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9. Kristine

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Das Problemkind

Das Rattern der S-Bahn, mit dem sie nach dem Nachtdienst in Richtung Heim und Herd zurücktransportiert wurde, ließ ihre müden Augenlider immer schwerer werden. Mühsam kämpfte sie gegen den Schlaf an, der sie zu überkommen drohte. Nicht nur einmal war sie kurz vor dem Ziel eingenickt und erst an der Endhaltestelle Oranienburg wieder aufgewacht. Die Arbeit in der Psychiatrie ermüdete sie mehr, als sie es sich eingestehen wollte. Die Atmosphäre auf der geschlossenen Männerstation war bedrückend, auch wenn die Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen sehr angenehm war. Sie stellten eine eingeschworene Mannschaft dar, wo es nur wenig Streit und Eifersüchteleien gab, wie auf anderen Stationen. Aber dies war wohl eher aus der Not geboren, sich selbst zu schützen, indem man zusammen hielt wie Pech und Schwefel. Sie hatte schon oft überlegt, wieder in eine niedergelassene Praxis zurückzugehen, da sie jedoch keine ausgebildete Arzthelferin war, erwies sich der Wechsel als schwierig. Hinzu kamen die Probleme wegen ihres Sohnes. Es war überhaupt nicht selbstverständlich, dass er alleine zuhause zurechtkam, trotz seiner 14 Jahre. Ihm fehlte ein Vater, denn sein leiblicher Vater war mit dem Abzug der Amerikaner und der Schließung der Kaserne, kurz nach der Wende, wieder zurückgegangen und hatte die überforderte Mutter eines schwer erziehbaren Kindes zurückgelassen, woran auch die Alimente, die regelmäßig eintrafen, nichts änderten.

Der großgewachsene, rothaarige Sohn überragte seine Mutter schon fast um Haupteslänge. Wie andere Jugendliche in diesem Alter war er überzeugt, bereits alles zu wissen, alles zu können und reif für die Anforderungen der Welt zu sein.

Leider entsprachen weder seine schulischen Leistungen diesem Wunschbild noch seine Außenseiterposition unter seinen Mitschülern, die ihn mit Geringschätzigkeit betrachteten, da er sowohl rothaarig wie sein Vater irischer Abstammung als auch ein wenig seltsam war. Er neigte zu Selbstgesprächen, auch im Unterricht, vergaß meist, seine Hausarbeiten zu machen, seine Schultasche ausreichend zu bestücken und bettelte seine Mitschüler gelegentlich ums Pausenbrot an, welches er mit großer Regelmäßigkeit bei seinem hastigen Aufbruch von Zuhause auf dem Küchentisch liegen ließ, obwohl es von Kristine am Abend vorher vorbereitet und in eine gelbe Brotbox verpackt war, da sie erst nach 8 Uhr morgens übermüdet vom Nachtdienst zurückkommen würde.

So auch heute. Kristine betrachtete einen Moment das Chaos, welches sie zuhause vorfand, suchte sich neben Müll und dreckigen Kleidern, die sie vom Sofa wischte einen Platz, legte den Kopf in die Hände und weinte. Sie war am Ende ihrer Kräfte und musste es sich endlich eingestehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Dann musste sie eingeschlafen sein, denn sie erwachte, als sich die Haustür öffnete und ihr Sohn, Timmy, in das Zimmer gestolpert kam.

"Hey, Mam!", grüßte er und schmiss die Schultasche quer durch den Raum, wo sie unter dem Esstisch liegen blieb. "Was gibt es zu essen?"

Kristine sah ihren Sohn an, der ungewaschen und mit verdreckten Klamotten fast den gesamten Türrahmen ausfüllte, ebenso ein Hühne wie sein Vater, und ihr blieb eine wütende Entgegnung im Hals stecken. Sie winkte müde ab, verließ das Zimmer in Richtung Bad.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihr Sohn sich am Küchentisch niederließ und die wiederentdeckte Schulbrotbox missmutig öffnete.

Im Bad angekommen schaute sie einen Moment in den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht wie das einer Fremden. Die Fältchen um Mund und Oberlippe schienen sich wieder einen Deut tiefer eingegraben zu haben, die Unterlider der Augen, von kleinen bläulich violett schimmernden Wassersäckchen angeschwollen, und die Haare wirkten spannungslos und klebten in Strähnen am Kopf. Wenn Sie den Blick in die Ferne schweifen ließ und irgendwo hinter das Spiegelbild ihres Kopfes blickte, dann verschwommen die Gesichtszüge zu Schemen und sie meinte, im Spiegel eine Totenmaske zu sehen.

Sie freute sich auf die Dusche, die sie wiederbeleben würde, auch wenn das Duschgel wieder einmal nirgends zu finden war, entkleidete sich schnell und gab sich mit geschlossenen Augen dem warmen Wasserstrahl hin, der die Strapazen der vergangenen Nacht langsam davon zu spülen begann.

Sie stand wohl einige Zeit völlig versunken unter der Brause, als sie plötzlich die Gegenwart einer weiteren Person zu spüren glaubte. Es war ihr Sohn, der in der Badezimmertür stand und sie, mit einem erigierten Penis, den er kräftig mit der Hand bearbeitete, mit glasigem Blick anstarrte.

Ein kurzer Schreckensschrei entfuhr ihr und sie drehte sich schnell zur Wand. "Tickst du noch richtig?", schrie sie in Richtung der Badezimmertür. "Mach, dass du raus kommst, du Drecksack!"

"Ach, hab dich doch nicht so, Mom, siehst doch noch ziemlich geil aus!"

So ganz genau wusste Kristine nicht, was danach geschah. Sie bemerkte erst, dass sie wohl völlig nackt und nass auf ihren Sohn eingeschlagen und getreten haben musste, als dieser verängstigt in einer Ecke kauerte und ihm das Blut aus Mund und Nase lief. Sein Penis hing nun, weniger erigiert aus dem Hosenschlitz und schien genauso geschrumpft zu sein, wie die innere Größe ihres Sohnes.

"Geh mir aus den Augen !", schrie sie und wies zur Tür. Dieser bemühte sich angestrengt, seine Blöße zu bedecken und winselte: "Aber, wo soll ich denn hin?"

"In die Gosse, du Sau, wo du hingehörst!", gab sie zurück und krümmte sich dann weinend zusammen.

Wie von Ferne vernahm sie, wie Timmy sich offenbar aufrappelte und stöhnend im Badezimmer verschwand. Wenig später hörte sie den Wasserhahn rauschen.

Taumelnd zog sie sich notdürftig einen Hausmantel über und sank auf das Sofa.

So konnte es einfach nicht weiter gehen!

Sie beschloss, sich erst einmal krank schreiben zu lassen und dann zum Jugendamt zu gehen oder zurück zu ihrer Mutter nach Prenzlau und alles stehen und liegen zu lassen, alles zurückzulassen, einschließlich ihres Sohnes, den sie sowieso schon aufgegeben hatte.

Kurz nachdem sie vernahm, dass die Haustür ins Schloss gefallen war, was bedeutete, dass Timmy offenbar die Wohnung verlassen hatte, griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer meiner Praxis, denn so war die Routine. Ich schrieb sie bedenkenlos solange krank, wie sie es verlangte, wenn sie wieder einmal mit den Nerven ganz fertig war, lud sie abends zum Essen ein und machte ihr keinen Heiratsantrag.

Doch diesmal wurde ihr leider mitgeteilt, dass ich derzeit in Urlaub und vorerst nicht zu erreichen sei, voraussichtlich erst Ende nächster Woche wieder, Vertreter sei Dr. Blablabla, den Rest hörte sie nicht mehr.

Sie hielt den Telefonhörer schlaff in der Hand, der missmutig zu tuten begonnen hatte, und blickte mit weit geöffneten, starren Augen auf die gegenüberliegende Wand, deren grobes Raufasermuster sich zu einem seltsamen Muster verdichtet zu haben schien, welches gleichzeitig bewegungslos und doch bewegt und von ungeheurer Tiefe zu sein schien, sich kurz zu ungewöhnlichen, interessanten Formen verdichtete, welche sich sogleich wieder auflösten, um sich dann von neuem zu bilden, Formen, die organische Landschaften widerzuspiegeln schienen, Strukturen und Muster, wie dass Innere einer Qualle oder die komplizierten Organe mikroskopierter Einzeller, dauernd in Neubildung und dauernd in Auflösung begriffen, wesenhaft und doch unbelebt. Sie schüttelte den Kopf und wischte sich kräftig über die Augen, sofort verschwand der Eindruck und die Tapete verdichtete sich wieder zu dem, was sie eigentlich war, eine angegraute, schäbige Wandbekleidung, die dringend überstrichen werden sollte. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass sie heute Nachmittag in den Baumarkt gehen sollte, um sich weiße Wandfarbe zu kaufen, doch sogleich schüttelte sie energisch den Kopf, ließ den Telefonhörer einfach zu Boden fallen, wo er vom Spiralkabel gehalten ein wenig auf und ab tanzte, zog sich an und verließ die Wohnung, ohne den Schlüssel mitzunehmen, was ihr erst bewusst wurde, als das Schloss hinter ihr zuschnappte, sie jedoch völlig gleichgültig ließ, da sie ohnehin nicht mehr zurückkommen würde. Sie fischte einige Euro aus ihrer Manteltasche und machte sich auf in Richtung S-Bahn.

Der Tanz der Bienen

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