänzende Pflaster und schnell dahinrieselnde Rinnsale. Von den Dächern tauten im Sonnenschein die letzten Tröpfchen herab, im Vorgärtchen schwollen die Knospen der Bäume, auf dem Hofe führte ein trockener Pfad zum Pferdeställe hin, vorüber am gefrorenen Düngerhaufen, und an der Veranda grünte zwischen den Steinen moosiges Gras. Es war die Zeit des Frühlings, die am allerstärksten auf die menschliche Seele einwirkt: überall helles, leuchtendes, aber nicht heißes Sonnenlicht, Bächlein und von Schnee befreite Stellen, duftige Frische in der Luft und ein zartblauer Himmel mit langen, durchsichtigen Wölkchen. Ich weiß nicht warum, aber mir scheint dieses erste Frühlingserwachen in der großen Stadt noch fühlbarer und mächtiger auf die Seele zu wirken, – man sieht weniger davon, aber man ahnt desto mehr. Ich stand vor dem Fenster, durch dessen Doppelscheiben die Morgensonne staubige Strahlen auf den Fußboden meines mir bis zur Unerträglichkeit überdrüssig gewordenen Unterrichtszimmers warf, und bemühte mich, an der Tafel eine lange algebraische Gleichung zu lösen. In einer Hand hielt ich die zerrissene, zerdrückte »Algebra« von Franker, in der andern ein kleines Stück Kreide, mit der ich schon beide Hände, mein Gesicht und die Ellbogen meines Rockes beschmutzt hatte. Nikolaj – mit vorgebundener Schürze und aufgestreiften Ärmeln – schlug an dem Fenster, das in das Vorgärtchen führte, die Winterverklebung ab und bog die Nägel zurück. Seine Arbeit und das Geklopfe, das er vollführte, störten meine Aufmerksamkeit. Überdies war ich in sehr schlechter, mißvergnügter Stimmung. Alles mißglückte mir: ich hatte bei Beginn der Rechnung einen Fehler gemacht, so daß ich noch einmal von vorne anfangen mußte; die Kreide hatte ich zweimal fallen lassen, ich fühlte, daß ich mir Gesicht und Hände schmutzig gemacht hatte, der Schwamm war nicht zu finden, der Lärm, den Nikolaj machte, ließ meine Nerven schmerzlich erzittern. Ich hatte Lust, mich zu ärgern und zu schelten; ich warf Kreide und Buch beiseite und begann im Zimmer auf- und niederzugehen. Doch da erinnerte ich mich, daß wir heute zur Beichte gehen sollten und daß ich mich daher von allem Bösen zurückhalten müßte, und plötzlich überkam mich ein eigentümlicher, sanfter Gemütszustand, und ich trat an Nikolaj heran.

»Erlaube, daß ich dir helfe, Nikolaj«, sagte ich, indem ich mich bemühte, in sanftestem Tone zu sprechen; der Gedanke, daß ich gut handelte, wenn ich meinen Ärger unterdrückte und ihm half, verstärkte in mir noch diese weiche Gemütsstimmung.

Die Verklebung war heruntergeklopft, die Nägel waren zurückgebogen, aber obgleich Nikolaj mit aller Kraft an dem Querholz zog, gab der Fensterrahmen nicht nach.

»Wenn der Rahmen jetzt, sobald ich ziehen helfe, herauskommt«, dachte ich, »so bedeutet es Sünde, und ich darf heute nicht mehr studieren.« Der Rahmen gab seitwärts nach und ließ sich herausnehmen.

»Wohin soll ich ihn tragen?« fragte ich.

»Erlauben Sie, ich werd' allein fertig werden«, erwiderte Nikolaj, sichtlich erstaunt und, wie es schien, gar nicht zufrieden mit meinem Eifer; »man darf sie nicht verwechseln, ich habe sie dort in der Bodenkammer nach Nummern geordnet.«

»Ich werd' ihn mir merken«, sagte ich, den Rahmen hochhebend. Ich glaube, wenn die Bodenkammer zwei Werst entfernt und der Fensterrahmen doppelt so schwer gewesen wäre, so hätte mich das gefreut. Ich wollte mich abmühen, indem ich Nikolaj diese Gefälligkeit erwies. Als ich ins Zimmer zurückkam, waren die Ziegelsteinchen und Salzpyramidchen bereits auf dem Fensterbrett zusammengeschoben, und Nikolaj kehrte mit einem Flederwisch Sand und schläfrige Fliegen zum offenen Fenster hinaus. Die frische, wohlriechende Luft war schon ins Zimmer gedrungen und füllte es ganz. Durch das Fenster tönte der Lärm der Stadt und das Zwitschern der Sperlinge im Vorgarten.

Alle Gegenstände waren hell beleuchtet, das Zimmer sah heiterer aus, ein leichter Frühlingswind bewegte die Blätter meiner Algebra und die Haare auf Nikolajs Kopf. Ich trat ans Fenster, setzte mich aufs Fensterbrett, beugte mich hinaus in den Vorgarten und versank in Gedanken.

Ein mir neues, außerordentlich starkes und angenehmes Gefühl erfüllte plötzlich meine Seele. Die feuchte Erde, aus der hier und da hellgrüne Grashalme auf gelben Stängeln hervorsproßten, die in der Sonne glänzenden Bächlein, in denen Erdstückchen und Späne tanzten, die rötlich schimmernden Fliederzweige mit den dicken Knospen, die gerade unter meinem Fenster schaukelten, das geschäftige Zwitschern der Vöglein, die im Gesträuch hin- und herflatterten, der schwärzliche, von zergehendem Schnee nasse Zaun und vor allem die würzige, feuchte Luft und der fröhliche Sonnenschein, – all das sprach zu mir laut und verständlich von etwas Neuem, Schönem, das ich zwar nicht so wiedergeben kann, wie es zu mir sprach, aber das ich mich bemühen will, so wiederzugeben, wie ich es aufnahm, – alles sprach mir von Schönheit, Glück und Tugend, sagte mir, daß eines und das andere für mich leicht und erreichbar sei, daß eines ohne das andere nicht sein könne, und sogar, daß Schönheit, Glück und Tugend ein und dasselbe seien. »Wie habe ich das nicht verstehen können? Wie schlecht war ich früher! Wie gut und glücklich könnte und kann ich doch in Zukunft sein!« sprach ich zu mir selbst; »gleich, gleich, noch in diesem Augenblick muß ich ein anderer Mensch werden und ein neues Leben beginnen!« Dessen ungeachtet saß ich noch lange untätig und in Träumereien versunken auf dem Fensterbrett.

Ist es euch einmal passiert, daß ihr euch an einem Sommernachmittage bei trübem, regnerischem Wetter schlafen legtet und, bei Sonnenuntergang erwachend, die Augen aufschlugt und durch das Fensterviereck, welches unterhalb der leinenen, aufgeblähten und gegen das Fensterbrett schlagenden Stores sichtbar ist, die regennasse, violett schimmernde Schattenseite einer Lindenallee und den feuchten Gartenpfad, der von schrägfallenden Sonnenstrahlen beleuchtet ist, erblicktet, plötzlich das lustige Treiben der Vögel im Garten hörtet und die Insekten saht, die, von der Sonne durchleuchtet, in der Fensteröffnung umherflattern, den Duft der regenfrischen Luft spürtet und euch dachtet: »Schäme ich mich denn wirklich nicht, einen solchen Abend zu verschlafen!« und daß ihr dann schnell aufsprangt, um in den Garten zu gehen und euch des Lebens zu freuen? Wenn euch das je passiert ist, so habt ihr einen Begriff von dem mächtigen Gefühl, das ich in jener Stunde empfand.

1 1. Sonntag nach Ostern

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