Читать книгу Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - Страница 3

Kapitel 1

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Ein Spinnennetz, groß wie ein Wagenrad, spannte sich zwischen einer Hütte und dem dahinter stehenden Baum. In der Abendsonne glänzte es, als wäre es aus feinsten Silberfäden gewoben worden. In seiner Mitte saß eine dicke bernsteingelbe Spinne, die ruhig auf einen unachtsamen Falter wartete. Sie brauchte sich nicht lange zu warten. Am Waldrand, der mit vielen Wildblumen gesäumten war, flogen viele Schmetterlinge von Blüte zu Blüte und labten sich an dem süßen Nektar. Das geschäftige Treiben der tagaktiven Insekten wich langsam der vorabendlichen Ruhe und die ersten Fledermäuse begannen sich scharf gegen den rosa gefärbten Abendhimmel abzuzeichnen. Ein verspäteter Falter gaukelte träge durch die von Düften schwere Luft, als er durch das für ihn unsichtbare Netz der Räuberin gestoppt wurde. Verzweifelt zappelte er um sein Leben, doch die Spinne war im Nu bei ihm und sicherte sich ihre nächste Mahlzeit durch einen blitzschnellen giftigen Biss. In aller Seelenruhe spann sie ihr Opfer ein und hängte es dann zu den übrigen Insekten, die sie bereits im Laufe des langen Tages gefangen hatte.

Nur wenige Schritte hinter der Hütte begann ein Wald, in dem schnell wachsende Nadelbäume und verschiedenste Laubbäume wild durcheinander wuchsen. Am häufigsten gab es hier den Farusbaum. Er hatte eine silberne glatte Rinde. Seine lichte Krone ermöglichte es vielen Pflanzen, unter ihm zu gedeihen, da sie genug Licht bekamen. Hier wuchsen kleine geduckte Sträucher so dicht, dass sie sich wie ein grüner Teppich zwischen den Stämmen ausbreiteten. Sie trugen im Herbst wohlschmeckende blaue Beeren, die sowohl die Tiere des Waldes als auch die Menschen wegen ihrer Süße schätzten. Der kleinere und ebenfalls nicht seltene Acenisbaum sorgte mit seinem prächtigen Herbstlaub für Farbtupfer in Gold, Orange und Rot, die dieser Jahreszeit immer einen ganz besonderen Zauber verliehen. Sein Holz war besser zu verarbeiten als das des Farusbaumes, weshalb er vor allem für die Herstellung von Möbeln aller Art geschlagen wurde. Das Holz der verschiedenen Nadelbäume fand als Feuerholz und als Bauholz Verwendung. Es stand auch eine Kostbarkeit in diesem Wald. Mitten auf einer Lichtung befand sich ein mehrere Hundert Jahre alter und fast bis in den Himmel reichender Escalinbaum. Sein eisenhartes Holz trotzte jedem Sturm, die dicke borkige Rinde schützte ihn von allen Unbilden des Wetters. Wie er hierhergekommen war, wusste niemand. Dieser Baum war Thore, dem obersten Gott, geweiht und bildete den Mittelpunkt des heiligen Hains, der nahe jeder menschlichen Siedlung lag. Hier, in diesem stillen dichten Wald hatte es jedoch nie eine Siedlung gegeben. Seit Menschengedenken gab es immer nur zwei Holzfäller, die in einfachen Hütten an gegenüberliegenden Enden dieses großen Waldstücks wohnten. Es befand sich ganz im Süden von Farusan, dem südlichen der vier Königreiche, in das sich Osiat aufteilte. Regiert wurde das Waldland, wie Farusan auch von den Menschen der anderen Länder genannt wurde, von Narus, dem Weisen. Seinen Untertanen war es erlaubt, in den schier endlosen Wäldern und in den karstigen Gebirgen auf die Jagd zu gehen. Die kleinen Felder hinter den Hütten und Häusern der Menschen, die mühsam gerodet worden waren und noch mühsamer von dem wieder zurückdrängenden Wald frei gehalten werden mussten, reichten nicht aus, um sie ausreichend zu ernähren. Schon nach wenigen Jahren war der Boden ausgelaugt und das kleine Stück Freifläche wurde dem Wald zurückgegeben. An anderer Stelle wurde dann ein neues Stück gerodet, um etwas Getreide und Gemüse anzubauen. So kam es, dass Menschen, Tiere und Häuser stets auf Wanderschaft schienen. Von Farusan eine Karte anzufertigen oder Straßen zu bauen, hätte keinen Sinn gemacht. Es konnte vorkommen, dass eine menschliche Siedlung innerhalb nur weniger Jahre an einem Ort entstand, wuchs und wieder verschwunden war. Ganz im Norden von Farusan gab es ein breites fruchtbares Tal, in dem die Königsstadt Elphos an den Ufern des Lekaros lag. Diese Stadt und die einfachen Hütten der Holzfäller in den Wäldern waren die einzigen Horte menschlichen Lebens in Farusan, deren Lage sich nicht veränderte. Elphos wurde über den Fluss mit allem versorgt, was seine Bewohner zum Leben brauchten, die Holzfäller und ihr Familien begnügten sich mit dem, was ihnen der Wald schenkte.

Aus dem Schornstein der Holzfällerhütte stieg eine kleine weiße Rauchsäule fast senkrecht in den Abendhimmel, bevor der Wind in Höhe der Baumspitzen bizarre Kringel zauberte, die sich rasch auflösten. Vor der Hütte stand eine Bank, unter der sorgfältig etwas Feuerholz gestapelt lag. Etwas abseits befand sich ein kleiner Backofen mit einem Holzgestell zum Abkühlen der Brote. Ein kleiner Gemüsegarten, durch einen einfachen Holzzaun vor Verbiss durch die Waldtiere geschützt und ein kleines Feld, auf dem etwas Getreide wuchs, sowie ein Brunnen vervollständigten das kleine Anwesen. In der Hütte gab es nur einen einfachen Wohnraum mit einer Feuerstelle, über der die Hausherrin Sybille die einfache Gerstensuppe für das Abendbrot kochte. In der winzigen Schlafkammer stand ein selbst gezimmertes Bett, gerade groß genug für sie und ihren Mann Loran. Eine Holztruhe enthielt die wenige Wäsche, die das Paar besaß. Alle Möbel, das Geschirr und das Besteck hatte Loran selbst aus dem Holz des Acenisbaumes gefertigt. Ein einfacher Tisch, vier Holzstühle, ein kleiner Schemel und an der Wand ein kleines Regal, in dem ein paar Tontöpfe mit eingelegten Beeren und getrockneten Pilzen standen, mehr Einrichtung gab es in dem Wohnraum nicht. Ihr größter Schatz waren ein kleines Fässchen mit ausgelassenem Schweineschmalz und ein kleines Döschen mit Salz. Nur an besonderen Tagen gönnten sie sich eine Scheibe Brot, die sie dick mit Schmalz bestrichen und anschließend genüsslich mit ein paar Salzkörnern verfeinerten.

Heute war ein so besonderer Tag. Sie hatten vor zehn Jahren geheiratet. Obwohl überall bekannt war, dass Loran ein armer Bursche ist, hatte sich Sybille als junges Mädchen sofort in den gut aussehenden Naturburschen mit den sanften braunen Augen verliebt, als er das erste Mal in ihr Dorf gekommen war, um etwas Holz zu verkaufen. Auch ihm war das sommersprossige rothaarige Mädchen aufgefallen, das ihn keck mit ihren grünen Augen gemustert hatte. Sie hatten fünf lange Jahre warten müssen, bis Sybilles Eltern ihre Einwilligung in die Ehe erteilten. Sie hatten sich einen anderen Schwiegersohn und ein leichteres Leben für ihre Tochter gewünscht. Außerdem war der Dunkle Wald, an dem Loran wohnte, den Menschen in Maintabur nicht geheuer. Sybille hatte jedoch treu zu ihm gestanden und so hatte vor zehn Jahren die einfache Hochzeit stattgefunden. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut, auch wenn das Leben am Wald einsam und einfach war. Es gab nur einen Punkt, der sie sehr betrübte. Obwohl sie sich sehr zugetan waren, hatten sie keine Kinder und so langsam gaben sie die Hoffnung auf, dieses Glück noch erfahren zu dürfen.

„Das Essen ist fertig!“ rief Sybille in der Tür stehend in den Wald. Es gab hier in der Einsamkeit nur Loran und sie, er würde es hören. Es dauerte auch nicht lange, da betrat er das Haus. Sybille hatte zur Feier des Tages ein paar Blumen gepflückt und in einem Holzbecher auf den Tisch gestellt. Zufrieden sah sich Loran in seinem blitzsauberen Haus um. Auch wenn sie einfach lebten, Sauberkeit war in ihrem Heim oberstes Gebot. Verlegen reichte Loran seiner Frau eine Pflanze mit spitzen schwarz-grünen Blättern und einem Blütenstand an dem sich Hunderte winziger rot-gelber Blüten ausgebildet hatten. Er hatte sie in der Nähe des Escalinbaumes gefunden. Sorgsam hatte er darauf geachtet, dass er die Wurzeln des heiligen Baumes nicht verletzte, als er sie für seine Frau ausgegraben hatte. „Für die beste Ehefrau, die sich ein Mann wünschen kann.“ „Oh, eine Waldorchidee!“, rief sie erfreut und gab ihrem Mann dankbar einen Kuss. „Du kannst sie in die Nähe vom Haus pflanzen. Dann hast du sie immer im Blick und kannst dich noch lange daran freuen“, erklärte er bescheiden. Es war ihm wichtig, ihr eine kleine Freude zu bereiten und ihr zu zeigen, dass er sie immer noch wie zu ihrer Hochzeit liebte. Große Geschenke konnte er ihr nicht machen. Umso mehr freute es ihn, dass sie dankbar für jede Art von Aufmerksamkeit seinerseits war. Ihr Geschenk an ihn war der für ihre Verhältnisse festlich gedeckte Tisch mit den Schmalzbroten und der Gerstensuppe, in die sie diesmal sogar ein Stück Speck hineingeschnitten hatte. Vergnügt nahmen sie ihr Mahl ein, als plötzlich herrisch an die Tür geklopft wurde. Fragend sahen sie einander an. Sie hatten keinen Besuch erwartet. „Hoffentlich ist nichts bei Kiran passiert“, flüsterte Sybille ängstlich. Kiran war der befreundete Holzfäller, der am anderen Ende des Waldes mit seinem Sohn Jolin wohnte. Manchmal kam er zu Besuch, doch es war bereits viel zu spät, um zu dieser Zeit nur für einen Freundschaftsbesuch durch den jetzt finsteren Wald zu laufen. Ratlos zuckte Loran mit den Schultern und beeilte sich, die Tür zu öffnen.

Verwundert sah er auf die Frau, die vor dem Haus stand. Sie war zierlich, hatte dunkle ausdrucksstarke Augen und ein schönes Gesicht mit einem wohlgeformten sinnlichen Mund. Sie schien etwas älter als Sybille zu sein. Das kostbare Kleid, das unter ihrem einfachen Umhang aus edlem Tuch hervorschaute, ließ darauf schließen, dass sie von hohem Rang sein musste. Sie trug am Arm einen großen kunstvoll geflochtenen Korb, in dem ein wenige Tage altes Kind schlief. Es war von einer weißen Decke aus feinster Wolle bedeckt. Prüfend musterte sie Loran von Kopf bis Fuß, der sich ehrfürchtig vor ihr verneigte und sie ins Haus bat. Wortlos betrat die Frau die Hütte und sah sich Sybille, die sich ebenfalls erhoben hatte, genauso aufmerksam an, wie sie vorher Loran betrachtet hatte. Sie schien zufrieden und setzte sich wie selbstverständlich an den Tisch. „Ihr habt keine Kinder?“, fragte sie, ohne sich selbst vorzustellen. „Dieses Glück war uns leider nicht vergönnt“ antwortete Loran verlegen. Die Traurigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Sybille schlug beschämt die Augen nieder. Sie gab sich die Schuld dafür, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war. „Das ist Catalina. Sie braucht ein Zuhause. Wäret ihr bereit, sie an Kindes statt anzunehmen und wie eure eigene Tochter großzuziehen?“, wurden die zwei von ihrer ungewöhnlichen Besucherin gefragt. Sprachlos vor Überraschung ließ sich Sybille zurück auf ihren Stuhl fallen. Hilfe suchend blickte sie zu ihrem Mann. Der sah sie traurig an und schüttelte unmerklich den Kopf. Sybille traten vor Enttäuschung Tränen in die Augen. Aber Loran hatte recht. Es wäre einfach zu schön gewesen, wenn sich zumindest auf diese Weise ihr lang gehegter Wunsch nach einem Kind erfüllt hätte. Dem kostbaren Korb und der vornehmen Kleidung ihrer Besucherin nach zu urteilen, musste dieses Kind etwas Besonderes sein. Es gab bestimmt jemanden, der nach ihm suchen würde und ihnen nicht glauben würde, dass eine ihnen unbekannte Frau ihnen dieses Mädchen geschenkt hatte. Loran sah die Enttäuschung auf Sybilles Gesicht, die auch die Seine war. Auch er hätte sich nur zu gern dieses kleinen Geschöpfes angenommen. „Herrin, das geht nicht! Was ist, wenn ihre Eltern oder ihre Familie sie zurückhaben wollen?“ erklärte er vorsichtig. Er wollte die edle Besucherin nicht kränken.

„Ihre Eltern sind tot. Sie hat niemanden auf der Welt, der sich um sie kümmern kann“, war die prompte Antwort. Sybille warf ihrem Mann einen hoffnungsvollen Blick zu. Auch in Loran regte sich Hoffnung, aber seine Bedenken waren noch nicht zerstreut. „Herrin, wie sollen wir den Nachbarn erklären, dass wir plötzlich ein Kind haben?“, wand er ein. „Ihr habt keine Nachbarn!“, antwortete die Frau und ihre Augen funkelten spöttisch. „Deine Frau war seit einem Jahr nicht mehr in eurem Dorf. Wie heißt es gleich? Maintabur?“, fuhr sie fort, als hätte sie Lorans nächsten Einwand vorausgesehen. „Herrin, wer seid Ihr, dass Ihr all dies über uns wisst?“, fragte er verblüfft. Die Frau blickte ihn eindringlich an, bevor sie antwortete. „Es ist besser für euch und das Kind, wenn ihr nicht wisst, wer ich bin!“, erklärte sie streng. Sybille und Loran erschraken gleichermaßen bei dieser Antwort. Sie wollten in nichts Unrechtes hineingezogen werden. Die Frau spürte die Furcht ihrer Gastgeber und überlegte. Sie hatte die Beiden bewusst als Pflegeeltern für Catalina ausgewählt, weil sie weitab von anderen Menschen ein einfaches Leben führten und sie ihr ehrlich und anständig erschienen. Und sie wusste, wie sehr sie sich ein Kind wünschten. Dass das Ehepaar trotzdem zögerte, das Kind ohne weitere Erklärungen anzunehmen, überzeugte sie einmal mehr, die richtige Wahl getroffen zu haben. Loran und Sybille sollten alles über Catalina und ihre Herkunft erfahren, was sie wissen mussten, um sich zu entscheiden.

„Setz dich!“, forderte sie Loran auf, der noch immer mitten im Raum stand. Zögernd setzte er sich zu den Frauen und sah seine Besucherin gespannt an. „Ich werde euch Catalinas Geschichte erzählen“, sagte sie und blickte ernst, erst zu Sybille und dann zu Loran. „Ihr werdet auch erfahren, wer ich bin.“ Unsicher blickten sich der Holzfäller und seine Frau an. „Herrin, Ihr hattet doch gesagt, es sei besser für uns, wenn wir das nicht wüssten!“, fragte Sybille schüchtern nach. Es war das erste Mal, dass sie das Wort ergriff. Ihre Besucherin lächelte mild. „Das ist richtig!“, bekräftigte sie. „Doch ich bin mit einer großen Bitte an euch herangetreten und ihr habt ein Recht, den Grund hierfür zu erfahren. Mit dem Wissen, das ich euch gebe, könnt ihr dann eure Entscheidung treffen. Ich werde euch jedoch die Erinnerung an das, was ihr von mir erfahren habt, anschließend wieder nehmen. Ihr werdet morgen früh erwachen und ein Kind haben, das in einem Korb vor eurer Tür stand …“ Sie machte eine Pause und warf ihren Gastgebern einen prüfenden Blick zu. „… oder ihr werdet vergessen haben, dass ich euch heute Abend besucht habe. Seid ihr dazu bereit?“ Nachdenklich kratzte sich Loran am Kopf. Sybille hatte sich bereits entschieden und sah ihren Mann flehentlich an. Um ihrer stummen Bitte Nachdruck zu verleihen, griff sie sie nach seiner Hand. Zärtlich nahm er ihre Hand und blinzelte seine Besucherin wissend an. „Wir haben doch keine Wahl. Wenn wir jetzt Nein sagen, nehmt Ihr uns doch auch die Erinnerung an euren Besuch, nicht wahr Herrin?“ Die lachte hell auf. Es war ein fast fröhliches Lachen, doch ihre Augen blickten hart. „Loran, du bist ein kluger Bursche“, erkannte sie an. Der lächelte verlegen und rückte ein Stück näher an seiner Frau heran. „Herrin, bitte erzählt uns die Geschichte“, bat er und drückte ermutigend Sybilles Hand. Seine Frau erwiderte seinen Händedruck. So machten sie sich gegenseitig Mut für das, was jetzt kommen würde. Sie hatten das ungute Gefühl, dass es sich bei Catalinas Geschichte nicht um eine fröhliche Erzählung handeln würde.

„Ich bin Gaya und Catalina ist das Kind meiner Tochter Cara“, begann die Besucherin des Paares gleich mit einem Paukenschlag. Erschrocken wollten Loran und Sybille aufspringen und sich tief vor Gaya verneigen. „Bleibt sitzen!“, befahl sie herrisch. Gehorsam blieben die beiden sitzen und senkten den Blick, wie es Menschen vorgeschrieben war, wenn sie einem Gott gegenüberstanden. „Seht mich an, wenn ich mit euch rede. Ich will eure Augen sehen!“, herrschte Gaya ihre Gastgeber an. Schüchtern hoben Sybille und Loran den Blick. Gaya zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, das seine Wirkung nicht verfehlte. Die Eheleute hielten sich zwar immer noch an den Händen, doch sie sahen Gaya gespannt und nicht mehr ganz so ängstlich an. Was Gaya ihnen nun erzählte, zog sie sie ganz in ihren Bann.

Catalinas Mutter war eine Tochter Gayas gewesen. Sie war ihrer Mutter Gehorsam schuldig und hätte dankbar in dem goldenen Käfig leben müssen, in den Gaya ihre Töchter sperrte, zu deren eigenem Schutz, wie sie sagte. So empfanden das zumindest Loran und Sybille, als sie hörten, welch strengen Regeln und Geboten Cara bei ihrer Mutter unterlegen gewesen war. Gaya übte uneingeschränkte Kontrolle über einfach jeden Lebensbereich der Tochter aus. Doch Cara hatte sich aus Liebe zu einem Mann gegen ihre Mutter aufgelehnt und beschlossen, mit ihm und ihrem Kind in Osiat ihr eigenes Leben zu leben. „Sie hat sich gegen mich und für einen Mann entschieden! Das ist einfach unvorstellbar!“, rief Gaya empört. Sie war aufgesprungen und lief aufgeregt in der engen Hütte hin und her. Es war überdeutlich, dass sie noch immer über diese Entscheidung ihrer Tochter aufgebracht war. Sybille sah Gaya verstört an. Auch sie hatte sich gegen den Rat ihrer Eltern für Loran entschieden. Doch sie hatte das nie als Abkehr von ihren Eltern empfunden. Im Gegenteil, ihre Mutter und ihr Vater hatten ihren festen Platz in ihrem Herzen. Loran war einfach nur noch dazugekommen. Sybille hatte auch nie den Eindruck, dass ihre Eltern die Liebe ihrer Tochter zu einem Mann als Zurückweisung empfanden. Fragend sah sie zu ihrem Mann, der nachdenklich die Augenbrauen zusammengezogen hatte. Gayas heftige Reaktion war auch ihm ein Rätsel. Ratlos zuckte er mit den Schultern. Gaya hatte sich inzwischen wieder soweit beruhigt, dass sie mit ihrer Erzählung fortfahren konnte. „Ich war so wütend auf Cara, dass ich ihr den magischen Schutz verweigert habe, mit dem ich sonst für die Sicherheit meiner Tochter gesorgt habe. Wenn sie sich aus Liebe in Gefahr begeben wollte, so sollte sie das ruhig tun. Ich wollte, dass sie einsieht, dass ich recht habe und mich um Verzeihung bittet. Ich habe die Gefahr, in der sie schwebte, unterschätzt und sie war einfach zu stolz, mich um Hilfe zu bitten.“ Gaya lächelte bitter. Die Gefahr, in die sich Cara begeben hatte, kam jedoch nicht von dem Mann, den sie liebte.

Morlan, ein mächtiger Magier aus Estosia, hatte sich in Cara verliebt und offiziell bei Gaya um die Hand ihrer Tochter angehalten. Empört hatte ihn Cara abgewiesen. Niemals würde sie sich mit einem Mann vermählen, der ein Meister der Schwarzen Magie ist und von dem bekannt war, dass es ihm das größte Vergnügen bereitete, andere zu quälen. Morlan hatte diese Kränkung nicht vergessen. „Vor ein paar Tagen ist dann das Unglück geschehen“, sprach die Göttin nach einer kurzen Pause weiter. „Ich bin sicher, es war Morlan, der Cara und ihren Mann getötet hat. Niemand sonst hätte sie überwältigen können. Cara hat seine Anwesenheit spüren können. Deshalb ist es ihnen noch gelungen, ihr Kind zu verstecken. Zuerst hat er dann wohl Dimendes getötet, sonst wäre er nie an meine Tochter herangekommen.“ „Das war Caras Mann!“, erklärte sie ungeduldig auf Lorans fragenden Blick. „Ich bin sofort zu ihr geeilt, als ich ihre panische Angst und dann ihren Todeskampf gespürt habe. Er hat sie ganz langsam erwürgt. Wahrscheinlich hat es ihm Freude bereitet, zuzusehen, wie das Leben aus Caras Augen wich. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass sie ihm doch noch sagen würde, wo Catalina war. Doch sie war lieber in den Tod gegangen, als ihre Tochter diesem Mann zu übergeben. Sie hat ihm nicht verraten, wo sie ihr Kind versteckt hatte. Und ich! Ich bin zu spät gekommen! Ich konnte sie nicht mehr retten“, beendete Gaya tonlos ihren Bericht. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

Sybille und Loran hatten ihr atemlos zugehört. Voll Mitleid lugten sie in den Korb. Das Kind hatte blonden Flaum auf dem Köpfchen und war in ihren Augen das hübscheste Kind, das sie je gesehen hatte. Es hatte einen sehr schön geformten Mund und eine niedliche Stupsnase. Gerade rieb es sich im Schlaf mit den winzigen Fäusten die Augen, ohne sie zu öffnen, und schlief dann mit einem erleichterten Seufzer weiter. Gaya war dem Blick des Paares gefolgt. „Morlan war schon geflohen, als ich dort eintraf, aber seine Magie lag noch über dem Ort. Daher weiß ich, dass er dieses Verbrechen begangen hat. Zum Glück hat er Catalina nicht gefunden. Ich habe sie auch erst nach langer Suche finden können. Sie lag versteckt in diesem Korb in einer tiefen Felsspalte und hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben, als hätte sie gespürt, dass sie in höchster Gefahr geschwebt hatte.“ Voll Stolz blickte sie auf das Kind, das jetzt erwacht war und sie mit ungewöhnlich dunkelblauen Augen ansah. Eine Weile herrschte Stille in dem kleinen Raum. Loran strich sich nachdenklich über das Gesicht und Sybille konnte ihren Blick nicht mehr von dem Korb wenden. Gaya musterte ihre Gastgeber, während sie ihnen Zeit gab, das Gehörte zu verarbeiten. „Warum wir? Ihr habt gesagt, dieser Morlan ist ein mächtiger Magier. Wir sind nur einfache Leute und keiner Magie mächtig, um dieses Kind schützen zu können. Wäre sie da nicht besser bei Euch aufgehoben?“, fragte Loran. Gaya nickte zufrieden. Der Holzfäller war zwar ein einfacher, aber kein dummer Mann, und er hatte gut zugehört. „Gerade deshalb habe ich euch gewählt. Catalina soll als einfaches Menschenkind ohne jegliche Magie aufwachsen. Niemand würde sie bei einem einfachen Holzfäller und dessen Frau vermuten. Das ist ihr größter Schutz. Da ihr so einsam wohnt, könnt ihr sie gut als euer leibliches Kind ausgeben, ohne dass jemand Verdacht schöpfen würde“, antwortete Gaya ruhig. Endlich wich die Anspannung aus Lorans Gesicht und seine Augen leuchteten vor Freude. „Seid ihr bereit, sie bei euch aufzunehmen?“, wiederholte Gaya ihre Frage. „Herrin, habt Dank für Euer Vertrauen! Wir werden ihr all unsere Liebe schenken und sie zu einem anständigen Menschen erziehen“, antwortete Loran ohne zu zögern und Sybille nickte eifrig. Glücklich strahlte sie ihren Mann an. Sie hatte sich schon bei ihrem ersten Blick in den Korb in das kleine Wesen verliebt und war froh, dass es ihm offensichtlich ebenso ergangen war.

Gaya lächelte dünn. Zum ersten Mal, seit sie die Hütte betreten hatte, erschien so etwas wie ein warmes Leuchten in ihren Augen. „Ihr erweist mir einen großen Dienst“, erwiderte sie freundlich. „Als Dank für eure Freundlichkeit werdet ihr euch von jetzt an keine Sorgen mehr um euer Auskommen machen müssen. Euer Feld wird fruchtbar sein und ihr werdet nie wieder Hunger leiden. Baut einen Stall. Ihr werdet morgen eine Kuh erhalten, die euch Milch für das Kind geben wird.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und wandte sich zur Tür. „Herrin!“, rief ihr Sybille hinterher und warf einen kurzen Blick zu Loran, der ihr ermutigend zunickte. „Ihr dürft noch nicht gehen. Ihr müsst uns doch noch die Erinnerung an Catalinas Geschichte nehmen.“ Gaya verharrte und schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Sie hatte ein letztes Mal die Rechtschaffenheit des Paares geprüft und war nicht enttäuscht worden. Hätte ihr Sybille nicht hinterher gerufen, hätte sie den beiden sämtliche Erinnerung an ihren Besuch genommen. Allerdings hätte sie dann für Catalina ein neues Zuhause suchen müssen. Das hätte sie sehr verärgert, denn sie wollte das Kind so schnell wie möglich in Sicherheit wissen. Wie das Ganze für Loran und Sybille am Ende ausgegangen wäre, ist schwer vorherzusagen, denn eine verärgerte Gaya ist unberechenbar. Doch so drehte sich die Göttin wieder zu den beiden um und trat auf sie zu. „Schließt eure Augen und habt keine Angst“, forderte sie sie auf. Gehorsam taten der Holzfäller und seine Frau, wie ihnen befohlen. Beide spürten Gayas Hand auf ihrem Gesicht und hörten, wie sie leise fremdartig klingende Worte vor sich hinmurmelte. Dann wurde es für beide Nacht.

Sybille wachte am nächsten Morgen mit dröhnenden Kopfschmerzen auf. Loran wälzte sich im Bett unruhig neben ihr hin und her. Benommen dachte sie über den eigenartigen Traum nach, der sie auch jetzt noch atemlos machte. Sie seufzte tief und sah zu ihrem Mann. Er war ebenfalls schon wach. „Ich fühle mich, als hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen“, brummte er müde. Das war auch gar nicht so falsch, denn es war kaum drei Stunden her, seit sie Gaya verlassen hatte. „Muss wohl an dem ungewöhnlichen Traum liegen, den ich gehabt habe.“ Müde drehte er sich auf die Seite und nahm Sybille noch einmal in den Arm. „Was hast du denn geträumt?“, fragte sie vorsichtig. Obwohl sie mit ihrem Mann wie gewöhnlich in ihrer winzigen Schlafkammer lag, war an diesem Morgen nichts wie sonst. Sie spürte es ganz deutlich. Irgendetwas war anders, war neu. Sie konnte es aber noch nicht fassen. „Ich habe geträumt, wir haben einen Korb mit einem Kind vor unserer Tür gefunden“, antwortete Loran nach einer Weile. Er hatte mit seiner Antwort gezögert. Er wusste doch, wie sehr seine Frau unter ihrer Kinderlosigkeit litt. Sybille drehte sich auch prompt zu ihm um und sah ihn mit einem eigenartigen Blick an. Loran war wütend auf sich. Warum hatte er sich nicht einfach etwas Belangloses einfallen lassen? Jetzt hatte er sie verletzt, aber er war einfach noch zu müde. „Loran, das war kein Traum“, flüsterte sie beklommen. „Hör doch!“ Loran setzte sich sofort auf und spitzte die Ohren. Deutlich klang aus dem Nebenraum ein leises Wimmern zu ihnen herüber. „Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte Loran. „Es ist wahr. Ich hatte denselben Traum“, bestätigte Sybille. Er sah sie sprachlos an. Sie nickte nur, denn sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Leise stiegen sie aus dem Bett und schlichen auf Zehenspitzen zur Tür. Auf ihrem Tisch stand ein kostbar geflochtener Weidenkorb, aus dem das Wimmern drang. Daneben stand eine tönerne Flasche mit einem spitz zulaufenden Deckel. An der Spitze bestand er aus einem Silberblech mit winzigen Löchern. So ein Gefäß hatten sie noch nie gesehen. Leise näherten sie sich dem Korb, in dem tatsächlich ein kleines Kind lag. Als es die beiden Menschen sah, hörte es sofort auf, zu wimmern. Es war mit einer weichen Wolldecke zugedeckt, auf der eine Kette mit einem ungewöhnlichen Medaillon lag. Beide durchfuhr ein freudiger Schreck und Sybille schlug die Hand vor den Mund. Loran stürzte vor die Tür, um nach dem Besitzer des Korbs zu suchen, während Sybille erst einmal kopflos von der Feuerstelle zum Korb und wieder zurücklief. Sie hatte sofort gespürt, dass das Kind vor Hunger gewimmert hatte und dringend etwas Milch brauchte. Doch sie hatte keine Milch für das Kind und war auch sonst in keiner Weise darauf vorbereitet, ein Kind zu versorgen.

Tausend Gedanken stürzten auf sie ein. Sie hatten keine Wiege, keine Windeln, keine Bekleidung für das Kind. Wie sollten sie es ernähren? Sie hatten auch keine Kuh, die ihnen Milch geben konnte. Verwirrt ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und zwang sich zur Ruhe. Das Kind fing wieder an zu wimmern. Das brachte sie dazu, sich zu sammeln. Zu allererst musste sie sich um das Kind kümmern. Als sie die Kette von der Decke nahm, hörte sie auf einmal eine befehlende Stimme in ihrem Kopf: „Sorgt dafür, dass Catalina diese Kette immer trägt! Sie ist von ihrer Mutter und wird sie beschützen. Sie darf sie niemals abnehmen!“ Wie im Traum nickte Sybille und wand sich dem Kind zu. „Du bist also ein Mädchen und heißt Catalina“, sagte sie leise zu dem kleinen Wesen, als sie es vorsichtig aus dem Korb hob. Sie war erstaunt, wie leicht dieses Kind war, das sie stumm mit seinen großen dunkelblauen Augen ansah. Ratlos nahm sie die ungewöhnliche Flasche in die Hand und besah sie sich von allen Seiten. Erschrocken drehte sie die Flasche wieder herum, da plötzlich Milch aus den kleinen Löchern der silbernen Spitze tropfte. „Du hast ja dein Essen gleich mitgebracht“, lachte sie leise das Kind auf ihrem Arm an. Sie begann, mit ihm zu sprechen, um sich selbst Mut zu machen und ihre Gedanken zu ordnen. „Die Milch ist kalt. Wir müssen sie aufwärmen. Feuer!“ Und schon lief sie mit dem Kind auf dem Arm zu der Feuerstelle und legte ein paar kleine Scheite in die noch glühende Asche vom Vortag. Es dauerte auch nicht lange und ein lustiges Feuer tanzte unter dem Wassertopf, den sie darüber schon gehängt hatte. Vorsichtig legte sie die tönerne Flasche mit der Milch in das Wasserbad und prüfte immer wieder die Temperatur. Dabei wiegte sie das Kind in ihrem Arm. Endlich erschien ihr die Milch warm genug und sie führte Catalina die silberne Spitze an den kleinen Mund. Das Kind schien die Flasche bereits zu kennen und fing sofort an, gierig daran zu saugen. Erleichtert beobachtete Sybille, wie das kleine Mädchen die Flasche schmatzend Schluck um Schluck lehrte.

In diesem Augenblick kehrte ihr sichtlich verwirrter Mann in die Hütte zurück. „Es ist niemand da, dem dieses Kind gehören könnte und …“, fing er an, verstummte dann aber bei dem Anblick, der sich ihm bot. Am Tisch saß seine Frau mit leuchtenden Augen und einem wunderschönen Kind im Arm, dem sie die Flasche gab. Vor Rührung bekam Loran feuchte Augen. Das hatte er sich immer gewünscht und nun war ihr sehnlichster Wunsch wie durch ein Wunder in Erfüllung gegangen. Still setzte er sich zu seiner Frau und streichelte ihr zärtlich das Gesicht. „Sie heißt Catalina“, erzählte sie ihm. „Woher weißt du das?“, fragte er erstaunt. „Von der Kette dort. Sie soll sie immer tragen, weil sie sie beschützt. Sie ist von Catalinas Mutter“, klärte ihn Sybille auf. Sanft fuhr er über Catalinas kleines Händchen. Eine warme Woge durchfuhr ihn, als sich die winzige Faust um einen seiner starken Finger schloss und ihn nicht mehr losließ. „Sie mag mich“, strahlte er. Sybille stellte die leere Flasche auf den Tisch zurück und fing an, Catalina sanft im Arm zu wiegen. Beide lachten fröhlich, als sich Catalina mit einem kräftigen Bäuerchen Luft machte. Plötzlich erstarb das Lachen in Sybilles Gesicht. „Loran, ich möchte sie nie wieder hergeben! Du hast wirklich niemanden gesehen, dem dieses Kind gehört?“, fragte sie ängstlich. Er schüttelte den Kopf und nahm nachdenklich die Kette, die unbeachtet auf dem Tisch gelegen hatte, in die Hand. Sofort hörte er dieselben Worte, von denen ihm seine Frau erzählt hatte. „Ich glaube, es gibt einen Grund dafür, dass sie bei uns ist, auch wenn ich dir nicht sagen kann, welchen“, antwortete er überzeugt und legte Catalina die Kette um. Wie zur Bestätigung leuchtete das Medaillon kurz auf. Sybille wirkte beruhigt, doch dann runzelte sie sogleich betrübt ihre Stirn. „Wie sollen wir sie ernähren? Wir haben doch gar keine Milch.“ „Doch, haben wir!“, widersprach Loran und lächelte verschmitzt. „Jemand hat eine Kuh mit einem schönen dicken Euter an dem Zaun von unserem Gemüsebeet angebunden. Das kann kein Zufall sein. Wir sollen uns um die Kleine hier kümmern und das werden wir auch!“ „Ja, das werden wir!“, bekräftigte Sybille.

Erleichtert seufzte sie auf, um gleich in den nächsten Schrecken auszubrechen. „Wir haben keine Windeln und keine Kleider für sie!“, rief sie. Loran schüttelte über die immer neuen Bedenken seiner Frau nachsichtig den Kopf. Für ihn waren alle Veränderungen, die jetzt durch das neue Mitglied ihrer kleinen Gemeinschaft auf sie zukamen, zu meistern. Er würde zwar in den nächsten Tagen eine Wiege für das Kind und einen Stall für die Kuh bauen müssen, doch würde er sich voller Freude an die Arbeit machen. „Sieh doch in der Truhe nach. Vielleicht findest du dort etwas Brauchbares“, schlug er vor. Sogleich drückte Sybille ihrem überraschten Mann das Kind in den Arm und eilte zum Schlafraum. In der Truhe bewahrte sie ihre wenige Mitgift auf. Dort musste es auch ein paar Leinentücher geben, die für die nötigste Bekleidung des Kindes ausreichen sollten. Wie erstaunt war sie, als sie den Deckel anhob. Bis oben hin war die Truhe angefüllt mit feinstem Leinen und Wollstoffen in den unterschiedlichsten Farben. Freudentränen liefen ihr die Wangen herab, als sie sich ganz schwach vor Glück an den Türrahmen lehnte. „Loran, dieses Kind ist ein Geschenk der Götter!“, sagte sie und wies mit der Hand auf die Truhe. Staunend trat er zu seiner Frau und nahm sie wortlos in den Arm. So wie er da jetzt in seiner kleine Hütte stand, Catalina auf dem einen Arm und Sybille in dem anderen, war er der glücklichste Mann in ganz Farusan.

Jedes Jahr kam Gaya bei dem Holzfäller und seiner Frau in Gestalt eines Tieres vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie gab sich den beiden bewusst nicht zu erkennen, denn sie wollte sich ein eigenes Bild davon machen, wie es Catalina bei ihren Pflegeeltern erging. Doch sie wurde nie enttäuscht. Loran und Sybille waren Catalina Eltern, wie sie liebevoller nicht zu einem leiblichen Kind hätten sein können. Als Catalina dem Säuglingsalter entwachsen war und nicht mehr täglich ihre Milch brauchte, hatten sie die Kuh verkauft. Von dem Geld hatten sich einen neuen Backofen bauen können, denn der alte war über die Jahre ausgebrannt und rissig geworden. Mit dem Holz des ehemaligen Kuhstalls hatte Loran die Hütte um einen Anbau erweitert, in dem sich die Schlafkammer für das Kind befand. Mehr als ihr Bett und ein kleiner Hocker fanden dort zwar nicht Platz, aber für einfache Leute wie den Holzfäller stellte es einen beträchtlichen Luxus dar, seiner Tochter einen eigenen Schlafraum zur Verfügung stellen zu können. So war über die Jahre aus der einfachen Hütte ein kleines Häuschen geworden.

Inzwischen waren zehn Jahre vergangen und Gaya war wieder einmal zu dem einsamen Haus des Holzfällers gekommen. Es war ein schöner sonniger Tag und ein leichter Wind sorgte dafür, dass es nicht zu heiß war. Die Luft war erfüllt von dem Duft des Frühsommers. Es roch süß nach den gelben Blüten der Farusbäume und aromatisch nach dem Harz der Nadelbäume. Als schwarz-weißer Vogel mit einem langen Schwanz ließ sie sich in einem der Bäume nieder. Dieser Vogel kam häufig in der Gegend vor und so blieb ihre Anwesenheit unbemerkt. Aufmerksam musterte sie das Haus und seine Umgebung. Seit sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sich einiges verändert. Aus den ehemals kleinen Büschen am Rand des Anwesens, in deren Schatten Sybille die Waldorchidee gepflanzt hatte, hatte sich eine dichte hohe Hecke gebildet. Jetzt, im Sommer, war sie von Tausenden kleiner weißer Blüten übersät. Ihre Zweige wippten von den vielen kleinen Vögeln, die darin eifrig ihrem Brutgeschäft nachgingen. Eine Vielzahl verschiedenster Insekten sorgte für ein monotones Summen, das selbst in einigem Abstand von den Büschen zu hören war. Vor dem Haus stand eine neue Bank. Loran und Sybille wurden langsam älter und liebten es, nach getaner Arbeit in der Sonne zu sitzen und ihrer Tochter beim Spielen zuzusehen. Doch im Moment mussten sie wohl im Haus sein, denn Gaya konnte sie nirgends sehen. Catalina spielte hinter dem Haus. Von dort drang ihre helle Kinderstimme zu der Göttin. Da entdeckte Gaya etwas, was ihr äußerstes Missfallen erregte. Sie ließ sich zu der Hecke niedersinken und nahm dort, von den Büschen verborgen, ihre menschliche Gestalt an.

Catalinas Kette lag unbeachtet neben dem Brunnen auf einem großen Findling. Gaya hatte das Schmuckstück mit einem Zauber belegt. Einmal um Catalinas Hals gelegt, würde es niemandem möglich sein, sie ihr abzunehmen. Nur sie selbst konnte die Kette ablegen. Bei ihren vorherigen Besuchen hatte Gaya sie immer an dem Kind gesehen. Also musste Catalina sie selbst abgenommen und dorthin gelegt haben. Der Ärger der Göttin ließ etwas nach und sie beschloss, versteckt abzuwarten, wie die Eltern auf die Missachtung ihrer Anweisung durch ihre Tochter reagieren würden. Loran trat aus dem Haus. Sein Haar war immer noch dicht, doch das Braun war inzwischen von Silberfäden durchzogen. In seinem freundlichen Gesicht hatten sich ein paar Lachfalten um die Augen herum gebildet. Suchend sah er sich nach dem Kind um und entdeckte sofort Catalinas Schmuck auf dem Stein. „Catalina!“, rief er streng und nahm stirnrunzelnd die Kette auf. Das Kind kam hinter dem Haus hervorgesprungen. Aus Catalina war ein blondgelockter Wirbelwind geworden. Sybille hatte das Haar ihrer Tochter zu ordentlichen Zöpfen geflochten, die lustig um ihre Schultern hüpften. Krumen trockener Erde hatten sich darin verfangen. Selbst in ihrem verschwitzten Gesicht klebte Erde, aber ihre Augen leuchteten vor Freude. „Ja, Vater!“ Sie trug ein einfaches Wollkleid aus dem blauen Wollstoff, der in Sybilles Truhe lag und sich wundersamer Weise immer wieder erneuerte, so oft davon etwas genommen wurde, um daraus Kleidung zu nähen. Befriedigt sah Gaya, dass Sybille lediglich einmal vor sehr langer Zeit gewagt haben musste, aus diesem Stoff auch für Loran ein neues Hemd zu schneidern. Das Hemd, das er trug, ließ nur noch erahnen, dass es einmal aus grünem Stoff bestanden haben musste. Inzwischen war es bereits ausgeblichen und an vielen Stellen geflickt. Das Paar hatte seinen bescheidenen und ehrlichen Lebensstil beibehalten. Sie waren nie auf den Gedanken gekommen, aus den Stoffen Geld zu machen und sich zu bereichern.

„Catalina! Wie oft haben wir dir gesagt, dass du deine Kette niemals ablegen sollst?“, tadelte Loran ärgerlich. „Ich wollte doch diese Eidechse fangen und die Kette ist so schwer!“, maulte Catalina. „Schau nur, wie schön sie ist“, versuchte sie Loran von dem ursprünglichen Grund seines Rufes abzubringen. Sie mochte es gar nicht, wenn ihr Vater mit ihr unzufrieden war. Vorsichtig öffnete sie ihre Hände, in denen das kleine zierliche Tier saß. In dem Sonnenlicht glänzte seine Haut in allen Regenbogenfarben. Doch Loran blieb hart. Ächzend setzte er sich auf die Bank und zog das Kind an sich heran. „Du hast uns versprochen, sie immer zu tragen. Ein einmal gegebenes Wort muss man immer halten“, ermahnte der Vater und zupfte ihr liebevoll die Erde aus dem Haar. Verlegen blickte Catalina zu Boden. „Die Kette ist etwas ganz Besonderes. Sie beschützt dich, wo immer du auch bist“, erklärte er, während er ihr das Schmuckstück wieder umlegte. „Ich war doch nur im Wald“, protestierte das Mädchen. „Ich mag die Tiere dort und muss auch nicht vor ihnen beschützt werden!“, warf Catalina trotzig ein. Loran seufzte und Gaya, die das Gespräch von ihrem Versteck aus verfolgte, lächelte. „Im Wald treibt sich manchmal Gesindel herum. Es sind die Menschen, vor denen du beschützt werden musst, nicht die Tiere. Versprich mir, dass du die Kette nie wieder abnimmst. Ganz egal was geschieht!“, forderte er ernst. Catalina sah ihren Ziehvater mit ihren großen blauen Augen unsicher an. „Ich verspreche es!“ Stürmisch gab sie ihm einen Kuss auf die kratzige Wange.

„Nun zeig mir mal deine Eidechse“, forderte er sie versöhnt auf. Gaya lachte leise als sie sah, wie geschickt das kleine Mädchen seinen Vater um den Finger wickelte. Doch da er sich im entscheidenden Moment unbeeindruckt von Catalinas kindlichem Charme gezeigt hatte, sah Gaya keinen Grund, einzugreifen. Zufrieden verließ sie den Holzfäller und seine Tochter, zu der sich inzwischen auch Sybille gesellt hatte, denn das bunte Tier musste natürlich auch der Mutter gezeigt werden. Catalina wollte die Eidechse sehr gern behalten. Doch der Vater hatte ihr erklärt, dass sie in den Wald gehört, wo sie zu Hause ist. Sie würde dort viel glücklicher leben, als wenn sie eine Gefangene wäre. Aufmerksam hatte die Tochter den Worten des Vaters gelauscht. Er hatte ihr erklärt, dass selbst der schönste Käfig mit seiner Sicherheit vor den Gefahren, die der kleinen Eidechse im Wald drohen würden, das kleine Tier sehr traurig machen würde. Es würde sein Leben in Freiheit vermissen, seine schönen Farben verlieren und am Ende vor Kummer sterben. Die Worte des Vaters waren bei Catalina auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie war sofort aufgesprungen und zu der Stelle gelaufen, wo sie die Eidechse gefangen hatte. Dort hatte sie sie wieder freigelassen und glücklich zugesehen, wie das kleine Tier flink hinter einem Stein verschwand. Zufrieden kehrte sie zu ihren Eltern zurück und setzte sich zu ihnen auf die Bank. Stolz strich ihr der Vater über den Kopf. Catalina fühlte sich unheimlich gut, weil sie wusste, sie hatte das Richtige getan, obwohl es das Gegenteil von dem war, was sie ursprünglich vorgehabt hatte.

Quondam ... Der magische Schild

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