Читать книгу Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - Страница 5

Kapitel 3

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Thore ritt wie der Wind. Eric lag wie ein Mehlsack quer über dem Rücken des riesigen Hengstes, gehalten von dem eisernen Griff seines Vaters. All sein Schreien und Wehren war vergebens. Er konnte sich weder aus dieser unbequemen Lage befreien noch sich durch Flucht seiner Verschleppung entziehen. Die Sonne war längst schon untergegangen, doch Pferd und Reiter fanden auch in der Dunkelheit mühelos ihren Weg. Erstaunt bemerkte Eric, dass von dem Schimmel ein leichtes Leuchten ausging. Es war nicht sehr hell, reichte jedoch aus, um das direkt vor ihnen liegende Stück des Weges soweit zu bescheinen, dass sich das Pferd sicher bewegen konnte. So ritten sie Stunde um Stunde durch die Nacht. Eric hatte keine Kraft mehr, sich zu sträuben. Sein Bauch und seine Rippen taten von der ungewohnten Lage auf dem Pferderücken weh. Sein Atem ging keuchend und ihm wurde langsam schwarz vor Augen. Thore hatte ein Einsehen. In vollem Galopp hob er den Jungen so schnell an und setzte ihn vor sich im Sattel wieder ab, dass ihm ganz schwindlig wurde. „Mach ja keine Schwierigkeiten!“, drohte der große Gott. Es war das erste Mal, dass er etwas gesagt hatte, seit sie Trendhoak verlassen hatten. Eric war viel zu durcheinander, um zu antworten. Die Geschehnisse der letzten Tage verwirrten ihn. Tausend Gefühle stürzten auf ihn ein. Eben noch hatte er mit Leif und den anderen Kindern des Dorfes im Fluss gebadet. Dann hatte er erfahren, dass seine Mutter gestorben war. Noch bevor er richtig von ihr Abschied nehmen konnte, hatte er ihre Seele durch das Feuer befreien müssen. Seine unendliche Trauer über ihren Tod hatte sich in Wut gegen seinen Vater gewandelt. Doch schien dies alles bereits in weiter Ferne zu liegen. Wehmütig dachte er an Leif, Lars, Gwyn und Thorben, die seine neue Familie sein wollten. Er hatte keine Ahnung, warum ihn sein Vater aus seiner vertrauten Umgebung gerissen hatte, noch wohin Thore ihn brachte.

Plötzlich änderte sich der Schritt des Pferdes. Das dumpfe Hämmern der Hufe auf dem weichen erdigen Boden Osiats wich einem vernehmlichen Klappern, das auf eine Steinstraße schließen ließ. Eric war erschüttert. Das musste die Brücke sein, die Osiat mit Amesia verband. Wie die meisten Menschen hatte er sie noch nie gesehen. Von Erzählungen wusste er, dass sie aus Stein gebaut war. Sie war sehr lang, sehr steil und der einzige Zugang von der Welt der Menschen zur Welt der Götter. An ihrem Ende verwehrte ein magischer Nebel jedem Wagemutigen, der sich bis hierher getraut hatte, den Zutritt nach Amesia. Es hieß, kein Mensch käme lebend durch diesen Nebel. Allerdings hieß es auch, dass die Kinder der Götter zu ihren Vätern nach Amesia geschickt würden, sobald sie ein bestimmtes Alter erreicht hätten. Nun verließ Eric unfreiwillig über diese, ihm endlos lang erscheinende Brücke Osiat. Er bezweifelte, dass ihm die Seele seiner Mutter durch diesen magischen Nebel würde folgen können. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er daran dachte. Jetzt fühlte er sich endgültig allein und der Verlust seiner Mutter wog doppelt schwer. Thore zuckte merklich zusammen, als eine von Erics Tränen auf seine Hand fiel. Entschlossen wischte sich Eric über das Gesicht. Er wollte nicht, dass ihn sein Vater weinen sah. In dem schwachen Licht, das von dem Hengst auszugehen schien, erkannte Eric wie sie sich dem Nebel näherten. Erst wurde es deutlich kühler und dann so kalt, dass er furchtbar zu frieren anfing. Mit dem Nebel kroch die Kälte unter sein dünnes Hemd und eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Er fing an zu zittern, obwohl er sich größte Mühe gab, vor seinem Vater zu verbergen, wie entsetzlich kalt ihm war.

Thore verlangsamte den Lauf seines Pferdes und warf Eric wortlos einen Mantel über. Er war viel zu groß für den Jungen und hing an den Seiten weit herunter. Eric hatte Mühe, den schweren Mantel mit seinen klammen Fingern zu halten. Thore gab seinem Schimmel wieder die Sporen. Endlich waren sie durch den Nebel hindurch und auf der anderen Seite der Brücke angelangt. Das Klappern der Hufe hörte auf. Für Eric war es, als wäre das Band zu seiner Kindheit mit dem ersten dumpfen Schritt des Pferdes auf dem ihm unbekannten Land durchtrennt worden. Die Liebe und Wärme seiner Mutter hatte er für immer hinter sich gelassen. Jetzt wollte er nur noch so schnell wie möglich zu einem Mann werden. Nie wieder würde er sich eine Schwäche erlauben und in Tränen ausbrechen. Er nahm sich vor, stark und hart zu werden, um sich niemals wieder so verletzlich zu fühlen. Von seinem Vater erwartete er keine Herzlichkeit. Seit Stunden hielt ihn Thore sicher auf dem dahin galoppierenden Pferd fest. Doch Thores eisenharter Griff hatte nichts Väterliches an sich. Genauso hätte er wahrscheinlich eine unbeseelte Last umklammert, die während eines raschen Ritts nicht vom Pferd rutschen sollte. Die Unnahbarkeit des großen Gottes hatte für Eric auch ihr Gutes. Sie half ihm, seine Trauer und Verzweiflung zu überwinden und beinahe gelassen dem entgegen zu sehen, was kommen würde.

Kurz nach Sonnenaufgang erreichten sie Oskan. Die Stadt schmiegte sich an die sanften Hänge eines Berges, der mitten in Amesia lag. Auf seiner Kuppe standen Paläste aus weißem Stein, die das Morgenrot rosa überhauchte. Der größte und schönste Palast bestand aus drei Flügeln. Eric hatte noch nie ein so großes Gebäude gesehen. An einen riesigen Mittelbau, der von einem prächtigen Giebel bekrönt wurde und in den alle Häuser Trendhoaks hineingepasst hätten, schlossen sich noch zwei Anbauten im rechten Winkel dazu an. Eine aus der Ferne zierlich wirkende Mauer, aus welcher mehrere runde Türme ragten, trennte die Wohnstatt der Götter von der Oberstadt, in der die Kinder der Götter mit ihren Familien in großen schönen Holzhäusern lebten. Pracht und Größe dieser Häuser nahmen ab, je weiter entlegen sie sich von den Palästen befanden. Am Fuß des Götterberges wohnten die entfernten Nachkommen der Götter in der Unterstadt. Eng an eng drängten sich dort die zum Teil sehr einfachen Häuser. Umgeben war Oskan von einer mächtigen Mauer, die nur von den stark bewachten Stadttoren unterbrochen war.

In unvermindertem Galopp sprengte Thore durch die Straßen Oskans immer weiter hin zum Götterberg. Der Hof vor Thores Palast war das Ziel ihres Rittes. Dort war trotz der frühen Stunde schon viel Leben. Dutzende Soldaten und Wachen konnte Eric ausmachen. Auch andere Gestalten liefen dort schon, beladen mit unterschiedlichsten Werkzeugen, Lasten oder Schreibrollen, geschäftig hin und her. Sie alle verneigten sich tief, als Thore von seinem Schimmel stieg. Unsanft zog er Eric vom Pferd. Einem jungen Burschen in ihrer Nähe warf der große Gott die Zügel zu. „Kümmere dich gut um ihn. Er hat einen langen Ritt hinter sich“, befahl er mit strenger Stimme. „Ja, Herr!“, antwortete der Stallknecht ehrfürchtig. Mit Befremden sah Eric, wie Thore dem Schimmel zärtlich den verschwitzten Hals tätschelte. So sanft hatte ihn sein Vater bisher noch nicht behandelt. Der fing auch jetzt nicht damit an. Im Gegenteil. Grob packte er Eric am Arm und stieß ihn zu den Treppen, die zum Palasteingang führten. Das aufkommende Wispern im Hof verstummte sofort unter Thores drohendem Blick. Doch kaum war der große Gott mit dem Jungen im Palast verschwunden, begann die Gerüchteküche zu brodeln, wen Thore da in den Palast gebracht hatte. Einige meinten Thores Augen in dem Gesicht des Jungen gesehen zu haben, hielten sich aber vorsichtshalber mit ihrer Beobachtung zurück. Sie wollten nicht durch das Streuen von Mutmaßungen in Ungnade fallen.

Thore zerrte Eric wortlos mit sich fort. Der Junge hatte Mühe, dem schnellen Schritt des großen Gottes zu folgen. Auf den langen Fluren kamen ihnen viele Diener und Bedienstete entgegen, die sich ehrfürchtig vor Thore verneigten und ihren Blick gesenkt hielten, bis die beiden an ihnen vorüber waren. In Eric machte sich stille Bewunderung für seinen Vater breit. Als sie an einem Bär von Mann vorübergingen, sagte Thore nur „Einulf!“ und fortan folgte ihnen dieser Mann wie ein Schatten. Nach schier endlos langem Marsch durch immer neue Flure erreichten sie endlich eine kleine Tür. Sie führte in eine Kammer, in der eine einfache Holzpritsche, ein Tisch und ein Hocker standen. Thore stieß Eric dort hinein. „Du wirst diesen Raum nur verlassen, wenn man es dir erlaubt“, wies der große Gott seinen Sohn an. „Vater, du kannst mich doch nicht hier einsperren?“, antwortete Eric entgeistert. Er war noch nie eingesperrt gewesen und wusste nicht, warum ihn sein Vater wie einen Gefangenen behandeln wollte. Statt einer Antwort erhielt er eine gewaltige Ohrfeige. Krachend landete er an der Wand der Kammer. Für Thore war es nur ein Klaps gewesen, aber Eric war, als würde ihm der Kopf von den Schultern fliegen. „Sage nie wieder Vater und DU zu mir!“, herrschte ihn Thore an. „Aber …?“ „Nie wieder!“, wiederholte Thore drohend. Krachend schlug die Tür zu. Fassungslos sah Eric zu der geschlossenen Tür.

„Du machst ihn zu einem Krieger Oskans! Und bringe ihm Benehmen bei!“, befahl der große Gott Einulf zornig. Der verneigte sich wortlos vor seinem Herrn. Einulf war ein Sohn Martans und Thores persönliche Leibwache, obwohl der große Gott eigentlich niemanden brauchte, um ihn zu beschützen. Er war ein ausgezeichneter Streiter, groß, hatte die starken Arme und die breitet Brust eines Schwertkämpfers und war seinem Herrn absolut treu ergeben. Thore schätzte an ihm vor allem seine Verschwiegenheit und dass er kein Freund vieler Worte war. Lästige Schmeicheleien und wortreiche Erklärungen brauchte Thore von ihm nicht zu fürchten. Auch Widerspruch war von ihm nicht zu erwarten. Ergeben führte er jeden Befehl zuverlässig aus. Auch manch heikle Angelegenheit hatte Einulf schon im Sinne seines Herrn erledigt. Er war über die lange Zeit in Thores Diensten fast schon ein Vertrauter des großen Gottes geworden. Nun war er wieder mit einer heiklen Angelegenheit betraut worden, wie er schnell erkannt hatte. Thore hatte seinen unehelichen Sohn im hintersten Winkel des Palastes untergebracht, um ihn möglichst weit von seiner Frau Fraya und ihren gemeinsamen Söhnen Yuron und Eyrin fernzuhalten. Einulf sollte die Erziehung des Jungen übernehmen. Warum der große Gott den Jungen überhaupt nach Oskan geholt hatte, erschloss sich Einulf aber nicht. Doch er war es gewöhnt, keine Fragen zu stellen.

Aufgebracht stürmte Thore durch den Palast zu seinen Gemächern. Er hatte sich verschätzt. Er hatte noch vor Sonnenaufgang in Oskan sein wollen. Niemand sollte sehen, dass er den Jungen bei sich hatte. Hätte er den Weg über seinen heiligen Baum nehmen können, wäre ihm das auch ohne Weiteres gelungen. Aber so einen magischen Ritt hätte der Körper des Jungen womöglich nicht verkraftet und so hatte er den Weg nach Oskan ganz normal reiten müssen. Doch obwohl er sein Pferd fast bis zur Erschöpfung getrieben hatte, waren sie zu spät angekommen. Sowohl in Oskan selbst als auch im Palasthof hatten viele Eric gesehen. Die Nachricht von ihm würde bestimmt schon zu Fraya gedrungen sein. Dabei hatte er sie schonend darauf vorbereiten wollen, dass und warum Oskan einen neuen Bewohner bekommen hatte und wer dieser sei. Wie er Klatsch und Tratsch im Palast hasste. Zwar hatte er mit rigiden Gesetzen versucht, diese Unart der Menschen zu unterbinden, die viele Götter und Halbgötter nur zu gern übernommen hatten. Aber so ganz war ihm das nicht gelungen. Doch Fraya war auf den Klatsch gar nicht angewiesen. Thore war am Vortag plötzlich aus dem Palast verschwunden. Man hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass in Osiat jemand eine Fackel an einen von Thores heiligen Bäumen geworfen hatte. Es war für sie selbstverständlich, dass sich ihr Mann um diesen Frevel selbst kümmern wollte. Doch als er am Abend noch immer nicht zurück war, hatte sie besorgt nach ihm Ausschau gehalten. Auf der Brücke zwischen Osiat und Amesia hatte sie ihn entdeckt. Er ritt wie gehetzt, vor sich im Sattel einen Jungen. Der hielt den Blick nicht gesenkt und seine Tränen ließen seine Augen intensiv in dem schwachen Licht leuchten. Da wusste Fraya, wer vor ihrem Mann auf dem Pferd saß.

Vor Thores Gemächern trat sie ihm in den Weg. „Wieso hast du deinen Sohn nach Oskan geholt?“, fragte sie ihn wütend. „Nenne ihn nie wieder meinen Sohn! Er ist nur ein Junge, der seine Mutter verloren hat!“, brüllte Thore. „Mäßige dich! Ganz Oskan kann dich hören!“, ermahnte ihn Fraya ruhig, doch ihre türkisfarbenen Augen funkelten zornig. Ihre Selbstbeherrschung, die es ihr ermöglichte, sogar in größter Wut ruhig und gelassen zu erscheinen, versetzte Thore immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Doch es war zu spät. Seine Worte flogen bereits durch den Palast, drangen durch alle Mauern, Wände und ganz Oskan. Jeder konnte sie hören und wusste jetzt, wer der Junge auf dem Pferd bei Thore gewesen war. Eric hörte sie in seiner Kammer und sie trafen ihn wie ein Schock. Verzweifelt kauerte er sich auf den Boden. Auch Yuron und Eyrin, die zum Frühstück zu ihrer Mutter in den Palast gekommen waren, hörten diese Worte. Eyrin pfiff vor Überraschung durch die Zähne. „Noch ein Sohn?“, fragte er verwundert. Yuron, der ältere der beiden, zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wahrscheinlich ein Ausrutscher in Osiat“, erklärte er beiläufig. Anders als sein jüngerer Bruder wusste er über die gelegentlichen Abenteuer seines Vaters in der Welt der Menschen Bescheid und auch darüber, wie seine Mutter darunter gelitten hatte. Fraya und Thore hatten versucht, diesen Teil ihrer Ehe vor ihren Söhnen geheim zu halten. Bei Yuron war ihnen dies nicht gelungen.

„Also, wieso ist der Junge hier?“, wollte Fraya wissen, hielt sich dabei aber ganz an die Anweisung ihres Mannes. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er in dieser Stimmung nicht weiter gereizt werden sollte. „Er wird zu einem Krieger Oskans ausgebildet“, antwortete Thore sehr viel ruhiger. „Vielleicht ist er ja zu etwas nütze.“ Zweifelnd sah ihn Fraya an. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. „Du willst mir weismachen, dass er dir nichts bedeutet?“, fragte sie misstrauisch. „Nicht das Geringste.“ Thores Stimme war frostig. Seine Kälte durchzog den ganzen Palast und drang durch jede Ritze. „Wir werden mit ihm nicht mehr zu tun haben, als mit jedem anderen Bewohner Oskans auch“, versprach er. Frayas Wut legte sich etwas, aber sie war noch lange nicht versöhnt. Das wusste Thore. Also würde er auch weiterhin sein Herz vor diesem Sohn verschließen und seine Gemahlin auf diese Weise von der Aufrichtigkeit seiner Worte überzeugen. Erics Träne auf seiner Hand, die ihn nur ganz kurz etwas für diesen unglücklichen Jungen hatte empfinden lassen, verbannte er aus seinem Gedächtnis. „Erlaubst du, dass ich mich jetzt zurückziehe? Ich möchte mich etwas ausruhen.“ Ohne Frayas Antwort abzuwarten, verneigte er sich kurz vor ihr und verschwand in seinen Gemächern. Nachdenklich sah sie ihm hinterher und ging dann zu Yuron und Eyrin. Die sahen ihrer Mutter neugierig entgegen. Schweigend setzte sich Fraya mit ernster Miene zu ihren Söhnen an den Tisch. „Es wird das Beste sein, wir vergessen, dass es diesen Jungen gibt“, erklärte sie knapp. Yuron und Eyrin sahen sich vielsagend an. Für Fraya war das Thema damit erledigt.

Eric kauerte immer noch am Boden, als sich die Tür öffnete und ihm Einulf etwas Essen sowie einen Becher Wasser auf den Tisch stellte. „Iss!“, befahl er und ließ ihn wieder allein. Doch Erics Willen, sich in der Fremde zurechtzufinden und schnell zu einem Mann zu werden, hatte sich durch Thores Kälte in Nichts aufgelöst. Er fror jämmerlich, obwohl es ein schöner warmer Sommertag war. Wie sehnte er sich danach, bei seiner Mutter zu sein. Da fiel ihm ein, wie er vielleicht doch aus dieser grässlichen Welt entfliehen könnte, ohne diesen Raum zu verlassen. Seine Mutter hatte es ihm vorgemacht. Sie hatte ja nur deshalb so lange durchgehalten, weil sie sich ihm zuliebe immer wieder ein paar Löffel Suppe hinein gequält hatte. Hier gab es niemanden, für den Eric auch nur einen Bissen essen würde. Schon träumte er davon, wie seine Seele Linellas Seele finden würde und sie endlich wieder vereint sein würden. Das gab ihm die Kraft, über seinen knurrenden Magen zu siegen. Als Einulf drei Tage später wieder sah, dass Eric das Essen nicht angerührt hatte, war er mit seiner Geduld am Ende. „Du wirst jetzt endlich etwas essen und wenn ich es in dich reinprügeln muss“, brüllte er den störrischen Jungen an und hob drohend die Hand. Eric sah ihn mit leerem Blick nur stumm an. Er hatte nicht einmal gezuckt. Einulf fluchte, ließ aber die Hand sinken. Mit Gewalt kam er hier nicht weiter, das sah er ein. Da kam ihm ein Gedanke. „Du willst dich also zu Tode hungern?“, fragte er ernst. Eric antwortete nicht und sah nur unbeteiligt zum Fenster. „Also gut! Es gibt hier noch jemanden, der das vorhat. Du kannst dich mit ihm zusammentun. Komm mit!“, forderte er den Jungen auf. Doch Eric rührte sich nicht. Einulf packte ihn unwirsch am Arm und zog ihn einfach mit sich fort.

Der ausgehungerte Zwölfjährige hatte dem nichts entgegenzusetzen. Kraftlos stolperte Eric hinter dem großen Mann her, der ihn unbarmherzig mit sich zog. Er war erstaunt, dass ihn Einulf in einen Pferdestall führte. An einer Box machte er Halt und öffnete die Tür. In sauberem Stroh verborgen lag ein schwarzes Knäuel. Fragend sah Eric zu Einulf. „Der kleine Hengst hat auch seine Mutter verloren. Er trinkt nicht. Du kannst ihm beim Sterben Gesellschaft leisten.“ Zögernd betrat Eric die Box und ging zu dem Fohlen. Er kniete sich in das Stroh und streichelte sanft das schwarze Fell. Der kleine Hengst hob kurz den Kopf und sah den Jungen mit seinen großen dunklen Augen traurig an. Kraftlos fiel der Kopf des Fohlens gleich wieder zurück ins Stroh. Vorsichtig setzte sich Eric neben das Tier und bettete den Kopf des Fohlens auf seine Beine. Einulf ließ ihn allein. Eric wartete bis sich die Stalltür geschlossen hatte.

„Ich weiß, du bist traurig, weil du allein bist“, begann Eric mit dem kleinen Hengst zu reden. „Ich bin auch traurig. Meine Mutter ist auch gestorben.“ Unter fortwährendem Streicheln erzählte er dem Tier leise seine Geschichte. Er erzählte von Trendhoak, seinem Leben und den Menschen dort. Natürlich erzählte er auch von Leif und die Abenteuer, die er zusammen mit seinem Freund bestanden hatte. Und von seiner Mutter. Einulf hatte den Stall jedoch nicht verlassen. Vor Erics Blicken verborgen hatte er die Entwicklung der Dinge abwarten wollen und wurde nun ungewollt Zuhörer. Auf diese Weise lernte er den ihm anvertrauten Jungen sehr viel besser kennen als jemand sonst in Oskan. Eric war einsam und brauchte dringend einen Freund. „Vielleicht kann dieses hilflose Fohlen sein Freund sein“, überlegte Einulf. Ursprünglich hatte er Eric das sterbende Fohlen als abschreckendes Beispiel zeigen wollen, doch jetzt änderte er seine Pläne. Leise schlich er sich aus dem Stall. Kurze Zeit später kam er wieder. Bewaffnet war er mit einem Eimer frisch gemolkener Stutenmilch und Erics Teller. „Da!“, sagte er und reichte Eric den Eimer. „Vielleicht kannst du ihn dazu bewegen, etwas zu trinken. Sonst ist es morgen vorbei.“ Entschlossen griff der Junge nach der Milch. Wie beiläufig stellte Einulf Erics Essen hinzu und ließ ihn mit dem Fohlen allein. Beide sollten sich sicher und unbeobachtet fühlen. Nur so könnte er sie dazu bewegen, ihren Widerstand gegen jegliche Form der Nahrungsaufnahme aufzugeben.

Vorsichtig führte Eric den Eimer an das weiche Maul des Fohlens. Doch das Tier schnaubte nur unwillig und drehte seinen Kopf weg. Ein beträchtlicher Teil der kostbaren Milch kleckerte auf das Stroh und Eric Hose. Ratlos hielt er den Eimer in der Hand. Noch war die Milch warm. Das Fohlen musste sie bald bekommen, sonst wäre es zu spät. „Du musst deine Milch trinken“, redete er dem kleinen Tier gut zu. „Komm, mir zuliebe!“, bat er und startete den nächsten Versuch. Der kleine Hengst sah ihn nur mit seinen dunklen Augen an, nahm aber wieder keine Milch an. Hilflos sah sich Eric in der Box um. Da fiel sein Blick auf den Teller. Er beschloss, über seinen Schatten zu springen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Das Fohlen sollte nicht verenden, wenn er es verhindern könnte. Er brach ein kleines Stück von seinem Brot ab und steckte es sich in den Mund. „Siehst du, es ist ganz einfach“, sagte er kauend zu dem Fohlen und tat, als hätte er noch nie so etwas Köstliches gegessen. Dabei rebellierte sein Magen, der nach dreitägiger Fastenzeit plötzlich wieder etwas angeboten bekam. Tapfer schluckte der Jungen den Bissen herunter und lächelte dem Fohlen aufmunternd zu. Das beobachtete ihn aufmerksam. Seine kleinen Ohren spielten. „Komm, nur ein kleines bisschen“, versuchte er, den kleinen Hengst zu überreden. Vorsichtig träufelte er ein paar Tropfen von der Milch auf seinen Finger und steckte ihn dem Tier mit sanfter Gewalt ins Maul. Das Wunder geschah. Eric fühlte wie die kleine Zunge die Milch von seinem Finger leckte und plötzlich fing der kleine Hengst an, zu saugen. Behutsam steckte der Junge zwei weitere Finger ins Maul und formte damit eine Art Tülle. In seine Hand ließ er langsam die Milch laufen, und indem das Fohlen an seinen Fingern lutschte, nahm es die für ihn so lebenswichtige Flüssigkeit zu sich. Immer gieriger saugte das Fohlen. Langsam führte Eric sein Maul zu der Milch. An seinen Fingern nuckelnd leerte das Tier den ganzen Eimer. „Das hast du gut gemacht“, lobte Eric. Herausfordernd sah ihn der kleine Hengst an. „Jetzt du!“, schien er zu sagen. Und der Junge enttäuschte ihn nicht. Mühsam, aber stetig, aß er Bissen um Bissen. Vertrauensvoll legte das Fohlen seinen Kopf wieder auf Erics Beinen ab. Einulf nickte zufrieden in seinem Versteck. Sein Plan war aufgegangen. Ihre Seelenverwandtschaft hatte dem Fohlen und dem Jungen geholfen, ihren Kummer zu überwinden und wieder Nahrung zu sich zu nehmen.

Eric blieb den ganzen Tag bei dem kleinen Hengst. Einulf brachte ihm noch zweimal Milch, die das Fohlen ohne Umstände jedes Mal bis auf den letzten Tropfen austrank. Die Zuwendung des Jungen begann, sich auszuzahlen. Schon am Abend war das Tier in der Lage, seinen Kopf längere Zeit aufrecht zu halten. Mit Erics Hilfe kam es auf seinen wackligen Beinen zu stehen und lief ein paar Schritte auf und ab. „Kann ich heute Nacht bei ihm bleiben?“, fragte er, als Einulf wieder in den Stall kam, um ihm sein Abendbrot und dem Fohlen die letzte Milch zu bringen. „Morgen beginnt deine Ausbildung. Ich werde dich nicht schonen. Wir haben schon zu viel Zeit verloren“, wandte der ein. „Was für eine Ausbildung?“, wollte Eric wissen. „Zu einem Krieger Oskans“, antwortete Einulf knapp, als wäre damit alles gesagt. Nachdenklich streichelte Eric über das struppige Fell seines kleinen Freundes, zu dem ihm das Fohlen im Laufe der gemeinsam verbrachten Stunden geworden war. Hatte ihn sein Vater nur deshalb nach Amesia gebracht, weil er Nachwuchs für sein Heer brauchte? Würde er für Thore wirklich nicht mehr als einer der vielen anderen Soldaten sein? Der große Gott hatte ihm verboten, ihn Vater zu nennen. Ganz Oskan hatte gehört, dass ihn niemand als Thores Sohn bezeichnen sollte. Verbittert presste Eric die Lippen aufeinander.

Einulf las in seinem Gesicht wie in einem Buch. Er ging zu dem Jungen, der nach wie vor im Stroh verharrte, stockte dann jedoch, als er sah, dass das Fohlen scheute. Er ging in die Hocke, um dem kleinen Hengst die Angst zu nehmen und um Eric in die Augen sehen zu können. „Ein Krieger Oskans zu sein, ist eine Ehre“, erklärte er. „Alle Jungen Oskans erhalten diese Ausbildung. Es ist ein langer und steiniger Weg. Nicht alle schaffen es, die Prüfung am Ende zu bestehen.“ „Werde ich mit anderen zusammen sein?“ Die Aussicht, auf Gleichaltrige zu treffen, machte Eric neugierig. Er hatte bisher nur Thore und Einulf kennengelernt. „Noch nicht. Die Jungen deines Alters sind dir ein Jahr voraus. Diesen Rückstand musst du erst aufholen. Wenn du soweit bist, die Aufnahmeprüfung abzulegen, werden wir weitersehen“, erklärte Einulf. „Ich kann kämpfen!“, widersprach Eric trotzig. „Eric, es geht nicht darum, in einer Prügelei zu bestehen!“, wies ihn Einulf ernst zurecht. „Ein ehrenvoller Kämpfer zu sein, ist etwas ganz anderes. Das ist es, was dir hier beigebracht wird.“ Beschämt schlug Eric die Augen nieder. „Ich bin nicht ehrlos“, sagte er leise. „Das weiß ich, sonst würde ich kein Wort mit dir reden!“, bekräftigte Einulf. Das war die volle Wahrheit. Manch einer hätte es nicht für möglich gehalten, dass die sonst so wortkarge Leibwache Thores zu einem so tiefschürfenden Gespräch fähig war. Einulf begann Thores Sohn zu mögen und wollte ihm helfen, sich in der für ihn so fremden Welt zurechtzufinden. „Woher weißt du das?“, fragte Eric ungläubig. Einulf schwieg. Als Sohn von Martan, dem Gott des Krieges, und einer menschlichen Mutter, war er wie Eric ein Halbgott. Halbgötter verfügten aufgrund ihres göttlichen Erbes über besondere Gaben. Einulfs Gabe war es, die Gesinnung eines anderen sofort zu erkennen. Jemanden mit einem starken Ehrgefühl sah er mit einem grünen Kranz bekrönt. Auch deshalb war er Thore so wichtig. Zwar konnte der große Gott in der Seele eines jeden lesen, doch dazu musste er dicht an den anderen herantreten, um ihm tief in die Augen sehen zu können. Einulfs Einschätzung aus der Ferne war da viel unauffälliger. Außer ihm selbst und seinem Vater Martan, wussten nur Thore und Fraya von seiner besonderen Gabe. Als Einulf Eric das erste Mal gesehen hatte, hatte er deutlich die grüne Blätterkrone auf dessen Haupt gesehen. „Du kannst heute Nacht hierbleiben“, entschied er versöhnlich. „Aber nur dieses eine Mal. Falls du mich brauchst, ich bin in deiner Kammer.“ Eric nickte ihm dankbar zu.

Thores Leibwache hatte kaum den Stall verlassen, da wurde es noch einmal unruhig. Die Pferdeknechte führten die anderen Stuten mit ihren Fohlen in ihre Boxen. Den Tag hatten die Tiere auf der Weide an der frischen Luft verbracht. Der Stall war erfüllt vom Dröhnen der Hufe, dem hellen Wiehern der Fohlen und den dunkleren Antworten ihrer Mütter. Der kleine Hengst bei Eric stand zitternd auf seinen noch schwachen Beinen und rollte vor Angst mit den Augen. Sanft redete der Junge auf ihn ein und streichelte ihm beruhigend das Fell. „Donnerwetter! Der lebt ja noch“, staunte Delano, der älteste und erfahrenste der Stallknechte, als er zu Eric in die Box sah. Er hatte braunes gekraustes Haar, ein grobes, wettergegerbtes Gesicht mit freundlichen dunklen Augen und eine stämmige untersetzte Figur. Am Halfter führte er eine Fuchsstute, deren Fohlen ihr nicht von der Seite wich. „Ich hätte schwören können, dass der Kleine diesen Tag nicht übersteht. Hast du dafür gesorgt, dass er endlich seine Milch trinkt?“, wandte er sich an Eric. Der nickte stolz. „Gut gemacht!“, lobte Delano. „Er hat gute Eltern. Wäre wirklich schade um ihn gewesen“, fuhr er fort, während er die Stute in die Nachbarbox brachte. „Hat er schon einen Namen?“, fragte Eric neugierig. „Wenn du willst, kannst du ihm einen geben. Du hast ihm immerhin das Leben gerettet“, bot der alte Stallknecht an. „Wirklich?“, fragte Eric ungläubig. „Der Name muss aber mit ‚Di …‘ anfangen. Sein Vater ist Dimaros, einer von Thores besten Hengsten“, erklärte ihm Delano. Eric überlegte. „Wie wäre es mit Diomed?“, fragte er. „Diomed?“ Mehrfach murmelte der Stallknecht den Namen vor sich hin. Es war, als würde ein Weinkenner einen Schluck des edlen Getränks im Mund hin und her wenden, um seine Qualität zu prüfen. „Ein guter Name“, befand er endlich. „Willkommen im Leben, Diomed“, begrüßte er den kleinen Hengst, der aufmerksam mit seinen Ohren spielte. Die anderen Stallknechte riefen Delano zu, dass sie mit ihrer Arbeit fertig seien. „Bleibst du heute Nacht hier?“, fragte der, als er sah, dass Eric keine Anstalten machte, die Box zu verlassen. „Ich darf bei ihm bleiben“, antwortete der Junge und zeigte auf das Fohlen. „Na, dann schlaf gut!“, brummte Delano zum Abschied und zuckte gleichmütig mit den Schultern. Er drehte sich noch einmal um. „Ich bin übrigens Delano. Und wer bist du?“ „Ich heiße Eric.“ „Gute Nacht, Eric“, rief Delano noch einmal und war dann verschwunden. Eric kuschelte sich in das Stroh, auch sein kleiner Freund hatte sich mit zunehmender Ruhe im Stall wieder niedergelassen. „Diomed“, flüsterte Eric glücklich und war bald darauf eingeschlafen.

Quondam ... Der magische Schild

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