Читать книгу Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - Страница 2

Prolog

Оглавление

Blutrot stand die Sonne am Himmel, obwohl Mittag schon vorbei war. Trübe orangefarbene und braune Schleier zogen durch die Luft. Es stank nach Pech und Schwefel. Es war so heiß, dass die Luft flirrte und alle Konturen in der Ferne im Nirgendwo zu verschwinden schienen. Wo es einmal Seen gegeben hatte, gab es nur noch große Krater im Boden. Schlammige Täler kündeten von Flüssen, die hier vor wenigen Stunden noch entlang geflossen waren. Berge, so hoch, dass ihre Gipfel den Himmel berührt hatten, waren nur noch Trümmer. Einstige sanfte Ebenen waren von tiefen Gräben durchzogen, in denen sich eine zähe braune Masse bewegte, die einmal klar werden würde, wenn sich die Unmengen von Schlamm am Boden abgesetzt haben würden, die das Wasser mit sich führte. Felsen, so groß wie Berge, verteilten sich über das ganze Land. Neue karge Gebirge waren entstanden, andere alte und bewaldete verschwunden. Nur vereinzelt reckte einer der wenigen verbliebenen Bäume seine Äste anklagend in den trüben Himmel. Ansonsten war nahezu jede Pflanze, die höher als eine Hand gewachsen war, abrasiert, unter Geröll begraben oder zerquetscht worden. Keine der ehemals vielgestaltigen und in verschiedensten Farben prangenden Blumen verströmte mehr ihren lieblichen Duft. Das Gras, einst saftig und grün, war vielerorts verbrannt und bot selbst den wenigen verbliebenen Grasfressern, die früher so zahlreich über die Ebenen gezogen waren, zu wenig Nahrung. Die Vögel fanden keine Büsche mehr, in denen sie brüten und ihre Jungen aufziehen konnten, die Fische erstickten in den schlammigen Fluten. Durch die Erschütterungen, die die auf den Boden einschlagenden Felsen verursacht hatten, waren unzählige Schlote entstanden, aus denen kochendes Wasser, heißer Schlamm oder giftige Gase entwichen. Innerhalb nur weniger Stunden war aus einer blühenden lebendigen Welt eine tote Ödnis geworden.

Nein, nicht ganz tot! Eine Frau in einem prächtigen roten Kleid, in das mit silbernen Fäden feinste Muster eingewebt waren, schritt über die Ebene auf eine Gruppe von Gestalten zu. Der Saum ihres Rockes war so lang, dass er eine kleine Staubwolke hinter ihr herzog. Sie war nicht sehr groß, schlank und hatte langes kastanienbraunes Haar, das sich in sanften Wellen über ihren schmalen Rücken ergoss. Unter sanft geschwungenen Augenbrauen hatte sie dunkle ausdrucksstarke Augen. Ihr schmales Gesicht zierte eine kleine feine Nase und sie hatte einen wohlgeformten sinnlichen Mund, der ihr etwas Jugendliches verlieh. Dabei war diese Frau älter als die Welt über deren Trümmer sie langsam auf die Gruppe zulief. Und sie war auch keine Frau, sie war eine Göttin. Gaya! Sie war die älteste und mächtigste Göttin der Welt. Der Welt, die sie einst selbst geschaffen hatte und die eigentlich aus drei Welten bestand, die übereinander lagen.

Zuoberst kam Amesia. Es lag so weit oberhalb der anderen beiden Welten, dass der Himmel zum Greifen nah erschien. Der Schatten der Götterwelt berührte niemals das unter ihr liegende Osiat, die Welt der Menschen. Ein raues, zerklüftetes und unüberwindbar scheinendes ringförmiges Gebirge, das Annorgebirge, zog sich an Amesias Grenzen entlang wie eine Stadtmauer. Viele der Berge dieses Gebirges hatten schneebedeckte Spitzen, andere waren so hoch, dass ihre Kuppeln fast immer in den Wolken lagen. Von den Hängen des Annorgebirges stürzten Wasserfälle Tausende Meter in die Tiefe und füllten die Bäche und Flüsse des eigentlichen Amesias, das innerhalb dieses Gebirgsringes lag. Hügelige sanfte Ebenen und kleinere waldreiche Gebirge lösten einander ab. Alles strebte dem Zentrum Amesias zu, wo sich ein gewaltiger Berg mit sanften Hängen über die Umgebung erhob. Dieser Berg endete nicht in einer Spitze, sondern in einem Plateau. Es war nicht sehr groß. Es einmal an seiner längsten Achse zu durchqueren, dauerte zu Fuß gerade mal einen Tag. Dieser Berg wurde Götterberg genannt, denn hier wohnten die Götter. Vom Götterberg bis zu den ersten Ausläufern der nördlichen Grenze des Annorgebirges, den Teutosbergen, brauchte ein Reiter mit einem guten Pferd zwei bis drei Wochen. Amesia war reich an Pflanzen und Tieren. Einige gab es nur hier, wie die Capinas, sanfte weiße Rehe mit blauen Augen, oder den seltenen goldenen Smaragdkatzen mit ihren grünen Streifen, die so groß waren wie ein Rind.

Andere Tiere, wie Pferde, Hirsche, Vögel, Büffel, Schweine und Rinder sowie verschiedenste Fische gab es auch in Osiat, der mittleren Welt. Sie war flächenmäßig sehr viel größer als Amesia. Am östlichen Rand von Osiat zog eine Brücke in einem gewaltigen Bogen hoch in den Himmel bis zu Amesias Ringgebirge und verband diese beiden Welten. An die südliche und westliche Grenze von Osiat brandeten die Fluten eines endlosen tosenden Meeres, des Aquanischen Meeres. Im Norden wurde diese Welt von einer Kette Feuer spuckenden Bergen begrenzt. In der Welt der Menschen gab es endlose Wüsten aus gelbem oder rotem Sand, Steinwüsten, schroffe Hochgebirge, bewaldete Mittelgebirge, sanfte hügelige Grasebenen, Moore, Flüsse, Bäche und Seen, viel Wild und eben die zweibeinigen Geschöpfe, die sehr selten und von den Göttern noch nie bemerkt worden waren, da sie sich bei deren Erscheinen immer ängstlich in ihre Höhlen verkrochen.

Die Dritte der von Gaya geschaffenen Welten war Estosia. Es war eine Welt, die Gaya in einem Felsen geschaffen hatte, der sich unterhalb von Osiat befand. Estosia wäre groß genug gewesen, ganz Osiat und Amesia in sich aufzunehmen. Es war jedoch keine schöne Welt. Nie schienen dort die Sonne, der Mond oder die Sterne. Nur von leuchtenden Steinen erhellt, fristeten dort die Lebewesen ihr Dasein, die Gaya einmal geschaffen, aber nicht für würdig erachtet hatte, sich des Sonnenlichts zu erfreuen. Es gab dort aber auch Geschöpfe, die sich für Gaya als zu gefährlich erwiesen hatten, um in Osiat oder Amesia leben zu dürfen. Oder aber Geschöpfe, die den Zorn der mächtigen Göttin auf sich gezogen hatten.

Gaya hatte die Götter inzwischen erreicht, denn nichts anderes waren die zwölf Gestalten, die staubig, verschwitzt und abgekämpft auf sie gewartet hatten. Ehrfürchtig verneigten sie sich vor Gaya. Viele waren um einiges größer als sie, doch niemand hätte es gewagt, nicht vor ihr das Knie zu beugen. Gaya konnte jedwede Gestalt annehmen. Ihre Kräfte waren größer als die aller vor ihr knienden Götter zusammen. Mit einem Fingerschnippen hätte sie jeden von ihnen ohne Mühe in den Staub verwandeln können, den der aufkommende Wind in kleinen Säulen um sie herumtanzen ließ. Die Gestalt einer zierlichen Frau in kostbaren Kleidern war ihr eben nur die liebste. Mit einer Handbewegung erlaubte sie den Göttern, sich wieder zu erheben. „Was ist hier geschehen?“, fragte sie streng. „Wir haben gespielt“, antwortete Dioran betreten, ein Gott mit einem runden freundlichen Gesicht, das ein mächtiger Vollbart umrahmte. Sein kurzes lockiges braunes Haar klebte ihm verschwitz am Schädel. Er hatte eine kurze breite Nase und kluge dunkle Augen, einen breiten kräftigen Brustkorb und baumstarke Arme und Beine, und war fast zwei Köpfe größer als Gaya. Allerdings neigte er zu einem Bauchansatz, was er mit einem weiten locker gebundenen Hemd zu verbergen suchte. Seine Hose aus grobem Stoff wies an seinem linken Hosenbein einen Riss vom Knie bis zu seinem Fuß auf, der in einer Sandalette aus festem Rindsleder steckte. Gayas Augen funkelten bedrohlich. „Ihr habt gespielt?“, vergewisserte sie sich, als habe sie sich verhört. Die Götter nickten verlegen. „Seht ihr das?“, wollte sie mit mühsam unterdrückter Wut wissen und wies mit dem Arm um sich. „Die Götter haben gespielt und die Welt liegt in Trümmern!“, rief sie so laut, dass alle Götter zusammenzuckten. „Warum habt ihr nicht in Amesia gespielt? Gab es dort nicht genug Raum für Euer Spiel oder wolltet ihr nicht, dass eure Paläste hinterher so aussehen?“, fauchte sie, deutlich leiser, aber nicht minder bedrohlich. „Das ging nicht, Herrin. Fraya bekommt gerade ihren zweiten Sohn und Thore und Yuron sind bei ihr. Wir wollten sie nicht stören“, erklärte kleinlaut Xyntina, eine dralle vollbusige Göttin mit einem langen roten Zopf und grünen Augen.

„Wann haben sie sich zurückgezogen?“, verlangte Gaya zu wissen. „Vor vier Tagen“, gab Witan zur Antwort, ein Gott mit langem blauschwarzem Haar, Augen so dunkel wie Kohlen und elfenbeinfarbener Haut. Er war von schlanker Statur, seine feingliedrigen Hände waren schmutzig. „Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“, murmelte Gaya vor sich hin und musterte jeden einzelnen der vor ihr versammelten Götter und Göttinnen mit einem scharfen Blick. Thore und Fraya gehörten zu den ersten Göttern, die Gaya einst geschaffen hatte, Yuron war ihr erster Sohn. Sie galten der alten Göttin als die Vernünftigsten. Diejenigen, die ihre Brüdern und Schwestern immer gebremst hatten, wenn diese aus lauter Langeweile auf übermütige Ideen gekommen waren. Ihre Abwesenheit erklärte, weshalb das Spiel der Götter diesmal derart außer Kontrolle geraten war. Sie waren auch die einzigen der Götter, die eine dauerhafte Verbindung eingegangen waren. Alle anderen Götter und Göttinnen pflegten untereinander lose Liebschaften, betrachteten sich gerade einmal als Gefährten für eine gewisse Zeit. Deshalb war auch nur Thore und Fraya das Glück beschieden, Kinder zu haben. Die anderen Götter wollten sich noch Zeit lassen, bevor sie den Götterberg in Amesia mit ihren eigenen Nachkommen bevölkerten. Sie hatten nicht erwartet, dass Gaya an diesem Tag die Zeit dafür auslaufen ließ.

Mit lauter Stimme rief die Urmutter ungeduldig nach Thore. Wenige Augenblicke später erschien er. In seiner Begleitung befanden sich Fraya, Yuron und ein unbekannter junger Gott. Obwohl er erst zwei Tage alt war, kniete vor Gaya ein Kind in der Gestalt eines erwachsenen jungen Mannes. „Herrin, das ist unser Sohn Eyrin!“, stellte ihn Thore nicht ohne Stolz vor. „Erhebt euch!“, befahl Gaya. Mit einem freundlichen Lächeln musterte sie den Neuankömmling. Er war nur ein Fingerbreit kleiner, aber genauso muskulös und breitschultrig wie sein älterer Bruder. Beide hatten ihre hohe kräftige Statur als Thores Erbe erhalten. Das dunkelblonde Haar hatte Eyrin ebenfalls von seinem Vater, die türkisfarbenen Augen von seiner Mutter. Auch das breite, kantige Kinn, die starke Nase und der schön geformte Mund wiesen auf Thore hin. „Du bist, wie dein Bruder, sehr nach deinem Vater geraten. Wenn du auch noch seine stahlblauen Augen hättest, könnte man glauben, du seiest Yuron“, stellte Gaya fest und streichelt Eyrin sanft die Wange. „Das ist wahr“, bestätigte Fraya lächelnd. „Aber beim nächsten Mal wird es eine Tochter. Sie wird mir ähnlich sehen. Thore ist damit einverstanden.“ Sie warf ihrem Gemahl einen zärtlichen Blick zu. „Es wird kein nächstes Mal geben!“, sagte Gaya leise. Frayas Lächeln erstarb. „Seid ihr denn blind? Sechzehn Götter sind mehr als genug, um die Welt zu zerstören, die ich geschaffen habe. Meine Welt!“, fuhr sie mit immer lauter werdender Stimme fort, die letzten Worte schrie sie fast. Die Götter erstarrten, Thore und Fraya sahen sich betroffen um.

„Eure Leiber sollen verdorren! Keine von euch wird je wieder ein Kind in diese Welt setzen!“, dröhnte Gayas Stimme über die Ebene. Sechs Blitze fuhren aus ihrer Hand, je einer in den Körper einer Göttin. Schmerzvoll krümmten sie sich zusammen, Aurina, Xyntina, Idalia, Bodina, Fraya und Lysina. Erschüttert hielt Thore seine Gemahlin in den Armen. „Wieso bestraft Ihr die Frauen, wieso Fraya?“, rief er entsetzt. „Schweig, Thore! Ich bin noch nicht fertig!“, fuhr ihn die alte Göttin mit zornesfunkelnden Augen an. „Von jetzt ab werdet ihr keine Liebe mehr füreinander empfinden! Auch rein körperliche Liebe miteinander wird euch zuwider sein! Ihr werdet euch von nun an nur noch mit Wesen paaren können, denen ihr bisher keine Beachtung geschenkt habt!“ Während sie diese furchtbaren Worte sprach, ging sie von einem zum anderen. Dabei hielt sie ihre Hand jedes Mal so lange an deren Herz, bis sie deren Augen stumpf und gleichgültig ansahen. Sie hatte ihre Hand gerade an Yurons Herz gelegt, da fiel Thore vor ihr auf die Knie. Verwundert unterbrach Gaya ihr Tun. „Herrin! Ich flehe Euch an! Nehmt mir nicht meine Liebe zu Fraya! Sie ist meine Frau, meine Geliebte, Gefährtin, Mutter meiner Söhne. Sie ist mein besseres Ich! Sie ist alles für mich! Nehmt mir nicht ihre Liebe! Wenn Ihr nicht anders könnt, dann verwandelt mich wieder in den Staub, aus dem Ihr mich geschaffen habt. Ich kann ohne Fraya nicht leben!“ „Sieh an! Mein aufbrausender Thore hat auch eine sanfte Seite. Wer hätte das gedacht?“, bemerkte die alte Göttin spöttisch, aber ihre Augen blickten nicht mehr ganz so hart. „Und du? Was sagst du zu den Liebesschwüren deines Mannes?“, fragte sie Fraya. „Herrin! Bitte nehmt mir nicht meinen Mann“, konnte Fraya nur leise sagen. Sie war von Thores Worten überwältigt. Zwar hatte sie immer gespürt, dass sie Thore viel bedeutete, aber dass seine Gefühle für sie so tief gingen, hatte sie nicht erwartet. „Überlege es dir gut!“, warnte Gaya. „Trotz seiner hübschen Worte wird er dich betrügen. Er wird mit einer anderen einen Sohn zeugen. Von Deiner Kraft wird es abhängen, ob dieser Bastard Fluch oder Segen für Amesia wird, ob Amesia eines Tages überleben oder zugrunde gehen wird. Bist du wirklich stark genug, das zu ertragen?“ Ohne Zögern antwortete Fraya: „Das bin ich!“ „Nun gut! Ich war ohnehin fertig. Thore, du kannst wieder aufstehen.“

Gaya wandte sich wieder den anderen Göttern zu. „Ihr seid alle meine Kinder. Und wie Kinder habt ihr euch aufgeführt. Damit ist jetzt Schluss. Ich werde jedem von euch eine Aufgabe übertragen, die eure ganze Kraft fordern wird. Ihr werdet diese Welt wieder aufbauen und denen übergeben, für die ich sie geschaffen habe“, verkündete sie. „Für wen?“, fragte Woldan, ein Gott mit kurzem stacheligen grünem Haar, rehbraunen Augen, einem spitzen Gesicht und einer schlanken drahtigen Figur. Gaya sah ihn strafend an. „Diese dort!“, sagte sie und drehte sich um. „Kommt hervor!“, rief sie laut. Hinter einem Felsen am Rande einer Geröllhalde traten zögernd zitternde halb nackte zweibeinige Geschöpfe hervor. Hunderte, Tausende, es wurden immer mehr. Unsicher liefen sie auf die Gruppe der Götter zu. Sie waren von dem in der Luft schwebenden Staub rot überpudert, viele von ihnen husteten. Manche hatten lange Haare, anderen schien der Kopf kahl geschoren worden zu sein. Wieder andere trugen ihr Haar kurz oder zu Zöpfen geflochten. Die Götter konnten Männchen und Weibchen in der immer größer werdenden Gruppe erkennen. Einige Weibchen trugen Kinder auf ihren Armen. Sie alle waren kaum größer als Gaya. Nur einige der Männchen schienen deutlich größer als die alte Göttin zu sein. „Das ist nah genug!“, befahl Gaya. Die Menge kam etwa dreihundert Meter vor der Gruppe der Götter zum Stehen. Ängstlich schmiegten sie sich aneinander und warfen verstohlene Blicke zu den Göttern herüber.

„Was sind das für Wesen?“, erkundigte sich Watan. Sein langes blaues Haar, das fast bis auf den Boden reichte, hüllte ihn ein wie ein Umhang. Er hatte feine ebenmäßige Gesichtszüge und eine Hakennase. Sein schmaler Mund war schön geschnitten, er hatte eine schlanke hohe Figur, sodass er sich zu Recht als einer der am besten aussehenden Götter bezeichnen konnte. Am auffälligsten waren jedoch seine Augen, die je nach Stimmungslage die Farbe wechselten, von Grün bei Trauer über helles Blau bei Freude zu tiefem Dunkelblau, wenn er wütend war. Derzeit hatte er graublaue Augen, ein Zeichen von mäßigem Interesse. „Das sind Menschen!“, erklärte Gaya feierlich. „Osiat gehört ihnen von jetzt ab allein! Götter und Menschen können nicht gemeinsam in einer Welt leben, das habt ihr mir heute gezeigt. Ihr werdet euch nach Amesia zurückziehen und nur noch als Gäste nach Osiat zurückkehren. Und ich erwarte von euch, dass ihr euch wie anständige Gäste benehmt.“ „Gaya, jetzt gehst du aber zu weit! Osiat ist doch viel zu groß für diese paar … Menschen!“, ließ sich Hato empört vernehmen. Er gehörte wie Thore zu den älteren Göttern. Er hatte ein grobes, kantiges Gesicht mit stark ausgeprägten Wangenknochen und graue Augen. Er war groß und kräftig gebaut, mit einem Hang zur Fülle. Seine Vorliebe für gute Speisen begann, erste Spuren an seinem Körper zu hinterlassen. Sein beginnendes Doppelkinn verbarg er hinter einem langen Vollbart, der sorgsam gestutzt war und bis auf seine Brust reichte. Alles in allem war er aber trotzdem noch eine beeindruckende Erscheinung. Gaya maß ihn mit einem scharfen Blick. Es war nicht das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber im Ton vergriff. Keiner der anderen Götter hätte es gewagt, Gaya so respektlos anzusprechen. Das Wissen um sein Alter und seine Stärke hatte ihn anmaßend werden lassen. Schon lange hatte er von der alten Göttin gefordert, ihm einen besonderen Platz unter den Göttern einzuräumen. Aufsässig starrte er sie an. Spannung lag in der Luft. Jeder rechnete damit, dass Gaya Hato auf der Stelle für seine Unverschämtheit bestrafen würde. Doch Gaya seufzte nur und wendete sich wieder an die anderen Götter. „Es mögen wenige sein. Aber sie sind fruchtbar. Sie werden bald wieder ganz Osiat bevölkern und ihr werdet für sie sorgen!“ Den aufkommenden Protest der Götter erstickte Gaya im Keim mit einer herrischen Geste.

„Ich habe euch aus Stein …“, sie blickte zu Dioran, „… Wasser …“, ein kurzer Blick zu Watan, „… dem Holz der Bäume…“, Gayas Hand lag kurz auf Woldans Schulter, „… oder den Sternen geschaffen“, und sie nahm Aurina und Lysina an die Hand. „Jeder von euch hat eine bestimmte Gabe, die er jetzt einsetzen wird, um den Menschen das Leben erträglicher zu machen. Sie werden euch dafür respektieren, verehren, anbeten, euch um eure Hilfe anflehen. Ihre schönsten Töchter werden euch gehören. Und sie werden es auch sein, die euch eure Nachkommen schenken werden, wenn ihr sie gut behandelt.“ „Das ist ungerecht! Was ist mit uns? Werden wir keine Nachkommen haben?“, erboste sich Lysina, eine sehr schlanke Göttin mit kupferfarbenem schulterlangem welligen Haar und dunklen Augen in einem zarten weißen Gesicht. Mit ihren fein geschwungenen Augenbrauen und dem roten Mund mit den vollen breiten Lippen unter der schmalen, wenn auch etwas zu langen Nase, waren sie und ihre Zwillingsschwester Aurina die unumstritten schönsten Göttinnen. „Nein, meine Schöne! Die Göttinnen bleiben ohne Nachkommen!“, antwortete Gaya mit einem bösen Lächeln. „Aber ich verspreche dir, es werden sich genug stattliche Männer für deinen Spaß finden. Du wirst nicht leer ausgehen.“ Lysina lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Aurina hielt ihre sterngeborene Schwester zurück. „Lysina, glaubst du etwa, dass Gaya nicht weiß, dass wir niemals Kinder haben wollten?“ Betroffen schwieg Lysina. Mit ihren goldenen Augen bat Aurina Gaya um Vergebung für ihre Schwester. Gaya nickte gnädig und wandte sich an den blauhaarigen Gott.

„Watan, du bist von nun an der Gott des Wassers, der Meere, Seen und Flüsse! Sorge dafür, dass das Wasser schnell wieder klar wird, damit Mensch und Tier ihren Durst stillen können und bald wieder Fische in den Seen, Meeren und Flüssen leben können!“ Mit diesen Worten überreichte sie ihm einen bläulich-grünen Stein in der Größe eines Kinderkopfes, aus dem klares Wasser lief. Watan verneigte sich vor Gaya und versprach, sich sofort an die Arbeit zu machen.

„Woldan, du wirst der Gott des Waldes und der Jagd“, bestimmte sie. „Lasse Wälder entstehen, wo es jetzt nur Ödnis gibt und fülle sie mit Wild. Sei den Menschen bei der Jagd hold, auf dass sie nie wieder Hunger leiden müssen.“ „Das verspreche ich!“, antwortete Woldan ernst und griff nach dem goldenen Bogen, dem Köcher mit den Pfeilen und dem silbernen Jagdhorn, die Gaya für ihn bereithielt. „Dioran! Du bist der Gott der Felsen, der Steinmetze und der Bildhauerkunst! Bringe den Menschen bei, wie sie den Stein bearbeiten müssen, um sich Häuser bauen zu können. Dann müssen sie nicht mehr nach Höhlen suchen, in denen sie hausen können. Später kannst du die Fähigsten von ihnen in der Bildhauerkunst unterweisen, damit auch sie ihre Bauwerke nach ihrem Geschmack verschönern können.“ Damit übergab sie Dioran einen gewaltigen Hammer und einen Meißel.

„Aurina und Lysina! Ihr werdet die Göttinnen der Morgenröte und der Abendröte. Mit den Farben, die ihr an den Himmel malt, werdet ihr die Menschen zu Beginn ihres Tagwerkes erfreuen und am Abend für ihren Fleiß belohnen!“ Als Attribut für ihre Aufgabe übergab sie jeder der Schwestern einen goldenen Pinsel. Der Griff des Pinsels von Aurina war mit einer Sonne verziert, der von Lysinas Pinsel mit einer Mondsichel.

Gaya wandte sich an einen stillen Gott mit einer kräftigen breiten Brust, muskulösen Armen und kurzen Beinen. Er hatte eine olivfarbene Haut und ein grobes Gesicht. Sein kurzes schwarzes kräftiges Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Sein Mund mit den wulstigen Lippen war fast immer geschlossen, er lächelte sehr selten, ein Lachen hatte noch niemand bei ihm gesehen. Seine aufmerksamen schwarzen Augen wurden von zwei geraden buschigen Augenbrauen beschattet. Sein ohnehin nicht sehr ansehnliches Gesicht zierte eine breite Knollennase. „Burno! Du bist ab heute der Gott des Feuers und der Schmiedekunst! Lehre die Menschen, das Feuer zu beherrschen und bringe ihnen die Wärme in ihre Häuser! Zeige ihnen, wie sie Eisen, Stahl, Kupfer, Gold und Silber bearbeiten müssen, damit sie es zu ihrem Nutzen verwenden können. Wirst du das für mich tun?“, fragte Gaya, der Burno in seiner Hässlichkeit leidtat. Sie wusste, wie oft er Ziel des Spotts der anderen Götter gewesen war. Sie hatte ihre Aufgabe an ihn als Frage formuliert, weil sie gesehen hatte, dass er als einziger der Beteiligten tiefes Bedauern über die Zerstörung Osiats empfand. „Herrin! Ihr ehrt mich!“, antwortete Burno mit tiefer kehliger Stimme. Gaya lächelte und übergab ihm eine brennende Fackel und einen schweren Schmiedehammer.

„Bodina, Tochter des Windes!“ Eine flachbrüstige Göttin, mit ihrem kurzen weißblonden Haar und der schlanken Gestalt einem Knaben viel ähnlicher als einer Frau, verneigte sich vor der Urmutter. „Du wirst die Götterbotin. Es gibt niemanden, der schneller als du die Nachrichten der Götter überbringen kann.“ Als Zeichen der ihr zugedachten Aufgabe erhielt Bodina ein Paar Schwanenflügel. „Du wirst der Gott der Weisheit und Schriftkunst“, sagte sie zu Witan, dem Gott mit dem langen blauschwarzen Haar. „Schenke den Menschen das geschriebene Wort, damit sie an ihre Nachfahren weitergeben können, was sie gelernt haben. Gib ihnen die Weisheit zu erkennen, was richtig und falsch ist!“ Mit diesen Worten reichte ihm Gaya eine Rolle Pergament und eine goldene Schreibfeder. Witans schwarze Augen leuchteten vor Freude und Stolz, als er sich vor ihr dankbar verneigte.

„Idalia!“ Nachdenklich blieb Gaya vor einer zierlichen Göttin stehen. Idalia lächelte verlegen. Sie lächelte immer, war immer lustig, Trauer schien sie nicht zu kennen. Am liebsten sang sie mit einer engelsgleichen Stimme oder malte ein Bild in den Sand, um es sofort wieder zu zerstören, damit sie ein Neues malen konnte. „Du kannst nichts anderes sein, als die Göttin der schönen Künste. Singe, male, tanze für die Menschen. Nimm dir so viele Schülerinnen und Schüler von ihnen, wie du magst. Bringe die Freude an schönen Dingen in ihre Herzen.“ „Das werde ich!“, versicherte Idalia und nahm eine goldene Leier aus den Händen Gayas entgegen.

In Thore machten sich zunehmend Sorge und Unmut breit. Seine Blicke, die er den verschüchterten Menschen zuwarf, wurden immer finsterer. Gaya hatte bei allen Aufgaben, die sie an die Götter verteilt hatte, die Menschen in den Vordergrund gestellt. Die Götter hatten ihnen den Lebensraum zu bereiten, ihre Lehrer zu sein oder sie zu erfreuen. Die Vorstellung, dass er, seine Frau und seine Söhne auch in den Dienst der Menschen gestellt werden sollten, missfiel ihm unübersehbar. Fraya versuchte, ihn mit einem Händedruck zu beruhigen, was ihr diesmal nicht besonders gut gelang. Sie spürte, dass Thore mühsam um Beherrschung rang, als sich Gaya an Eyrin wandte. „Eyrin! So jung … So unschuldig …“, sagte sie sanft zu ihm. Eyrin sah sie trotzig an. Er war zwar erst vor zwei Tagen geboren worden, doch war er schon vollkommen erwachsen. Bereits zwei Stunden nach seiner Geburt glich er einem zehnjährigen Knaben, konnte sprechen, laufen und reiten. Nach weiteren sechs Stunden war er so groß wie sein Bruder und konnte genauso gut lesen und schreiben wie er. An seinem zweiten Lebenstag hatten ihn Eltern und Bruder in Amesia herumgeführt und ihm alles über die Geschichte dieses einzigartigen Ortes und seine Bewohner erzählt, bis sie von Gaya gerufen worden waren. Yuron trat einen Schritt auf seinen jüngeren Bruder zu und legte ihm schützend die Hand auf die Schulter. Eine Geste, die Gaya sehr wohl wahrnahm und mit einem Lächeln bedachte. „Nimm dieses Schwert!“, sagte sie und reichte Eyrin ein flammendes Schwert. Vorsichtig griff er danach. „Mit diesem Schwert wirst du alle verteidigen, die so sind wie du. Die Unschuldigen, die Ungeküssten, die Jungfrauen! Eile zu ihnen, wann immer sie dich um deine Hilfe anflehen.“ Staunend betrachtet Eyrin die golden schimmernde, gezackte und von kleinen Flammen umgebene Schneide des Schwertes. „Du musst noch lernen, wie man ein Schwert führt!“, fuhr sie fort. „Yuron, das ist deine Aufgabe! Lehre ihn die Kunst des Schwertkampfes! Du wirst von nun an seiner Seite bleiben. Du wirst die Unschuldigen schützen und die Schuldigen verurteilen. Als oberster Richter der Götter wirst du blind sein …“ „Nein!“ riefen Thore und Fraya wie aus einem Mund. Fraya fiel vor der Urmutter auf die Knie. „Herrin, bitte nicht das! Nehmt meinem Sohn nicht sein Augenlicht!“, flehte sie mit Tränen in den Augen. „Haltet ihr mich etwa für grausam?“, fragte Gaya scharf. Jeder der anwesenden Götter hätte diese Frage bedenkenlos mit „Ja“ beantwortet. Doch keiner hielt es für ratsam, einen Ton zu sagen. Yuron stand bleich vor Gaya und wagte kaum zu atmen. „Du musst keine Angst haben“, richtete sie sich wieder an Thores Sohn. „Du wirst nur während der Verhandlung blind sein. Du wirst Kläger und Beklagten anhören, die Worte ohne Ansehen der Person abwägen und danach dein Urteil fällen. Doch es wird nur wenige Verbrechen geben, die schwerwiegend genug sein werden, um von dir gerichtet zu werden. Hast du dein Urteil gesprochen, erhältst du dein Augenlicht wieder. Aber sei gewarnt! Fällst du ein ungerechtes Urteil, wirst du für immer blind bleiben!“ In Thores Gesicht arbeitete es heftig und Fraya lief eine Träne über die Wange, als Yuron die Augenbinde aus schneeweißer Seide von Gaya entgegennahm. Noch bevor er etwas sagen konnte, befahl die alte Göttin streng: „Thore, knie nieder!“ Widerstrebend beugte er das Knie vor ihr. Fraya, die immer noch vor Gaya kniete, warf Thore einen erschrockenen Blick zu. „Thore, du bist stark, mutig und ehrlich. In den letzten fünftausend Jahren hast du bewiesen, dass dein Wort von deinen Brüdern und Schwestern gehört wird“, sagte Gaya, während sie Thore die Hand auf sein volles dunkelblondes Haar legte. Der sah sie fragend mit seinen stahlblauen Augen an. „Fraya! Du bist sanft, klug und gerecht. Du bist bewandert in den Heilkünsten und kannst damit viel Gutes bewirken“, fuhr sie fort, ohne auf Thores stumme Frage zu achten. „Gemeinsam habt ihr alles, was ein guter Herrscher haben muss.“ Plötzlich hielt sie zwei goldene Stirnreife in der Hand. Sie waren mit zierlichen Gravuren versehen, in der Mitte saß ein kostbar gefasster großer Rubin. „Nehmt diese Kronen als Zeichen eurer Herrschaft über Amesia! Eure Aufgabe ist es, die Welt der Menschen beschützen!“, sagte sie feierlich. „Fraya, bewahre die Menschen vor Krankheiten und helfe den Frauen, wenn sie ihre Kinder bekommen. Denke immer daran, es könnten die Kinder der Götter sein.“ Mit diesen Worten setzte sie Fraya den kleinen Stirnreif auf das Haupt. Mit großer Geste zeigte sie den anderen Göttern Thores Krone.

„Halt ein!“, rief Hato mit dröhnender Stimme. „Thore ist zwar mein Bruder, aber ich bin älter und stärker als er. Diese Krone gehört mir!“ Gaya verhielt tatsächlich mitten in der Bewegung und schien zu überlegen. „Du hast mir jeden Spaß genommen, über diese Welt zu laufen. Gib mir wenigstens eine Krone dafür!“, setzte Hato grimmig nach. Gaya lächelte und setzte Thore den goldenen Reif auf sein Haar. „Eine Krone möchtest du?“, fragte sie Hato leise. Der nickte heftig mit finsterem Blick. „Gut, du sollst deine Krone haben“, beschied sie ihn zur Überraschung aller. In der Hand hielt sie einen Stirnreif aus Eisen. Er war grob gearbeitet und wies keinerlei Verzierungen auf. „Knie nieder!“, befahl sie streng. Hato erbleichte und wich vor der Göttin zurück. „Nein, nicht diese! Die Goldene!“, stammelte er entsetzt. Mit ihrem magischen Blick zwang ihn Gaya auf die Knie. „Hato! Du bist von nun an der Herrscher über Estosia! Deine Untertanen sind die Geschöpfe der Nacht! So lange Thore die goldene Krone trägt, darfst du Estosia nicht verlassen!“, rief sie mit lauter Stimme. „Herrin! Lasst Gnade walten! Ihr könnt ihn doch nicht allein nach Estosia schicken!“ Xyntina hatte sich vor der alten Göttin auf die Knie geworfen, wie sie es vorher bei Fraya gesehen hatte. Mit dieser Geste hoffte sie, Gaya milde zu stimmen. Eigentlich hatte sie ihren ganz eigenen Kopf und hielt jegliche Art von Ehrbezeugung für unnötigen Unsinn.

„Xyntina!“ Gaya sprach die vor ihr kniende Göttin sanft und freundlich an, aber ihre Augen blickten kalt. „Soweit ich weiß, hast du deine Brüder und Schwestern zu diesem zerstörerischen Spiel angestiftet. Warst du es nicht, die vorgeschlagen hat, herauszufinden, wer von ihnen der Stärkste ist?“ Die dralle Göttin nickte und versuchte, beschämt dreinzuschauen, aber ihre blitzenden grünen Augen straften sie Lügen. „Du kannst nichts anderes, als Zank und Streit zu stiften! Nur das bereitet dir Freude!“, fauchte Gaya. Xyntina machte eine abwehrende Handbewegung. „Herrin, so ist das nicht! Ich wollte doch nur …“ „Halt den Mund!“, fuhr sie Gaya an. „An dir ist nichts außer Falschheit und Bosheit! Du bist die Göttin der Zwietracht!“ Xyntina öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen. „Du hast für Hato gebeten, weil er dein Gefährte war. Du sollst erhört werden. Er wird nicht allein in Estosia sein. Du wirst ihn begleiten. Aber zur Strafe für dein Vergehen wirst du die Unterwelt jedes Jahr für vier Wochen verlassen und dich daran erinnern, was du verloren hast!“, rief Gaya mit zornfunkelnden Augen. „Hinfort, Ihr zwei!“, rief sie und schlug in die Hände. Xyntina und Hato waren augenblicklich verschwunden.

Die anderen Götter schwiegen entsetzt. Niemand rührte sich. „Was habe ich getan?“, stöhnte Gaya auf einmal auf und schlug die Hände vors Gesicht. Leise erhoben sich Thore und Fraya. Unsicher blickten sich die Götter an. Die zerlumpten und verdreckten Menschen sahen zu den Göttern hinüber. Ihre Angst hatte scheinbar nachgelassen. Sie standen nicht mehr so dicht gedrängt beieinander, die mutigsten von ihnen waren sogar noch ein Stück nähergekommen und warfen ihnen neugierige Blicke zu. „Zurück!“, rief Thore in herrischem Ton. Er war eine stattliche Erscheinung, über zwei Meter groß mit breiten Schultern und starken muskulösen Armen. Der Rubin an seine Krone funkelte blutrot in der Sonne. Furchtsam wichen die Menschen zurück. Die Aussicht, dass eine Menschenfrau einmal sein Kind unter dem Herzen tragen würde, machte ihn nicht gerade zu einem Freund der Menschen. Er wollte lieber ausreichenden Abstand zu ihnen wahren.

Gaya nahm die Hände vom Gesicht. Sie schien um Jahre gealtert und ihre Augen blickten traurig. Das war ein Ausdruck, den man selten bei ihr sah. „Herrin, was ist mit Euch“, erkundigte sich Fraya besorgt. „Wie konnte ich nur der Zwietracht erlauben, je wieder in diese Welt zu kommen“, rief sie, zornig über sich selbst, aus. „Das führt zu Unfrieden zwischen den Menschen. Und Unfrieden bedeutet Krieg! … Martan!“ Ein Gott mit einem ovalen strengen Gesicht trat vor Gaya hin. Das lange braune Haar trug er in einem kunstvoll geflochtenen Zopf. Seine freundlichen braunen Augen wurden von kräftigen Augenbrauen beschattet. Er hatte einen schmalen Mund und eine kräftige Nase. Martan war ein wahres Kraftpaket. Gedrungener gebaut als Thore, aber genauso stark und muskulös. „Du wirst zwei Gegensätze in dir vereinen“, bestimmte Gaya. „Du bist von nun an der Gott des Krieges und der Fruchtbarkeit. Stehe den Starken in ihren Kriegen bei und führe sie zum Sieg. Aber sorge anschließend dafür, dass die zerstörten Felder schnell wieder fruchtbar werden. Lasse die Frauen viele Kinder bekommen, damit es nie dazu kommt, dass sie sich gegenseitig ausrotten.“ Gaya reichte Martan ein goldenes Schwert und einen Ährenkranz aus Silber. Zögernd nahm er die Attribute seiner Aufgabe entgegen und verneigte sich.

„Erlaubt Ihr mir eine Frage, Herrin?“ Gespannt sah er die mächtige Göttin an. Gaya hob erstaunt die Augenbrauen, dann nickte sie gnädig „Warum sind Euch die Menschen so wichtig. Warum beauftragt Ihr uns, so viel für sie zu tun? Wir sind doch Götter wie Ihr!“ „Götter wie ich?“, fuhr Gaya auf. Im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen riesigen grellbunten Wirbel, der sich in rasender Geschwindigkeit um seine eigene Achse drehte und Menschen und Götter gleichermaßen mit sich fortriss. Immer schneller drehte sich der Wirbel und das Land unter ihren Füßen löste sich auf. Er zog sie immer weiter mit sich in die Höhe, bis um sie herum nichts weiter war als grenzenlose Schwärze. Schwerelos schwebten sie dahin. Es gab kein Oben und kein Unten. „Ich bin Gaya!“, hörten sie ihre dröhnende Stimme, sehen konnten sie sie nicht. „Ich bin das Nichts, aus dem alles entstand und in das alles vergeht, wenn das Ende gekommen ist!“, verkündete sie unheilvoll. „Nichts und niemand ist wie ich!“

Urplötzlich löste sich die Spirale wieder auf und die Götter standen allein mit Gaya am Fuß des Götterberges in Amesia. Die Menschen waren verschwunden. „Meine Kinder! Ihr glaubt, ihr seid wie ich? Ihr glaubt, ihr seid unsterblich?“, fragte sie spöttisch. „Wenn du von einer Aarusschlange in den Hals gebissen wirst … dann bist du tot!“ Mit dem Zeigefinger tippte sie Dioran an. Es war nur eine kleine Bewegung, und doch ging der kräftig gebaute Gott zu Boden. „Wenn dir ein anderer Gott das Herz aus dem Leibe reißt und in einem Feuer verbrennt … dann bist du tot.“ Mit einem Plumps landete Woldan neben Dioran. „Aber wenn es keine Menschen mehr gibt, wenn sie aufhören, an euch zu glauben und euch nicht mehr anbeten … dann, meine Kinder, dann ereilt euch der wahre Tod! Nichts und niemand kann euch dann noch retten, nicht einmal ich! Also achtet gut auf sie und sorgt dafür, dass sie euch niemals vergessen!“ „Das werden wir!“, versprachen die Götter im Chor. „Gut!“ Gaya nickte zufrieden. „Dann macht euch jetzt an die Arbeit! Und beeilt euch. Die Menschen werden in Osiat, so wie es jetzt ist, nicht lange überleben können!“ Eilig liefen die Götter davon.

„Fraya, Thore! Auf ein Wort!“, befahl sie dem neu gekrönten Herrscherpaar. „Ihr seid jetzt nicht nur die obersten Götter in Amesia, sondern auch die Beschützer der Menschen. Beschützt sie vor allem vor der Schwarzen Magie, die in Estosia wohnt. Sie sind wie Yuron und Eyrin. Sie sind jetzt eure Kinder, wie ihr die Meinen seid.“ Thore schnaubte. „Sollen sie vielleicht auch noch in Amesia wohnen dürfen, diese … Menschen?“ „Ich weiß, du magst sie nicht. Noch nicht …“, sagte Gaya nachsichtig zu Thore. „Ihr werdet Amesia weiterhin für Euch haben. Ich habe die Welt der Götter mit einem magischen Nebel umgeben, den nur ihr durchqueren könnt … oder diejenigen, denen ihr erlaubt, nach Amesia zu kommen“, fügte sie schelmisch hinzu. „Wer sollte das sein?“, knurrte Thore. „Du wirst schon sehen“, antwortete Gaya geheimnisvoll. Dann maß sie Fraya mit einem langen Blick. „Du hast eine wunderbare Gabe, Fraya. Du kannst Wunden heilen und anderen den Schmerz nehmen, nur mir kannst du nicht helfen“, sagte sie leise. „Die Wunden dieser Welt sind meine Wunden. Wenn aus Gedankenlosigkeit ganze Landstriche zerstört werden, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn Habsucht und Gier die Welt regieren, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn jemandem aus Grausamkeit ein Leid geschieht, spüre ich seinen Schmerz. … Das ist der Grund, weshalb ihr mich oft über so lange Zeit nicht zu Gesicht bekommt. Ich ziehe mich auf meine Insel zurück, die so weit von hier entfernt ist, dass ich den Schmerz ertragen kann. Dort kann ich schlafen und mich ausruhen, bis mich wieder irgendeine Torheit meiner Kinder hierher zurückruft.“ „Herrin, wir werden dafür sorgen, dass es keine Torheiten mehr geben wird!“, versprach Thore. „Dieses Versprechen wirst du nicht halten können! Trotzdem danke ich dir“, widersprach Gaya. „Sorge nur dafür, dass es nie wieder so schlimm wie heute wird! … Thore, sie haben ganz Osiat in nur vier Stunden zerstört“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Fraya und Thore schwiegen betroffen. Tränen hatten sie bei Gaya noch nie gesehen. Sie waren sich der großen Ehre bewusst, die ihnen Gaya gewährte. Sie offen hatte sie sich und ihre Gefühle noch keinem ihrer Kinder gegenüber gezeigt. Aber Gaya war noch nicht fertig. „Meine Insel heißt Konh Ka Bin und liegt im Penquanischen Meer. Das liegt noch hinter dem Aquanischen Meer, das an Osiats Grenzen schlägt. Diese Insel ist mein großes Geheimnis … und jetzt eures. Dort könnt ihr mich finden, wenn ihr mich braucht.“

Quondam ... Der magische Schild

Подняться наверх