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13. Hartmut

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Abrechnung

Hartmut drückte im Aufenthaltsraum seiner gynäkologischen Praxis wohl seine zehnte Zigarette aus, die er innerhalb der letzten 2 Stunden geraucht hatte, bei dem verzweifelten Versuch, ohne Martina die Quartalsabrechnung zu bewältigen. Er fühlte sich einer so erniedrigenden Arbeit, wie dem Sortieren von Krankenscheinen, in keiner Weise gewachsen, zumal auch noch ein Computerprogramm zu verstehen war, welches in der Zusammenfassung online an die Kassenärztliche Vereinigung übersenden sollte.

Sie hatte die Praxis einfach geräumt, ihre wenigen Habseligkeiten mitgenommen und war zum ungünstigsten Zeitpunkt auf und davon. Martina, seine Stütze, die Seele des Betriebs, seine Freundin und beinahe Geliebte. Außer Martina gab es noch die spanische Putzfrau und zwei Halbtagshilfen, von denen eine, Marianne, just jetzt erkrankt war, und die beide nicht in der Lage waren, das Problem alleine zu lösen, auch Emmi nicht, die sich tapfer am Tresen bemühte, der Situation Herr zu werden.

Hartmuts Praxis war so etwas wie ein Kompromiss aus Wohnung und Arbeitsplatz, denn wegen Geldmangels wohnte er auch hier. Entsprechend fanden sich seiner esoterischen Neigung nach viele private Gegenstände in den zwei übrigen Praxisräumen wieder, die er nicht zum Wohnen nutzte, wie Salzkristalllampen, seine private Bibliothek, Bilder mit weiten Landschaften und sensiblen Darstellungen von Gesichtern verschiedenartigster Menschen, Werbebroschüren, die Vertreter von Pharmafirmen stapelweise in der Hoffnung dort gelassen hatten, ihn dafür zu interessieren, sowie letztlich auch Teile seiner ehemaligen Wohnzimmereinrichtung. Die Praxis wirkte urig, aber leider auch ein wenig unprofessionell und war nur für einen zu kleinen Teil des anspruchsvollen Zehlendorfer Klientels akzeptabel. Die Katze biss sich in den Schwanz und Hartmuts Lethargie führte dazu, dass er aus dem Teufelskreis, zu wenig Patienten, zu wenig Geld, um etwas aus seiner Praxis zu machen, um mehr Klientel zu generieren, nicht wieder heraus fand, und jetzt war auch noch Martina, seine einzige Stütze, einfach gegangen. Na ja, einfach nicht. Sie hatte es eigentlich ordentlich lange vorher angekündigt und auch den letzten Monat noch zusätzlich gearbeitet, obwohl sie offiziell bereits außer Dienst war. Aber die Abrechnung wollte sie sich nun doch nicht noch antun und er hatte irgendwie verpasst zu realisieren, dass es ohne sie wohl auch nicht ging. Hartmut war ihr zur unerträglichen Last geworden, wie ein Sack Zement auf ihrer Seele mit seiner Unbeweglichkeit, seinem ausgeprägten Hang zur Melancholie, liebenswürdig, aber eben der Oberlangweiler.

Er blies die Backen auf, um dem Rauch in seiner Lunge etwas mehr Platz zu geben, legte im Ausatmen den Kugelschreiber verzweifelt auf den kleinen Haufen Krankenscheine, wo etwas nachzutragen war, von dem er nicht wusste, was, wann und vor allem mit welcher Abrechnungsziffer, stand auf, um seine Kaffeetasse erneut zu füllen und musste feststellen, dass die Kaffeekanne schon wieder leer war.

Dann nahm er eine abgelesene Zeitung von gestern oder vorgestern und zog sich auf die Personaltoilette zurück.

Dort pflegte er lesend recht lange zu verweilen und hätte dies wohl auch heute getan, hätte er nicht durch die verschlossene Tür die Stimme von Emmi vernommen, die offenbar gerade dabei war, eine Patientin, die es trotz des "Praxis wegen Abrechnung geschlossen" - Schildes gewagt hatte zu klingeln, vor die Tür zu weisen. Er vernahm die aufgeregte Frage der Frau, " Ist Hartmut nicht da?", und vermeinte in der Fragerin Martinas Stimme zu hören. Aber das konnte ja nicht sein, diese hätte Emmi wohl nicht hinaus komplementiert. Immerhin aktivierte ihn die mögliche Rückkehr von Martina soweit, dass er schnell den stillen Ort verließ und sich auf den Weg zum Tresen machte.

Es war nicht Martina, dafür aber auch keine ganz Unbekannte, es war Kristine, die mit verweinten Augen vor dem Tresen stand und völlig erschöpft wirkte.

"Kristine, was ist denn los, du. Hast du Probleme?"

"Kannst du mich krankschreiben, Levi ist nicht da?"

"Wusste gar nicht, dass er Urlaub machen wollte", wunderte sich Hartmut.

"Nun komm erst mal mit und beruhige dich, sag mal, was los ist!"

Hartmut ist Meister im Umgang mit verzweifelten und weinenden Frauen. Er hat eben in seiner Melancholie die Antenne für Leid und die väterliche, ruhige Art.

Kristine ließ sich auf den einzigen Stuhl in der kleinen Anmeldung sinken und wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.

Hartmut streichelte ihr über den Kopf. "Mensch, Kristine, dir geht es ja wirklich nicht gut. Was ist los, bist du schwanger?"

Kristine schüttelte nur den Kopf.

"Ich wäre beinahe entführt worden!"

Hartmut stoppte ungläubig in seiner Bewegung. "Wie, entführt? Du, sag mal, ist das dein Ernst?"

Auch Emmi hielt verblüfft in ihrer Tätigkeit inne. "Echt?"

Kristine schüttelt nur bejahend den Kopf, während ihr die Tränen die Wangen hinunter liefen.

"Du, Kristine, jetzt komm mal, wir trinken jetzt zusammen einen Kaffee und dann erzählst du erst mal, was passiert ist. Komm mal, wir gehen jetzt mal nach hinten. Beruhig dich jetzt erst mal, wird schon wieder alles gut, du."

Er half Kristine vom Stuhl auf, die sich willig führen lies.

"Du, mach uns doch mal einen Kaffee!", sagte er zu Emmi, die verständnisvoll nickte und sich beeilte, vor den beiden im Aufenthaltsraum zu sein. Diese Geschichte wollte sie sich auch nicht entgehen lassen.

Dort angekommen wurde Kristine auf den kleinen Hocker neben dem alten Küchentisch verfrachtet und Hartmut begann beruhigend auf sie einzureden, während Emmi das Kaffeepulver in die altersschwache Maschine schüttete.

"Ich hab durchgedreht", schluchzte Kristine, "Timmy, er macht mich völlig fertig, ich hab ihm eine gelangt, und dann ist er weg und ich bin auch weg. Ich wollte zu meiner Mutter, ich kann nicht mehr."

"So schlimm?", wunderte sich Hartmut professionell.

Kristine nickte und blickte dann auf. "Aber weißt du was? Gerade als ich über die Straße bin, da springen zwei Typen aus einem Lieferwagen auf dem Parkplatz vor unserem Haus raus, packen mich am Arm und wollen mich doch in den Wagen ziehen!"

"Ne, das glaub ich nicht!"

Kristine sah ihn an. "Doch, ehrlich, ich schwör es dir! Die hatten mich schon beinahe drinnen in dem Wagen, ich hab geschrien wie am Spieß und mich gewehrt und ich glaub, die hätten mich auch gekriegt, wenn da nicht unser Nachbar plötzlich von gegenüber angefangen hätte, nach der Polizei zu rufen.

Da hab ich dem einen eine ins Gesicht mit dem Ellenbogen gegeben und bin irgendwie wieder raus aus dem Wagen und auf das Pflaster gefallen. Die sind ruckzuck in den Wagen gesprungen und ab die Post."

"Unglaublich", wunderten sich Emmi und Hartmut empört.

"Und haste die Polizei gerufen?"

"Na klar, der Nachbar hat die gleich herbeigeklingelt. Jetzt komm ich gerade von der Wache, wo ich die Anzeige aufgeben musste."

"Wie sahen die denn aus?", erkundigte sich Hartmut.

Kristine lebte zusehends auf und schien nun ganz in ihrem Element zu sein.

"Weiß nicht, zwei Kerle eben, eigentlich wie zwei Bullen in Zivil, Lederklamotten an, glaub ich, ich hab ja nicht so genau hinschauen können. Es ging alles so schnell!"

"Und das Auto?", erkundigte sich Emmi, die ganz vergessen hatte, Wasser in die Kaffeemaschine zu gießen.

"Irgend so ein weißer Lieferwagen, so ein großer", berichtete Kristine.

"Wie, und sonst haste nichts gesehen?", fragte Emmi aufgeregt. "Ne, ich lag ja auf dem Bürgersteig, aber der Nachbar hat gesagt, es wäre kein deutsches Kennzeichen gewesen. Er tippt auf Polen oder Tschechei oder so."

"Frauenhändler?", mutmaßte Emmi, während Hartmut nur stumm zuhörte.

"Na hör mal", ereiferte sich Kristine, "die nehmen doch was Jüngeres wie mich!"

"Warum willste denn krank geschrieben werden?", fragte Hartmut sachlich.

Kristine sah ihn mit großen Augen an. "Du, weil ich so fertig bin. Der Timmy hat vor mir im Badezimmer gewichst, als ich unter der Dusche stand, und ich krieg den Bengel einfach nicht mehr in den Griff."

"Du, mach mal 'nen Zettel für Kristine fertig", wandte sich Hartmut an Emmi. "Hast du denn deine Chipkarte dabei?"

"Ach du Schreck, ne, ich hab nicht mal einen Hausschlüssel mit."

"Wie kommst du denn dann wieder rein?", fragte Emmi.

"Muss auf Timmy warten", seufzte Kristine.

"Pass mal auf!", sagte Hartmut, "bleib erst mal hier, ich fahr dich nachher mal nach Hause, du, aber wir sind gerade mitten bei der Abrechnung. Wenn wir fertig sind, bring ich dich."

Und damit hatte Kristine einen neuen Job. Denn in Abrechnung war sie bei mir auch immer Spitze.

Der Tanz der Bienen

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