Читать книгу Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - Страница 6

Kapitel 4

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Thore wandelte grübelnd mitten in der Nacht durch den stillen Palast. Wie alle Götter brauchte er nur sehr wenig Schlaf. Doch in dieser Nacht konnte er keine Ruhe finden. Wie wütend Fraya auf ihn war, hatte sie ihm gezeigt, indem sie ihm den Zutritt zu ihren Gemächern verwehrt hatte. Die große Göttin griff nur äußerst selten zu dieser drastischen Maßnahme, um Thore ihren Zorn spüren zu lassen. Zum letzten Mal war das vor fünfundzwanzig Jahren vorgekommen. Doch damals hatte Fraya Thore Unrecht getan. Er war nicht einem seiner flüchtigen Abenteuer mit einem schönen Menschenkind gefolgt, sondern einem schändlichen Betrug aufgesessen. Doritan, das reiche und grüne Königreich in Osiat, war von der weißen Pest heimgesucht worden. Rasend schnell hatte sich die Seuche ausgebreitet und innerhalb nur eines Monats ganze Dörfer und Städte entvölkert. In ihrer Not hatten sich die Menschen an die große Göttin gewandt und sie um ihre Hilfe angefleht. Fraya hatte ihre Gebete erhört. Und sie schickte nicht nur ihre heilkundigen Zofen nach Doritan, sondern begab sich persönlich dorthin, um dem Leiden der Menschen schnell ein Ende zu bereiten. Thore war erstaunt gewesen, dass sie bereits nach zwei Tagen wieder zurück in Amesia war. Noch mehr hatte er sich jedoch darüber gewundert, welchen Hunger nach Liebe Fraya aus Osiat mitgebracht hatte. Nächte voll stürmischer Leidenschaft waren gefolgt. Thore war so gefesselt von ihrem veränderten Wesen gewesen, dass er sich nicht daran störte, dass sie ihre Gemächer nicht mehr verließ und er der Einzige war, dem sie den Zutritt zu ihren Räumen gestattete. Nicht einmal ihre Söhne ließ sie zu sich. Nach zweitausend Jahren sollten Yuron und Eyrin wohl in der Lage sein, auch einmal einige Zeit ohne ihre Mutter auszukommen, war ihre wenig liebevolle Begründung gewesen. Außerdem müsse sie sich von den Anstrengungen in Doritan erholen und sei der Ruhe bedürftig. Da war in dem großen Gott der Verdacht gekeimt, dass etwas mit Fraya in Osiat geschehen sein musste. Und zwar nichts Gutes! Nie hätte die Göttin, der sein Herz gehört, ihre gemeinsamen Söhne mit solch einer Kälte behandelt. Zwei Monate war sie bereits wieder in Oskan und doch hatte sie niemand außer Thore zu Gesicht bekommen.

Wie jetzt, war er auch damals ziellos durch den Palast gestreift, als Fraya plötzlich vor ihm gestanden hatte. Ihr Kleid war staubig und sie war sichtlich erschöpft. Aus ihren sonst so sorgfältig geflochtenen Zöpfen hatten sich ein paar Strähnen gelöst und hingen ihr unordentlich ins Gesicht. Nur ihre Augen hatten vor Freude gestrahlt, als sie ihn ansah. „Wo kommst du denn auf einmal her?“, hatte er sie reichlich verwirrt gefragt. „Na, aus Doritan!“, hatte sie genauso verwirrt geantwortet. „Thore, was ist denn los mit dir? Hast du das etwa schon vergessen?“ Besorgt hatte sie Thore an die heiße Stirn gegriffen. Da war es Thore gewesen, als wäre er aus einem beklemmenden Traum erwacht. Frayas Berührung hatte ihn von dem Zauber befreit, unter dem er die ganze Zeit über gestanden hatte. Im nächsten Augenblick stand er vor Frayas Bett, in dem die Frau gelegen hatte, die er in den letzten zwei Monaten für Fraya gehalten hatte. „Wer bist du?“, hatte er sie wütend angefahren. Erschrocken war die Frau aus dem Schlaf hochgefahren und hatte ihn angsterfüllt aus ihren grünen Augen angesehen. Es war Rixane, eine Magierin aus Estosia. Ihr rotgoldenes Haar hing ihr wild um ihre nackten Schultern und bedeckte nur sparsam ihre schön geformten Brüste. „Was hat das zu bedeuten? Was macht diese Hure in meinem Bett?“ Fraya war Thore gefolgt und stand in der Tür zu ihrem Schlafgemach. Vor Zorn klang ihre Stimme gepresst und war doch so scharf wie ein Dolch aus Ainarstahl. Rixane hatte sich wieder gefangen. „Hure?“, hatte sie spöttisch erwidert. Sie hatte sich ein Gewand aus feinstem Leinen übergeworfen, durch den ihr wohlgeformter schlanker Körper hindurch schimmerte. „Thore, sag deiner Gemahlin, dass ich deine Nebenfrau bin. Die Frau, die dir nach zweitausend Jahren endlich wieder einen Sohn schenken wird.“ Lächelnd hatte sie sich über ihren Bauch gestrichen. „Niemals! Nie wirst du meine Nebenfrau! Und dieses Balg, nimm es mit dir! Es ist nicht mein Sohn! Verlasse Amesia und kehre nie wieder hierher zurück!“ Nur mit Mühe war es Thore gelungen, nicht zu brüllen. Das gerade erwachende Oskan sollte nichts von dem üblen Betrug erfahren, auf den ihr Herrscher hereingefallen war. „Dein Gemahl weiß offensichtlich nicht, wen er sich zum Feind machen möchte“, wandte sich Rixane an Fraya. „Ich bin Rixane und die mächtigste Magierin der drei Welten. Hat dir nicht einst Gaya prophezeit, dass es von deiner Stärke abhängen wird, ob ein Sohn Thores, den nicht du gebären wirst, Fluch oder Segen über Amesia bringen wird? Nun, wirst du damit leben können, dass die Mutter eines weiteren Sohns Thores in Oskan lebt?“ „Woher weißt du, was Gaya einst gesagt hat? Nur die Götter wissen davon!“, hatte Fraya, sofort misstrauisch geworden, wissen wollen. „Rixane! Du bist Hatos Geliebte!“, hatte Thore zornig ausgerufen. „Er hat dich hierher geschickt, damit du die goldene Krone für ihn stiehlst. Auf diesen Verrat steht der Tod!“ Drohend war er auf Rixane zugetreten. Blitzschnell hatte die Magierin Frayas Hand genommen und auf ihren Leib gedrückt. „Herrin, Ihr könnt es fühlen. Ich erwarte ein Kind! Ihr dürft nicht zulassen, dass mir Euer Gemahl etwas antut!“ Deutlich hatte Fraya den schnellen kräftigen Herzschlag des ungeborenen Kindes spüren können. „Es ist wahr, Thore! Du darfst sie nicht töten!“, Frayas Stimme hatte ruhig geklungen, aber auf ihrem Gesicht hatte Thore den Schmerz sehen können, den diese Worte der großen Göttin bereiteten. „Als ob ich je einer Frau etwas antun würde!“, hatte er geknurrt und Rixane am Arm genommen. Im nächsten Augenblick waren beide verschwunden. Der große Gott hatte die Magierin eigenhändig zu einem Übergang von Osiat nach Estosia gebracht. Unsanft hatte er sie in den dunklen Schacht gestoßen und sie für ewig aus Amesia und Osiat verbannt. Rixane hatte geschrien, gedroht und getobt, doch geholfen hatte es ihr nicht.

Als er in seinem Palast zurück war, hatte er Frayas Gemächer vor ihm verschlossen vorgefunden. Durch die geschlossene Tür hatte die große Göttin nur paar Worte für ihn gehabt. „Wie konntest du nur auf ihren Schwindel hereinfallen! Ich habe an der Schulter kein Muttermal!“ Zehn lange Jahre lang hatte Thore warten müssen, bis sich Frayas Türen wieder für ihn geöffnet hatten. Er war in dieser Zeit nicht untätig gewesen. Rixane hatte ein ungutes Feuer in ihm entfacht. Und so hatte er sich bei den Menschen geholt, was ihm seine Gemahlin verwehrt hatte. Nie war er jedoch mit dem Herzen dabei gewesen. Nur ein einziges Mal hatte es ihn länger bei einer seiner menschlichen Geliebten gehalten. Als sie ihm gestanden hatte, dass sie ein Kind erwartet, hatte er mit ihr gebrochen. Er hatte sie nie wiedergesehen. Von seinem Sohn hatte er bis zu dem Vorfall im heiligen Hain von Trendhoak nur den Namen gekannt, gesehen hatte er ihn noch nie. Beeindruckt von der Kraft und dem Mut des Jungen hatte er ihn, ohne groß zu überlegen, mit nach Oskan genommen. Und auch, wenn er Frayas Zorn dadurch wieder einmal auf sich gezogen hatte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass es dieser Sohn war, auf den sich Gayas Worte von einst bezogen hatten. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen würde er diesem Jungen nicht als Vater gegenüberstehen. Er hoffte sehr, dessen Anwesenheit in Oskan damit für Fraya erträglich zu machen und diesmal nicht wieder jahrelang darauf warten zu müssen, dass sie ihn ihren Gemächern empfing.

Unvermittelt stand er vor der Kammer, in die er Eric gesperrt hatte. Er hatte seinen Schritt nicht bewusst hierher gelenkt. Ärgerlich runzelte er die Stirn, als er sah, dass die Tür nur halb geschlossen war. Suchend blickte er den Gang entlang. Von seiner Leibwache, der er seinen Sohn anvertraut hatte, fehlte jede Spur. Aus dem Inneren des Raumes drang ein vernehmliches Schnarchen zu ihm. Thore stutzte, denn das war ein Geräusch, das er in keinem Fall mit einem zwölfjährigen Jungen in Verbindung gebracht hätte. Vorsichtig öffnete er die Tür und sah zu dem Schlafenden. Es war stockdunkel in der Kammer. Nur schemenhaft konnte er jemanden auf der Pritsche liegen sehen. Mit der Berührung seiner Hand brachte er eine Wand zum Leuchten. Das Licht war gerade hell genug, dass er Einulf als den Schläfer erkannte. Wütend trat Thore gegen die Pritsche. „Wo ist der Junge?“, knurrte er wütend. Erschrocken sprang Einulf beim Klang der Stimme seines Herrn auf. „Er ist bei dem Fohlen, Herr!“, antwortete er und verneigte sich vorschriftsmäßig. „Welchem Fohlen?“ „Dorinas Fohlen, Herr.“ „Das lebt noch?“, fragte Thore zweifelnd. „Ja, Herr!“ Dorina war Diomeds Mutter. Eine Stute hatte ihr am Ende ihrer Trächtigkeit auf der Weide in den Bauch getreten. Sie war an der schweren Verletzung verblutet. Nur ihr Fohlen hatten sie noch retten können. Doch das hatte sich geweigert, Milch aus der Flasche anzunehmen und sein Tod war nur eine Frage der Zeit gewesen. Thore frönte einer zutiefst menschlichen Leidenschaft, der Pferdezucht. Als ausgesprochener Liebhaber seiner Pferde war er über alles im Bilde. „Was hat der Junge damit zu tun?“, wollte der große Gott ungehalten wissen. „Von ihm hat das Fohlen die Milch angenommen, Herr“, antwortete Einulf knapp. Thores Augen funkelten zornig. „Wer hat dir gesagt, dass du den Jungen zu einem Stallknecht machen sollst?“, fuhr er seine Leibwache mit schneidender Stimme an. Nur der vorgerückten Stunde war es zu verdanken, dass sich Thore beherrscht und nicht gebrüllt hatte. Das hätte den ganzen Palast aufgeweckt. Einulf zuckte zusammen. Er kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, dass der kurz davor stand, die Geduld zu verlieren. „Durch das Fohlen isst Eric jetzt auch wieder, Herr“, erklärte er entschuldigend und erzählte, wie es dazu gekommen war, dass Eric jetzt im Stall bei dem Fohlen schlief. Aufmerksam hörte ihm Thore zu. Erleichtert sah Einulf, wie der Zorn seines Herrn langsam verrauchte. „Wie lange hat er nichts gegessen?“, erkundigte sich der große Gott ernst. „Drei Tage, Herr.“ Ein vernichtender Blick traf seine Leibwache. „Das nächste Mal gibst du mir sofort Bescheid, wenn er Schwierigkeiten macht!“, befahl Thore streng. „Ja, Herr!“, versicherte Einulf und verneigte sich vor dem Rücken seines Herrn. Thore hatte sich bereits umgewandt und lief zu der Nebentür, von der aus der kürzeste Weg zu den Pferdeställen führte.

Im Stall umfing ihn der Geruch nach Pferd, Stroh, Heu und Hafer. Es war still, nur ab und zu war ein leises Rascheln zu hören, wenn eine der Stuten auf der Stelle trat. Die Fohlen lagen zum Schlafen in dem sauberen Stroh, während ihre Mütter in typischer Pferdeart im Stehen schliefen. Es war dunkel. Nur der Stab in Thores Hand verbreitete etwas Licht. Er hatte ihn neben der Stalltür gefunden und trug ihn wie eine Fackel vor sich her. Vor der Box, in der Eric und Diomed schliefen, blieb er stehen. Das Fohlen war sofort erwacht, hob den Kopf und sah Thore mit seinen klugen Augen aufmerksam an. Als könne es die Macht des großen Gottes spüren, blieb es jedoch ganz ruhig liegen, als der leise die Tür öffnete, zu ihm trat und neben ihm in die Hocke ging. Sanft streichelte er das weiche Fell des kleinen Hengstes. Nachdenklich blickte er dabei auf den schlafenden Jungen. Eric lag, den Kopf auf einen Arm gebettet, in dem Stroh und atmete ruhig. Durch sein im Schlaf entspanntes Gesicht sah er in dem sanften Licht seiner Mutter noch sehr viel ähnlicher als er es ohnehin schon tat. Thores Gedanken gingen zurück in die Zeit, als er Erics Mutter Linella kennengelernt hatte.

Peer, Linellas Vater, war der reichste Bauer in Trendhoak gewesen. Zur Ernte konnte er sich sogar ein paar Erntehelfer leisten. Trotzdem war er ein freundlicher und bescheidener Zeitgenosse gewesen, der den anderen Dorfbewohnern auch gern einmal unter die Arme griff, wenn ihre Not zu groß wurde. Seine Frau Estella, Linellas Mutter, war kurz nach der Geburt des Kindes verstorben. Seine Tochter war ihm das größte Glück und so war es auch kein Wunder, dass er sie über die Maßen verwöhnte. Er war ihr gegenüber sehr nachsichtig gewesen, und wenn er doch einmal strenger zu ihr sein wollte, wusste sie ganz genau, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte. Mit zunehmender Sorge beobachtete der Vater, wie aus dem fröhlichen jungen Mädchen im Laufe der Zeit eine Schönheit wurde. Sie hatte die blonden Locken der Mutter und, was sehr ungewöhnlich gewesen war und ihr einen besonderen Reiz verliehen hatte, die dunkelbraunen Augen des Vaters. Sie hatte eine natürliche Anmut, die viele andere Mädchen nicht aufweisen konnten. Schon viele Männer hatten an Peers Tür geklopft und um Linellas Hand gebeten. Doch sie hatte bisher jeden Freier abgewiesen. Noch hatte niemand ihr Herz berührt und sie hatte nur den Mann heiraten wollen, den sie auch mit ihrer ganzen Seele liebte. Der Vater hätte es gern gesehen, dass sie sich vermählte und sich somit unter den Schutz eines Ehemannes stellte. Er fühlte, dass er langsam alt wurde und fürchtete, dass er sie bald nicht mehr beschützen könnte. Überall sah er Gefahren für die Tugend und Reinheit der Tochter. Besonders ungern sah er, dass ihr nicht auszureden war, in einem ruhigen Seitenarm des Flusses, an dem Trendhoak lag, zu baden.

Sie ging dort immer allein hin. Es war eine ganz ruhige, mit hohem Schilf bewachsene romantische Stelle. Dichte Büsche, die bis an das Wasser reichten, verdeckten den Blick auf das glasklare Wasser. Seidenweiches Gras bedeckte den schmalen Zugang zu dem Ufer. Es war so still hier, dass sich selbst die Vögel in den Ästen nicht von ihrer Anwesenheit stören ließen. Sie fühlte sich hier vollkommen sicher und lachte über die Bedenken ihres Vaters. Gerade war sie wieder mit nassem Haar vom Baden zurückgekommen und Peer hatte sie mit Vorwürfen überhäuft. „Linella, du weißt, dass ich es nicht gern sehe, wenn du allein zum Fluss gehst. Was ist, wenn dir dort jemand auflauert?“ Sie trocknete sich mit einem feinen weißen Leinentuch das Haar und zog einen Schmollmund. Sie hatte die ewigen Vorhaltungen ihres Vaters so satt. „Vater, das ist eine ganz versteckte Stelle. Keiner weiß, dass es sie gibt. Niemand wird mich dort sehen“, hatte sie ungeduldig zurückgegeben. „Kind, sei nicht so sorglos“, hatte er sie beschworen. „Was ist, wenn er wieder durch Osiat streift und nach einem hübschen Mädchen Ausschau hält?“ „Du meinst Thore, den alten Schwerenöter?“, hatte sie leichthin zurück gefragt. „Linella, versündige dich nicht! Was ist, wenn er dich hört?“ Verzweifelt hatte Peer die Hände gerungen. Das war also seine große Sorge. Seit König Dorin von Doritan Fraya verflucht hatte, hielt Thore seine schützende Hand nicht mehr über das Land. Auch die anderen Götter mieden dieses Königreich. Überschwemmungen, Stürme, Dürren und bitterkalte lange Winter, in denen Mensch und Tier gleichermaßen erfroren, suchten Doritan seit dieser Zeit immer wieder heim und machten aus diesem ehemals reichen grünen Königreich ein Land, in dem aus Leben ein Kampf ums Überleben geworden war. Von Zeit zu Zeit kam Thore jedoch hierher, um sich mit einem Menschenkind zu vergnügen. Meist handelte es sich dabei um das schönste Mädchen der Gegend und natürlich musste sie noch Jungfrau sein. Und jedes Mädchen schenkte sich ihm in der vergeblichen Hoffnung, den großen Gott wieder zu versöhnen. Doch Tore hatte sich immer unversöhnlich gezeigt. Ihrer Tugend beraubt und mit gebrochenem Herzen ließ sie Thore nach einigen wenigen Besuchen zurück. Dieses Schicksal wollte Peer um keinen Preis für seine geliebte Tochter. „Vater, wieso sollte er uns hören. Ich bin doch viel zu unbedeutend“, hatte Linella versucht, ihren Vater zu beruhigen. Doch der hatte nur bekümmert seinen Kopf gewiegt. Ihr hatte es leidgetan, dass sie ihren Vater so betrübt hatte. Zu seinen Füßen hatte sie sich niedergelassen und ihr Haupt auf seine Knie gebettet. Ihre dunklen Augen hatten liebevoll auf ihn geblickt, als sie sagte: „Hab keine Angst, Vater! Ich werde Thore niemals gehören.“ Kummervoll hatte der Vater über das Haar der Tochter gestrichen.

Doch Thore hatte sie gehört. Er hatte vor ihrem Fenster geschwebt und das ganze Gespräch belauscht. Vor einigen Tagen war in ganz Osiat die Sommersonnenwende gefeiert worden. Nach langen Jahren von Missernten, hatte es endlich auch in Doritan wieder ein gutes Jahr gegeben. Das Korn stand dicht und kräftig auf den Feldern und die Menschen waren voller Hoffnung, eine reiche Ernte einbringen zu können. Überall hatten in den heiligen Hainen die Freudenfeuer gebrannt. Blumenbekränzte Mädchen hatten um sie herum getanzt und alte Weisen gesungen. Diese Gelegenheit hatte sich Thore nicht entgehen lassen. Von Escalinbaum zu Escalinbaum war er in den heiligen Hainen gewandert, um sein geschultes Auge auf die tanzenden Mädchen zu werfen. In Trendhoak war er fündig geworden. Durch ihre Anmut, ihre süße Stimme und ihr glockenhelles Lachen war ihm Linella sofort ins Auge gesprungen. Unbemerkt von den Dorfbewohnern hatte er sie das ganze Fest über beobachtet. Je länger er ihr zugesehen hatte, umso mehr hatte sie ihm gefallen. Ihr gewinnendes Wesen und ihr natürlicher Stolz hatten ihn gefesselt. Doch er wollte sie nicht ins Bett gelegt bekommen, wie die anderen Jungfrauen vorher. Sie hatte er selbst ausgesucht. Ohne die üblichen feierlichen Gesänge und Zeremonien, mit denen ihm die Mädchen sonst übergeben worden waren, um ihre Pflicht gegenüber ihrem Land zu erfüllen, hatte er sich Linella in aller Stille nähern wollen. Am Abend war er wieder nach Trendhoak gekommen, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Im letzten Moment hatte er gemerkt, dass Linella nicht allein in ihrer Schlafkammer war. So hatte er vor dem Fenster darauf warten wollen, dass ihr Vater endlich ging, damit er die Tochter genießen konnte. Doch das belauschte Gespräch hatte ihn erzürnt. Linellas stolze Worte hatten ihn herausgefordert. Und sie hatte den Jäger in ihm geweckt. Lautlos hatte er sich zurückgezogen.

Bereits drei Tage später ging Linella wieder zum Fluss. Thore hatte alle Wolken über Trendhoak aufgelöst und die Sonne hatte unbarmherzig auf das Dorf gebrannt. Die Menschen hatten unter der Hitze gestöhnt. Voller Angst hatten sie in den Himmel geblickt, denn sie fürchteten, dass eine erneute Dürre die Früchte ihrer Felder kurz vor der Ernte zerstören würde. Selbst in den Nächten hatte sich die aufgeheizte Luft kaum abgekühlt. Linella hatte das Bad in dem kühlen Nass an diesem heißen Tag besonders genossen. Lange hatte Thore darauf warten müssen, bis sie aus dem Wasser stieg. Sie hatte sich noch nicht wieder angezogen, da hatte er sich ihr gezeigt. Erschrocken hatte sie versucht, ihre Blöße mit ihren vorgehaltenen Kleidern zu bedecken. Doch diese hilflose Geste hatte ihren schönen schlanken Körper eher noch betont als verhüllt. Genüsslich hatte der große Gott sie gemustert. Sie hatte sofort erkannt, wer das so plötzlich vor ihr stand. Thore war groß, sehr groß. Er überragte selbst die größten Menschen um mindestens einen Kopf. Er hatte starke breite Schultern und einen muskulösen Körper. Sein dichtes blondes Haar wurde von einem goldenen Stirnreif gehalten. Seine stahlblauen Augen hatten spöttisch gefunkelt, während er sie betrachtet hatte. Sie hatte sich keinen Illusionen hingegeben. Sie hatte gewusst, was sie erwartete. An Flucht oder Rufen um Hilfe war nicht zu denken. So hatte sie sich vor ihm ergeben verneigt, zu Boden geblickt und auf das Unvermeidliche gewartet. „Jetzt gehörst du mir!“, hatte er ihr lakonisch mitgeteilt. Doch sie hatte bestimmt den Kopf geschüttelt. „Herr, Ihr werdet mich besitzen, aber ich gehöre Euch nicht“, hatte sie leise geantwortet. Ein fernes Donnergrollen und plötzlich aufkommender stürmischer Wind hatten ihr gezeigt, dass sie den großen Gott zornig gemacht hatte. Dicke schwarze Wolkenberge hatten sich über Trendhoak aufgetürmt und begonnen, sich in einem Sturzregen über dem Dorf zu entleeren, während am Fluss über Thore und Linella kein einziger Tropfen niederging. Diese Fluten hätten innerhalb kürzester Zeit die ganze Ernte vernichtet. Entsetzt war sie vor ihm auf die Knie gefallen. Die Menschen wussten, dass solche plötzlichen Unwetter, die nur über einer kleinen Region oder einem Dorf herniedergingen, oft genug auf Thores Zorn zurückzuführen waren. „Herr, ich werde tun, was Ihr von mir verlangt. Bitte verschont unser Dorf“, hatte sie ihn angefleht. Wütend hatte er sie am Kinn genommen und in ihre schönen braunen Augen gesehen. In ihrer Seele las er, dass es nicht hochfahrender Stolz war, der sie ihre Worte hatte sagen lassen. Sie hatte den festen Glauben, dass es im Leben einer Frau nur einen Mann geben könnte, den sie wirklich lieben würde. Dem würde sie mit Leib und Seele gehören. Sie würde sich Thore hingeben, um ihr Dorf zu retten, aber ihr Herz würde ihm verschlossen bleiben. Das hatte seinen Jagdeifer noch weiter entfacht. Er wollte derjenige sein, dem sie gehören wollte. Dazu würde er all seine Verführungskünste einsetzen. Thore war gespannt gewesen, wie lange sie ihm widerstehen könnte. Er hatte sich auf dieses ganz neuartige Spiel gefreut, denn für ihn war es nicht mehr als das gewesen. Und er fing sofort damit an. So plötzlich, wie der Gewitterguss eingesetzt hatte, hörte er auf, die Wolken verzogen sich und die Sonne schien wieder von einem klaren blauen Himmel. „Du brauchst keine Angst um dein Dorf zu haben, Linella“, hatte er sie sanft beruhigt und zugleich damit überrascht, dass er ihren Namen kannte. „Ich werde dir nichts tun. Ich werde warten, bis es dein Wunsch ist, mir zu gehören.“ Galant hatte er ihr die Hand geküsst und war verschwunden. Sprachlos hatte sie auf die Stelle gestarrt, an der er noch vor einem Augenblick gestanden hatte. Obwohl er für sie nicht mehr sichtbar war, so war er doch ganz nahe bei ihr gewesen. Neugierig hatte er darauf gewartet, wie sie auf seinen ersten Zug in diesem Spiel reagieren würde und sie hatte ihn nicht enttäuscht. Linella war vollkommen durcheinander gewesen und hatte sich beim Anziehen mehrfach in den Bändern ihrer Kleider verheddert. Wie ein gehetztes Tier nach einem Verfolger hatte sie immer wieder scheu nach ihm Ausschau gehalten. Ihr Atem war schnell gegangen und er hatte spüren können, wie ihr Herz raste. Verwirrt war sie so schnell nach Hause gelaufen, wie sie konnte.

Schon am nächsten Tag hatte sie ihn wiedergesehen. Fröhlich mit ihrem Vater plaudernd saß er am Küchentisch. Vor Schreck war ihr fast der Korb aus der Hand gefallen. Sie hatte mit den anderen Frauen am Fluss Wäsche gewaschen und sie hinter dem Haus zum Trocknen aufgehängt. „Sieh nur, mein Kind! Mein alter Freund Timo aus Hansung ist zu Besuch gekommen“, hatte der Vater seine Tochter freudig begrüßt. „Aber Vater …“, wollte sie widersprechen. Timo war bereits vor zwei Jahren gestorben und Peer hatte den Verlust des alten Freundes sehr bedauert. Doch Thore hatte ihrem Vater den Geist umnebelt, sodass der wirklich glaubte, sein alter Freund säße bei ihm. Ein drohender Blick des großen Gottes hatte ihr den Mund verschlossen. Entsetzt hatte sie gesehen, dass Thore seine bisher ruhig auf der Tischplatte liegende Hand langsam zu einer Faust ballte. Peer hatte im selben Augenblick angefangen, zu keuchen und zu husten. Sie hatte die Warnung des großen Gottes sofort verstanden und sich beeilt, ihn mit „Guten Tag, Timo“ zu begrüßen. Sofort öffnete sich Thores Hand wieder. Mit einem erleichterten Seufzen hatte Peer tief Luft geholt. „Verzeih Timo, ich weiß gar nicht, wo dieser Husten plötzlich herkam“, hatte er sich bei seinem Gast entschuldigt und sich verlegen über das Gesicht gewischt. Die jähe Luftnot hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben. „Ist schon gut, alter Freund. In unserem Alter kann so etwas schon einmal passieren“, hatte Thore Peer beruhigt und ihm freundschaftlich auf den Rücken geklopft. Linella wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, als ihr Vater auf diese Worte mit einem albernen Kichern antwortete. „Ach, was bin ich doch für ein schlechter Gastgeber!“, schalt sich Peer. „Linella, mein Kind. Biete doch Timo eine Erfrischung an“, bat er. „Nimm etwas von unserem besten Met! Das haben wir uns verdient.“ Dabei hatte er Thore verschmitzt zugezwinkert und ihm freundschaftlich auf den Arm geklopft. Nur mit Mühe hatte der große Gott diese unangemessene Vertraulichkeit über sich ergehen lassen. Schließlich war er es selbst, der seinem Gastgeber vorgaukelte, ein alter Freund zu sein. Unterdessen füllte Linella vorsichtig etwas von dem besten Met ihres Vaters in einen Krug. Thore hatte sie dabei nicht aus den Augen gelassen. Sie hatte deutlich seinen bohrenden Blick in ihrem Rücken gespürt. Ihre Hand hatte gezittert, als sie das kostbare Getränk auf den Tisch stellte. Rasch huschte sie davon, um noch zwei Becher zu holen. Als sie Thore und ihrem Vater einschenkte, hatte der große Gott wie zufällig ihre Hand berührt. Sie war darüber so erschrocken, dass ihr der Becher aus der Hand fiel. Das kostbare Nass ergoss sich über den Tisch und tropfte auf Thores Kleider. „Verzeiht, Herr!“, hatte sie gestammelt. Schnell hatte sie ein Tuch geholt, um seine Kleidung zu reinigen. Vor Verlegenheit hatten ihre Wangen geglüht, was sie für Thore noch anziehender machte. „Aber Kind! Du musst zu Timo doch nicht Herr sagen!“, hatte Peer, überrascht über Linellas Verwirrung, kopfschüttelnd zu ihr gesagt. Ängstlich hatte sie Thore angesehen. „Das ist nicht so schlimm, Kind“, hatte der sich des väterlichen Tons bedient und Linella vielsagend angelächelt. Panisch war sie aus der Küche gerannt. Peer hatte das ungewöhnliche Verhalten seiner Tochter falsch gedeutet. „Du darfst ihr nicht böse sein“, entschuldigte er sich bei seinem vermeintlichen Freund. „Sie ist ein braves Mädchen.“ Thore hingegen hatte genau gewusst, weshalb Linella so aufgelöst war. „Und sehr hübsch“, hatte der große Gott ergänzt. „Nicht wahr!“ Peers Augen hatten vor Stolz geleuchtet. „Sie ist eine wahre Augenweide. Weit und breit gibt es keine, die ihr vergleichbar ist. Ihre Schönheit und ihre Reinheit sind nur eines Königs wert“, prahlte er. Thore hatte ihm nur zustimmend zugeprostet. Köstlich amüsierte er sich über Peers naiven Vaterstolz. Sein Lächeln verbarg er geschickt dadurch, dass er seinen Becher vor seinen Mund hielt, und tat, als würde er trinken. Doch er trank nicht. Er war immer wieder erstaunt darüber, was für, in seinen Augen, scheußliche Gebräue die Menschen Osiats voll Genuss in sich hineinschütteten. So etwas würden sie in Amesia nicht einmal an die Schweine verfüttern. Peers Met machte da keine Ausnahme. Linellas Vater hatte seinen Gedanken über seine Tochter nachgehangen. Plötzlich umwölkte sich seine Stirn und er hatte Thore zu sich herangewinkt. Neugierig hatte sich der große Gott zu ihm gebeugt. „Sie ist so schön, dass sie sogar dem großen Gott Thore gefallen könnte“, hatte ihm Peer leise ins Ohr geraunt. „Wenn ich nur wüsste, wie ich verhindern kann, dass sie ihm in die Hände fällt.“ Verschwörerisch hatte er den Finger über den Mund gelegt und sich ängstlich nach allen Seiten umgesehen. „Ich kann dir helfen, sie zu beschützen“, bot sich Thore an. „Das würdest du tun? Du bist wahrhaft ein Freund“, rief Peer dankbar aus. „Damit nimmst du mir eine große Last von meiner Seele!“ Durch Thores Zauber erkannte er nicht, dass er sich bereits mitten in dem Albtraum befand, vor dem er sich und seine Tochter bewahren wollte.

Thore ging dank seiner List bei Peer ungehindert ein und aus. Freudig hatte der alte Mann jedem in Trendhoak erzählt, dass sein bester Freund Timo in die Nähe des Dorfes gezogen sei, um ihn öfter besuchen zu können. Die Dorfbewohner hatten gewusst, dass sich Linellas Vater irrte und wer der häufige Besucher in Wirklichkeit war. Auch der Zweck seiner Besuche war allgemein bekannt. Doch aus Furcht vor dem großen Gott hatte es niemand gewagt, dem Mädchen und ihrem Vater zu Hilfe zu eilen. Nur Lars, der Schmiedegeselle, hatte einmal das Gespräch mit Peer gesucht. Noch auf dem Weg zu dessen Haus war ihm Thore in den Weg getreten. Als wären sie die dicksten Freunde, hatte der große Gott dem jungen Mann seinen Arm um die breiten Schultern gelegt und ihn so gezwungen, mit ihm zu gehen. In freundlichem Plauderton hatte er sich nach Gwyn, der Braut von Lars, erkundigt und ihre Schönheit gelobt. Dabei hatten seine Augen drohend gefunkelt, als er den Schmiedegesellen aufgefordert hatte, ihn anzusehen. Lars hatte die Bedeutung von Thores Worten durchaus richtig verstanden und war unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen. Gwyn sollte nicht ihre Unschuld an Thore verlieren, nur weil er helfen wollte, wo nicht zu helfen war.

„Der arme Peer“ hatten sich die Leute mitleidig zugeraunt. „Ihn wird der Schlag treffen, wenn er erfährt, dass Thore seine Tochter verführt hat.“ Doch noch war Peer vollkommen arglos gewesen. Er war sogar so weit gegangen, Linella zu bitten, doch zu seinem Freund nicht immer so abweisend zu sein. In seiner Ahnungslosigkeit hatte er überdies gestattet, dass Thore seine Tochter bis zur Tür ihrer Schlafkammer begleiten durfte. Galant und mit immer neuen Komplimenten über ihr Aussehen, ihr Essen, ihren Fleiß und die Freude, die sie ihrem Vater bereiten würde, hatte er sich jedes Mal von ihr vor der Tür verabschiedet. Rasch war sie immer in ihrer Kammer verschwunden, froh, dass sie wenigstens hier von seinen Nachstellungen verschont zu bleiben schien. Denn bei allem, was sie getan hatte, war sie von dem großen Gott beobachtet worden. Manchmal hatte er sich nur einen Moment gezeigt, manchmal leistete er ihr über längere Zeit bei ihren täglichen Handgriffen Gesellschaft und unterhielt sie mit allerlei Geschichten. Doch trotz aller Bemühungen war er keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil! Linella hatte bei ihren Arbeiten zunehmend die Nähe der anderen Frauen des Dorfes gesucht, um zu vermeiden, dass er sie allein treffen konnte.

So war sie auch an diesem schwülen Sommertag in Begleitung von etwa zehn Frauen an den Fluss gegangen, um Wäsche zu waschen, wie Thore verärgert feststellte. Die Frauen wurden von ihren Kindern begleitet, die sich die Zeit mit Spielen vertrieben, während ihre Mütter schwatzend und tratschend die schmutzigen Hemden und Hosen wieder und wieder auf die an dem Waschplatz vorhandenen großen Steine schlugen, damit sie sauber würden. Es hatte vor einiger Zeit etwas flussaufwärts ein heftiges Sommerunwetter gegeben. Innerhalb weniger Stunden war so viel Regen niedergegangen wie sonst in einem ganzen Monat. So hatte sich der sonst ruhig an Trendhoak vorbeifließende Fluss in einen reißenden Strom verwandelt. Dunkelbraun von der in das Wasser gespülten Erde schoss er an den Frauen vorbei, die bald eingesehen hatten, dass sie mit dem Wäschewaschen warten mussten, bis das Hochwasser vorüber war. Die Frauen hatten ihre Kinder gerufen und wollten sich bereits auf den Rückweg ins Dorf machen, als plötzlich Tilda, eine der Frauen, anfing zu schreien. „Amira! Amira, wo bist du?“ Keine Antwort. Alle Kinder waren da, nur Tildas fünfjährige Tochter Amira war nicht zu finden. Sofort riefen auch alle anderen Frauen nach dem Mädchen. Linella sah plötzlich inmitten der tosenden Wassermassen einen dicken Ast schwimmen und einen kleinen Arm, der sich krampfhaft daran festhielt. Doch der Ast hatte sich gedreht und der kleine Arm war in dem braunen gurgelnden Fluss verschwunden. Ohne nachzudenken war Linella in das Wasser gesprungen und hinter dem Ast hergeschwommen. Sie gehörte zu den wenigen in Trendhoak, die schwimmen konnte. Ja, sie war sogar die einzige Frau, die das konnte. Sie hatte es sich selbst beigebracht. Doch das Hochwasser war nicht zu vergleichen mit dem ruhigen Wasser, das sie sonst gewöhnt war. Das bekam sie sehr schnell zu spüren. Sie wurde von der starken Strömung sofort erfasst und hatte mehr damit zu tun, selbst nicht zu ertrinken, als mit gezielten Schwimmstößen zu dem Ast zu gelangen. Ihr Kleid hatte sich mit dem Wasser vollgesogen und erschwerte ihr zusätzlich das Schwimmen. Aber sie wollte nicht aufgeben und ließ sich mit der Strömung treiben, die sie sehr schnell mit sich fortgetragen hatte. Die Stimmen, der rufenden Frauen am Ufer wurden immer leiser und Linella hörte bald nur noch das Tosen der braunen Wellen um sie herum. Hilflos hatte sie sich umgesehen. Da war sie plötzlich gegen etwas Festes kurz unter der Wasseroberfläche getrieben worden. Blitzschnell hatte sie unter sich gegriffen und tatsächlich hielt sie den leblosen Arm Amiras in den Händen. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den Kopf des Mädchens aus dem Wasser zu heben. Es atmete nicht und hatte die Augen geschlossen. Immer weiter hatte sie die Strömung getrieben. Entsetzt hatte Linella gesehen, dass sie sich dabei immer mehr zur Flussmitte hin bewegte. In einem Arm hielt sie das Kind, mit dem anderen paddelte sie verzweifelt, um doch noch das rettende Ufer zu erreichen. Doch der Fluss hatte sie und das Kind nicht wieder hergeben wollen. Langsam hatte Linella gespürt, wie sie ihre Kräfte verließen. Ihr nasses Kleid hatte sie immer weiter nach unten gezogen und der Rock hatte sich im Sog der Strömung so um ihre Beine gewickelt, dass sie sie fast nicht mehr bewegen konnte.

Da spürte sie, wie sich eine starke Hand um ihren Knöchel legte und sie zum Grund des Flusses zog. Mit einem letzten verzweifelten Schrei hatte sie versucht, sich zu befreien, dann schlug das nasse Braun über ihr und Amira, die sie immer noch krampfhaft im Arm hielt, zusammen. Fast zufrieden hatte sie sich immer weiter unter das Wasser ziehen lassen. Sie hatte alles versucht, das Leben des kleinen Mädchens zu retten, nun würde sie also mit ihm zusammen in das nasse Grab gehen. Ein letzter Rest ihres Überlebenswillens ließ sie die Luft anhalten, doch sie wusste, es trennten sie nur Augenblicke vor dem Ertrinken. Wie erstaunt war sie, als sie plötzlich wieder Luft bekam, obwohl sie sich auf dem Grund des Flusses befand. Plötzlich konnte sie festen Boden unter den Füßen spüren. Vor ihr stand Thore in einer Luftglocke und sah sie ernst an. „Das hätte böse enden können!“, hatte er sie getadelt. Linella hatte ihn sprachlos angestarrt. Leise gurgelnd floss das Wasser in einem Bogen um sie und den großen Gott herum. Sie hatte in nassen Kleidern vor ihm gestanden und Amira, die sie immer noch im Arm trug, war das Wasser aus ihren dunklen Zöpfen getropft, während Thore vollkommen trocken war. Nicht einmal an seiner Hand, mit der er nach ihr gegriffen und sie in diese magische Glocke gezogen hatte, waren Wassertropfen zu sehen. Als Linella erkannte, dass Thore ihr das Leben gerettet hatte, wurden ihr die Knie weich. Doch bevor sie zu Boden stürzen konnte, hatte er sie aufgefangen und wohlbehalten ans Ufer getragen. Sanft hatte er sie auf dem weichen Gras abgesetzt und seine große Hand Amira über das Gesicht gelegt. Kurz darauf hatte das Kind tief Luft geholt, angefangen zu husten und die Augen geöffnet. Linella waren vor Freude und Erleichterung Tränen über die Wangen gelaufen. Da sie ihre tiefe Dankbarkeit nicht in Worte hatte fassen können, hatte sie dem großen Gott die Hand geküsst. „Ich habe das nur für dich getan!“, hatte er gesagt und ihr tief in die Augen gesehen. „Du sagst zu niemandem ein Wort!“, hatte er sie noch angewiesen und war verschwunden, da sich die aufgeregten Stimmen der anderen Frauen genähert hatten, die das Ufer nach Linella und Amira abgesucht hatten.

Von da an hatte sie ihr Verhalten ihm gegenüber geändert. Sie zeigte sich nicht mehr ganz so abweisend und war nicht mehr so erschrocken zusammengezuckt, wenn er plötzlich in ihrer Nähe aufgetaucht war. Sie hatte nicht mehr so einsilbig geantwortet und sich auf Gespräche mit dem großen Gott eingelassen. Mit der Zeit war es ihm sogar gelungen, sie gelegentlich zum Lachen zu bringen. Da hatte er gewusst, dass er auf dem richtigen Weg war. Langsam hatte er die Schlinge zugezogen. Den letzten Angriff auf ihr Herz hatte er mit einem für sie überraschenden Zug gestartet. Er entzog sich ihr. Den ganzen Sommer über war er tagtäglich bei ihr oder ihrem Vater gewesen. Nun hatte er sich seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Er hatte sie zwar immer noch beobachtet, aber er zeigte sich ihr nicht mehr. Stattdessen hatte er ihr betörende Träume geschickt, aus denen sie schweißgebadet mit laut pochendem Herzen erwachte. Deutlich hatte er ihre zunehmende Verwirrung darüber gespürt, dass sie ihn vermisste. Sie hatte angefangen, mit den Augen nach ihm zu suchen. Da hatte er beschlossen, diesem Spiel ein Ende zu setzten und sich seinen wohlverdienten Lohn zu holen. Als sie an diesem kühlen Herbstabend ihre Schlafkammer betrat, hatte sie eine außergewöhnliche große violette Blume auf ihrem Kissen gefunden, die ihren süßen Duft in dem ganzen Raum verbreitet hatte. Die rosettenförmigen Blütenblätter bildeten eine Kuppelform. Das schwache Licht der Kerze, die Linella angezündet hatte, führte zu einem warmen Leuchten der Blüte. So eine Blume hatte sie noch nie gesehen. Zärtlich hatte sie sie genommen und behutsam daran gerochen. „Das ist eine Sapinie. Sie ist sehr selten und schwer zu finden“, hatte Thore erklärt, der urplötzlich in ihrer Kammer gestanden hatte. Das war glatt gelogen. Diese Blumen wuchsen in einigen geschützten Tälern des Annorgebirges, des Ringgebirges von Amesia, wie Unkraut vom Frühjahr bis in den späten Herbst hinein. Ihr Duft verbreitete sich das ganze Jahr über in diesen Tälern. Doch Thore wusste, dass Frauen gern hörten, dass man besondere Mühen auf sich nimmt, um ihnen eine Freude zu bereiten.

Erschrocken hatte sich Linella zu ihm umgedreht. Er hatte hinter der Tür gestanden und gespannt auf ihre Reaktion auf die Blume auf ihrem Bett gewartet. Sprachlos hatte sie ihn mit ihren schönen braunen Augen angeblickt. Und er hatte sehen können, dass sie kurz davor stand, sich geschlagen zu geben. Ein letztes Mal hatte sie versucht, aus der Schlinge, die der große Gott ausgelegt und in der sie sich hoffnungslos verfangen hatte, zu entkommen. Sie war vor ihm auf die Knie gefallen und hielt den Blick gesenkt. „Herr, wieso wollt Ihr mich zerstören?“, hatte sie leise um Gnade gebeten. Thore hatte sie sanft am Kinn genommen und zu sich gezogen. „Ich will dich nicht zerstören! Ich will dich lieben!“, hatte er lächelnd geantwortet. „Ihr liebt mich?“, hatte sie ungläubig gefragt. Das hatte er nicht gesagt. Doch er hatte es unterlassen, die Sache richtigzustellen. Linella hatte lichterloh gebrannt, als er zärtlich ihren schönen Mund geküsst hatte. Widerstandslos hatte sie sich von ihm in ihr Bett tragen lassen und er hatte seinen Sieg in vollen Zügen ausgekostet. Und doch hatte er dabei auch ein gewisses Bedauern empfunden. Er hatte sich wie ein Jäger gefühlt, vor dem am Ende einer herausfordernden und spannenden Jagd die lang ersehnte Beute lag.

Linella war dem großen Gott hoffnungslos verfallen. Ungeduldig hatte sie jeden Abend auf sein Erscheinen gewartet, obwohl er von da ab nur noch unregelmäßig zu ihr kam. Meist war er direkt in ihre Schlafkammer gekommen und hatte sie ohne große Worte genommen. Noch seltener hatte er sich Linellas Vater gezeigt. Nur ihr zuliebe hatte er Peer noch nicht von seinem Zauber befreit. Als Timo hatte er ihm schließlich erklärt, dass er wegen dringender Geschäfte nicht mehr so häufig nach Trendhoak kommen könnte. Linellas Vater hatte zwar wortreich sein Bedauern darüber geäußert, aber Verständnis gezeigt. Thore war froh gewesen, dass er den alten Mann nicht mehr brauchte. Dessen Vertraulichkeiten hatten seine Geduld über die Zeit mehr als beansprucht. Mittlerweile kündigten erste laue Winde den nahenden Frühling an. Linellas bedingungslose Liebe hatte begonnen, den großen Gott zu langweilen. Schon mehrfach hatte er darüber nachgedacht, nicht mehr zu ihr zu gehen, doch noch konnte er nicht von ihr lassen. Ungewollt hatte ihm Linella eines Tages geholfen, dieser ihm inzwischen lästig gewordenen Angelegenheit ein Ende zu bereiten. Wie immer hatte sie ungeduldig auf ihn gewartet. Auf ihrem Gesicht hatte ein neuartiges Leuchten gelegen, als er zu ihr gekommen war. Sie hatte offensichtlich darauf gebrannt, dass er ihr erlaubte, zu reden. Auch wenn sie seine Geliebte war, so war sie doch ein Mensch. Und Menschen durften nur mit dem großen Gott sprechen, wenn er das Wort an sie richtete. Doch er hatte erst einmal anderes im Sinn. Danach wollte er entscheiden, ob sie ihm erzählen dürfte, was sie bewegte. Still hatte sie mit geschlossenen Augen neben ihm gelegen, nachdem er ihre Liebe genossen hatte. Das hatte sie sich angewöhnt, denn es war ihr ja auch nicht erlaubt, Thore ohne Erlaubnis anzusehen. Er hatte es gemocht, wie sie sich auf ihre ganz eigene unauffällige Art an die strengen Regeln im Umgang mit ihm hielt. So hatte er sie immer ungestört betrachten können, ohne selbst gemustert zu werden. Oft hatte er sie nur mit den Augen gestreichelt und es hatte seiner Eitelkeit geschmeichelt, dass sie nach wie vor unter seinem Blick erschauerte, den sie genauso deutlich spürte, als wenn er sie berührt hätte.

Diesmal war er mit seiner Reise über ihren zarten Körper nicht weit gekommen. Schon in ihrem Gesicht war er hängen geblieben. Sie lächelte leicht und eine Träne quoll unter ihren geschlossenen Lidern hervor. „Tränen?“, hatte er gefragt. „Verzeiht, Herr! Es ist wegen des wunderbaren Geschenks, das Ihr mir gemacht habt“, hatte sie flüsternd geantwortet. „Ein Geschenk?“ Thore hatte überrascht die Augenbrauen gehoben. Das einzige Geschenk, das er ihr je gemacht hatte, war die Blume aus Amesia gewesen. „Ein Sohn, Herr!“ Jetzt hatte sie doch ungefragt die Augen geöffnet und ihn angestrahlt. „Ich bin mir sicher, es wird ein Sohn. Durch dieses Kind werden wir für immer aneinander gebunden sein.“ „Schweig, du Närrin!“, hatte er sie ungehalten angefahren und von sich weggestoßen. „Hast du wirklich geglaubt, du kannst Thore so an dich binden?“ „Aber Herr! Freut Ihr Euch denn nicht?“, hatte Linella entgeistert gefragt. Thores heftige Reaktion kam für sie völlig unerwartet. „Freuen? Worüber soll ich mich freuen? Dieses Kind bedeutet mir genauso wenig wie du!“, war er aufgebraust. „Aber Herr! Ich dachte, Ihr liebt mich!“ „Liebe!“, hatte er spöttisch gerufen. „Ich habe dich nie geliebt! Thore liebt keine Menschen. Sie sind nur dazu da, dass ich meinen Spaß habe.“ Schonungslos hatte er ihr erzählt, dass sie für ihn nie mehr als eine lohnende Beute gewesen war. Er hatte nur mit ihr gespielt. Böse hatte er gelacht, als er ihr erklärte, dass es für ihn das Größte gewesen war, ihren naiven Vater für seine Zwecke einzuspannen. Er hatte Linella angesehen, wie sehr sie seine Worte trafen. Trotz ihrer tiefen und ehrlichen Liebe und ihres sonstigen Wohlverhaltens hatte er ihr nie ihre Respektlosigkeit, die sie in dem belauschten Gespräch mit ihrem Vater gezeigt hatte, verziehen. Seine Worte schlugen tiefe Wunden in ihre Seele. Wunden, die nie heilten und an denen sie letztendlich zugrunde gegangen war.

Wütend war er aus ihrer Kammer gestürmt. Peer hatte den Lärm gehört und stand im Flur. Im Vorbeigehen nahm Thore seinen Zauber von Linellas Vater und es geschah, was die Bewohner von Trendhoak vorhergesehen hatte. Als Peer entsetzt erkannte, wer da aus der Schlafkammer seiner Tochter gekommen war und er Linella weinen hörte, fasste er sich mit einem Schmerzensschrei an die Brust und brach ohnmächtig zusammen. Zwei Tage später starb er, ohne vorher noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. So hatte Linella innerhalb kürzester Zeit die beiden Männer verloren, die sie liebte. Ihren Vater und den großen Gott.

Thore war nicht auf direktem Weg in seinen Palast zurückgekehrt. Er hatte sich erst einmal beruhigen müssen. Fraya war bereits misstrauisch geworden. Zu lange und zu intensiv hatte er diesmal in Osiat gewildert. Sein langes Werben um Linella war auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte sie näher kennengelernt als alle anderen seiner menschlichen Gespielinnen. Um sie in das von ihm um sie herum aufgebaute Netz treiben zu können, hatte er sich mit ihr, ihrem Denken und Fühlen beschäftigen müssen. Dadurch hatte sie ihm am Ende mehr bedeutet als es je eine andere seiner Geliebten tat. Als sie ihm freudestrahlend eröffnet hatte, dass sie ein Kind von ihm erwartet, hatte er gespürt, dass ihm dieses Kind sehr viel bedeuten würde. Das hatte er wegen Fraya nicht zulassen dürfen. Die große Göttin hatte ihm seine Seitensprünge immer wieder verziehen, weil sie um die Oberflächlichkeit seiner Gefühle für die Menschen wusste. Wenn sie ihn jetzt so aufgebracht erlebt hätte, hätte sie gewusst, dass es diesmal anders gewesen war. Das hätte für Thore ernste Folgen haben können. So hatte es eine ganze Zeit gedauert, bis er seine Gemächer betreten hatte. Fraya hatte dort bereits auf ihn gewartet. Ganz ruhig hatte sie im Dunkeln in einem Sessel gesessen. Sie hatte ihn und seine Gefühlslage deutlich eher gesehen als er sie. Zum Glück für Thore hatte er zu diesem Zeitpunkt seine Tür bereits mit zwar ernster aber unbeteiligter Miene öffnen können. So war Fraya sein wirklicher Gemütszustand verborgen geblieben. „Wenn du noch einmal zu ihr gehst, verlasse ich dich!“, hatte sie ruhig zu ihm gesagt. Doch diese Ruhe in ihrer Stimme war trügerisch. Sie kannten sich lange genug, sodass Thore genau wusste, dass sie vor Wut kochte und ihre Worte bitterernst meinte. „Ich werde sie nie wiedersehen!“, hatte er ebenso ruhig antworten können. Ohne ein weiteres Wort hatte Fraya seine Gemächer verlassen. Leise schloss sich hinter ihr die Tür. Die große Göttin konnte noch so wütend sein, sie schlug nie mit den Türen. Es hatte Monate gedauert, bis er wieder ihre Gemächer betreten durfte.

Thore erwachte in dem Pferdestall aus seiner Erstarrung, als sich Eric in dem Stroh von einer Seite auf die andere wälzte. Mit einer Handbewegung sorgte der große Gott dafür, dass der Junge nicht aus seinem Schlaf erwachte. Er hatte das Wort, das er Fraya gegeben hatte, gehalten. Er war nie wieder nach Trendhoak zurückgekehrt. Erst Erics Fackel an seinem heiligen Baum hatte seine Aufmerksamkeit nach zwölf Jahren wieder auf diesen Ort gerichtet. Mit einem Blick hatte er die Situation erkannt, gewusst, wer dort dem Feuer übergeben wird. Ohne darüber nachzudenken, hatte er sich dazu entschlossen, seinen Sohn nach Oskan zu holen. Erst während seines Ritts zurück nach Amesia waren ihm Bedenken wegen Fraya gekommen. Um seinen Frieden mit der großen Göttin zu bewahren, hatte er sich entschlossen, diesen Jungen nicht in sein Herz hineinzulassen. Er würde ihn zu einem Krieger Oskans ausbilden lassen. Sein Sohn würde dieser Junge niemals sein. Ächzend erhob sich Thore. Er hatte lange bei dem Fohlen gehockt. Lautlos verließ er den Stall wieder.

Quondam ... Der magische Schild

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