Читать книгу Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - Страница 4

Kapitel 2

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Eric war ein hübscher Junge von zwölf Jahren mit blondem Haar und stahlblauen Augen. Der unkindliche Ernst in seinem schmalen Gesicht und die für sein Alter ungewöhnliche Körpergröße und Stärke ließen ihn jedoch deutlich älter erscheinen. Die Stärke und seine stahlblauen Augen waren ein Erbteil seines Vaters, während er die Schönheit von seiner Mutter hatte. Sein Vater war Thore, der oberste Gott und Herrscher von Amesia, der Welt der Götter. Eric hatte ihn nie kennengelernt, denn er wohnte mit seiner Mutter Linella in Trendhoak, einem kleinen Dorf in Doritan, dem Königreich im Westen Osiats. Nur etwa dreißig Bauern, ein Schankwirt und ein Schmied lebten hier mit ihren Familien. Das Dorf lag an einem schmalen Fluss, der sich träge durch die Landschaft schlängelte. Es unterschied sich nicht von den anderen Dörfern in Doritan. Ein paar geduckte Hütten, eine Schmiede, eine Schenke, Ställe für das Vieh und ein paar Scheunen drängten sich in loser Folge um den zentralen Dorfplatz.

Am Flussufer, etwas außerhalb des Dorfes, lag der heilige Hain, der eigentlich nicht mehr als eine kleine Baumgruppe umfasste. Ein starker und sehr hoher Escalinbaum bildete das Zentrum des Heiligtums. Es war Thores Baum. Früher war es üblich gewesen, dass sich die Menschen, die sich mit einem Anliegen an den großen Gott wenden wollten, unter diesem Baum gebetet und ihre Gaben dort für ihn abgelegt hatten. Das hatte sich in den letzten Jahren geändert. Nur noch ausgewählte heilige Männer durften sich dieser heiligen Stätte nähern. Zur Sommersonnenwende wurden die schönsten Mädchen ausgewählt, um sie unter dem Escalinbaum zu Ehren Thores tanzen zu lassen. Alles, um ihn zu versöhnen, denn es hieß, der große Gott sei verärgert und würde seine Hand nicht mehr schützend über Doritan halten. Anzeichen dafür gab es genug. Nur noch selten konnten die Menschen eine ausreichende Ernte einfahren. Immer wieder überschwemmten Hochwasser die Felder oder Dürren ließen das Getreide verdorren, Feuer zerstörten Wälder und Weiden, ließen Tiere und Menschen gleichermaßen leiden. Das Leben in dem ehemals reichsten und grünsten der vier Königreiche Osiats war für die einfachen Menschen dort schwer geworden. Gemeinschaften brachen auseinander, ganze Landstriche verödeten und der Hunger klopfte immer öfter an die Türen auch vormals wohlhabender Bauern. König Dorin und sein Hofstaat zeigten sich von dem Leiden der Bewohner Doritans unbeeindruckt. Von seiner fernen Hauptstadt Stello aus erhöhte der König die Steuern und verstärkte somit die Drangsal seinen Untertanen. In ihrer Not hatten die Menschen begonnen, sich hemmungslos an dem zu bedienen, was ihnen die Natur gab. Sie fischten Seen und Flüsse leer, ganze Wälder hatten kein jagdbares Wild mehr, nachdem auch die Jungtiere geschossen worden waren, lange, bevor sie selbst für Nachwuchs hatten sorgen können. Zu spät hatten die Menschen erkannt, dass sie sich damit selbst jegliche Grundlage des Überlebens in ihrer Heimat entzogen hatten. Massenhaft waren die Menschen daraufhin aus Doritan geflohen, um in den benachbarten Reichen oder in der freien Stadt Xentalon eine Anstellung und ein neues Auskommen zu finden. Da war Dorin endlich aufgewacht. Doch anstatt die Steuern in seinem Land zu senken, hatte er die Grenzen geschlossen und es seinen Untertanen bei schwerer Strafe verboten, ihre Heimat zu verlassen. Und er hatte ihnen befohlen, alles dafür zu tun, um die Götter wieder mit Doritan zu versöhnen. Dass er es gewesen war, der Thores Zorn auf sein Land gezogen hatte, verschwieg er. Die verzweifelten Menschen folgten dem Befehl ihres Königs und für ein paar Jahre schien es, als hätte Doritan das Schlimmste überstanden. Fünf Jahre hintereinander hatte es reiche Ernten gegeben und die Menschen hatten dankbar in den heiligen Hainen getanzt, gelacht und gefeiert. Die Musik war noch nicht ganz verhallt, da kündigten die schwersten Herbststürme, die es seit Jahren in Doritan gegeben hatte, an, dass sich die Menschen zu früh gefreut hatten. Einem endlos scheinenden bitterkalten Winter war ein kurzes, kaltes und nasses Frühjahr gefolgt. Die wenige Saat, die aufgegangen war, wurde von der unbarmherzigen Sommersonne verbrannt, schon im Herbst starben die ersten Kinder und Alten des Hungers. Den Winter überstanden nur die, die den gallig bitteren Brei aus Baumrinde und Wurzeln herunterwürgen und auch im Magen behalten konnten. Allein in Trendhoak hatten vierzig Dorfbewohner diesen Winter nicht überlebt. So hatte es in dem ganzen Land ausgesehen. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. So schlimm war es seitdem nie wieder gewesen, doch gefeiert und gelacht wurde in den heiligen Hainen von Doritan nie wieder. Selbst der Tanz zur Sommersonnenwende wurde nicht überall und jedes Jahr aufgeführt. In geheimen Sitzungen legten die heiligen Männer fest, an welchen fünf Orten Doritans die Töchter des Dorfes in dem betreffenden Jahr für Thore tanzen durften. Auf Trendhoak war die Wahl vor dreizehn Jahren gefallen. Seit dieser Zeit war der heilige Hain des Dorfes zu einem stillen und verwunschenen Ort geworden, zu dem sich nur selten jemand wagte. Mit Ausnahme der Kinder des Dorfes. Obwohl es streng verboten war, spielten sie gern unter den Bäumen der Götter. Nur Eric kam nie hierher.

Früher war seine Mutter Linella mit ihm regelmäßig zu dem Escalinbaum gegangen. Er hatte lange nicht verstanden, worüber sie dort sprach, bis er irgendwann begriff, dass sie Thore ihren Sohn vorstellte. Sie hatte immer die Hoffnung, dass der große Gott einmal aus seinem Baum heraustreten und sich zeigen würde. Doch als er fünf Jahre alt gewesen war, fuhr plötzlich ein eisiger Wind über sie hinweg, obwohl es ein sonniger Sommertag gewesen war. Für ihn war dies das untrügliche Zeichen, dass sein Vater nichts mit ihm zu tun haben wollte und die Hoffnung seiner Mutter vergebens war. Linella hatte dieses Erlebnis in tiefe Verzweiflung gestürzt. Als er sieben Jahre alt war, waren sie das letzte Mal dort gewesen. Danach hatte seine Mutter nicht mehr die Kraft, aufzustehen. Seit dieser Zeit kümmerte er sich so gut um sie, wie es ihm als Kind möglich war. Bis dahin hatten sie von dem beträchtlichen Vermögen, das Linellas Vater seiner Tochter trotz der schwierigen Zeiten hatte hinterlassen können, gut gelebt. Doch mit zunehmender Dauer ihrer Krankheit schwand das Geld in erschreckendem Maße. Gwyn, die Mutter seines besten Freundes Leif, unterstützte ihn so gut es ging. Sie bekochte Eric und seine Mutter. Als Frau des Schmiedes und Freundin Linellas konnte sie sich diese Mildtätigkeit leisten. Nur auf Drängen Linellas und um sie nicht zu kränken, nahm sie etwas Geld für ihre Mühe an. Doch dies hatte den zunehmenden Verfall seiner Mutter nicht aufhalten können.

Oft war Eric voller Verzweiflung in den tiefen und dunklen Wald gelaufen, der kurz hinter der dem Fluss abgewandten Seite von Trendhoak begann. Die anderen Kinder, ja selbst die erwachsenen Dorfbewohner, mieden ihn. Doch Eric fühlte sich in dieser verwunschenen Umgebung wenigstens für kurze Zeit sicher und konnte seinen Tränen freien Lauf lassen. Er liebte seine Mutter sehr und es quälte ihn, sie so leiden zu sehen. Wie gern hätte er sie noch einmal so fröhlich lachen erlebt wie in seinen frühen Kindertagen. Es fiel ihm immer schwerer, sich daran zu erinnern, denn das Bild seiner apathisch in ihrem Bett liegenden blassen Mutter war das Einzige, das sich ihm seit fünf Jahren tagtäglich immer tiefer einbrannte. Nur ihre Augen leuchteten noch so liebevoll wie einst, wenn er ihre Kammer betrat.

Es war ein schöner sonniger Tag, der geradezu zu Unternehmungen im Freien einlud. Doch Eric war bei seiner Mutter und versuchte, ihr etwas von der Suppe einzuflößen, die Gwyn vorbeigebracht hatte. Während sie Linella beim Sitzen stütze, führte ihr Eric vorsichtig den Löffel zum Mund. Linella war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wenn Eric sie nicht fütterte, verweigerte sie jegliche Nahrung. Nur ihrem Sohn zuliebe zwang sie sich, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie schon lange keinen Appetit mehr hatte. Sie konnte das Flehen in seinem Blick nicht ertragen. Aber an diesem Tag wollte sie einfach nicht essen. Schon nach dem zweiten Löffel drehte sie abwehrend den Kopf zur Seite. „Mutter, du musst etwas essen“, drängte Eric. „Ich habe heute keinen Hunger“, antwortete Linella schwach. „Du hast nie Hunger! Seit Wochen nicht!“, rief ihr Sohn verzweifelt und warf Gwyn einen hilflosen Blick zu. Sie wusste auch nicht, wie hier noch zu helfen war. In die Suppe für Linella hatte sie ein großes Stück Butter hineingetan, um sie so für Erics entkräftete Mutter noch nahrhafter zu machen. „Mutter, bitte! Nur noch einen Löffel“, flehte Eric. Doch Linella lag mit geschlossenen Augen in Gwyns Arm und reagierte nicht. Ihr Atem ging nur ganz flach. Eric bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Beklommen stellte er die Suppe zur Seite und nahm die kühle Hand seiner Mutter. „Mutter, was ist mit dir?“, fragte er bestürzt. Sie öffnete die Augen und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Es ist nichts. Ich musste nur einmal kurz ausruhen. Gibst du mir noch etwas?“ Erleichtert ließ Eric die Hand seiner Mutter los und reichte ihr einen Löffel Suppe.

Von der Tür kam ein zaghaftes Klopfen. „Eric, kommst du mit zum Fluss?“ Eric schüttelte den Kopf. Auch ohne sich umzudrehen, wusste er, dass Leif in der Tür stand. Sein Freund wechselte einen kurzen Blick mit seiner Mutter, die immer noch Linella stützte. „Du kannst ruhig gehen. Ich werde mich weiter um deine Mutter kümmern“, redete sie Eric gut zu. Der war hin und her gerissen zwischen der Sorge um seine Mutter und dem Wunsch, diesem Elend wenigstens für eine Weile zu entfliehen. „Geh, mein Sohn“, ermutigte ihn auch Linella. „Gwyn ist doch bei mir. Ich verspreche auch, noch etwas zu essen.“ „Wirklich?“, fragte Eric ungläubig. „Versprochen!“ Linella schaffte es mit äußerster Anstrengung, den Arm zu heben und ihrem Sohn zärtlich über das Gesicht zu streichen. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Vergiss das nie!“, sagte sie liebevoll. „Geh jetzt!“ Mit einem Kloß im Hals stellte er den Teller ab. „Ich bleibe nicht lange fort“, versprach er, nickte Gwyn dankbar zu und ging zu Leif, der immer noch in der Tür stand. Lange sah Linella ihrem Sohn hinterher. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie daran dachte, dass sie Eric nicht die Mutter war, die sie sein wollte. Es tat ihr unendlich leid, ihrem Sohn solchen Kummer zu bereiten. Doch ihr fehlte einfach die Kraft, wieder gesund zu werden. Gwyn nahm ein Kissen, um Linella abzustützen. Linella schüttelt den Kopf. „Ich werde nichts mehr essen“, sagte sie schwach. „Aber Linella, du hast es Eric versprochen“, wandte Gwyn ein. „Ich weiß! Ich wollte doch nur, dass er mit Leif mitgeht. Er ist doch viel zu erwachsen!“ Gwyn nickte verständnisvoll, doch auch sie quälte die Sorge um die vor ihr liegende junge Frau. Drei Löffel Suppe am Tag sind einfach zu wenig. „Hilfst du mir bitte? Ich möchte gern etwas ausruhen“, bat Linella. Gwyn bettete sie vorsichtig und deckte sie sorgsam zu. Linella lächelte dankbar. „Nachher werde ich noch etwas essen“, versprach sie. „Darüber wird Eric sehr froh sein“, freute sich Gwyn. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“, fragte sie. Linella schüttelte erschöpft den Kopf. Nachdem Gwyn endlich unter tausend Versicherungen, ganz schnell wiederzukommen, gegangen war, seufzte Linella erleichtert auf. Unendlich müde schloss sie die Augen.

Leif war in demselben Alter wie Eric. Obwohl er in Trendhoak zu den größten Zwölfjährigen gehörte, war er doch immer noch einen halben Kopf kleiner als Eric. Dunkle Brauen überspannten seine klugen grün-blauen Augen. Er hatte dichtes dunkelblondes Haar und ein hübsches rundes Gesicht. Da er seinem Vater Lars bereits in der Schmiede half, hatte er schon breite Schultern und kräftige Arme. Er war der einzige Freund, den Eric in Trendhoak hatte. Die anderen Kinder des Dorfes hatten sich von Eric zurückgezogen, seit Linella krank geworden war. Eric war immer ernster und stiller geworden. Manchmal hatte er bei den geringsten Anlässen Wutanfälle bekommen und war keiner Prügelei aus dem Weg gegangen. Durch seine Kraft war er meist als Sieger aus diesen Kämpfen hervorgegangen. Schon bald hatte sich keiner mehr allein an ihn herangewagt, nicht einmal die älteren Jungs. Sie alle hatten Angst vor ihm und sich daher gegen ihn zusammengetan. Sie fingen an, Eric von der Ferne aus als Bastard zu beschimpfen und warfen mit Steinen nach ihm. Einmal hatten sie ihm aufgelauert und waren zu fünft über ihn hergefallen. Empört über diese Feigheit und ohne nachzudenken, war ihm Leif zu Hilfe geeilt und gemeinsam hatten sie die Angreifer in die Flucht geschlagen. Mit blutenden Nasen hatten sie ihre Freundschaft besiegelt. Da waren sie beide neun Jahre alt gewesen. Leifs Vater war daraufhin zu den Eltern der Übeltäter gegangen. Sein Wort hatte Gewicht und die Schmähungen und Steinwürfe hörten auf. Auf eine Prügelei mit Eric und Leif ließ sich sowieso keiner ein.

Aber Leifs Freundschaft zu Eric erschöpfte sich nicht darin, ihm bei Rangeleien mit anderen Kindern zur Seite zu stehen. Über seine Mutter und die Gespräche seiner Eltern, die er manchmal heimlich belauschte, wusste er mehr als jeder andere über die große Last, die sein Freund zu schultern hatte. Deshalb konnte er auch besser mit Erics plötzlichen Wutausbrüchen und Launen umgehen. Auf der anderen Seite ersann er ständig neue Spiele, um Eric auf andere Gedanken zu bringen. Besondere Freude bereitete er ihm, wenn er ihn zu einem Wettkampf aufforderte. Vor allem beim Wettrennen schien Eric seinen Kummer zumindest für eine Weile zu vergessen. An anderen Tagen saßen sie nur am Flussufer schweigend beisammen. Leif wusste inzwischen, dass es an Tagen, an denen Eric kein Wort sprach, immer sehr schlimm mit seiner Mutter gewesen war. Wenn es ihr besser ging, war Eric sofort wie ausgewechselt.

Leif hatte mit einem Blick von der Tür in Linellas Kammer sofort erkannt, dass heute wieder so ein besonders schwieriger Tag für Eric war. Verbissen kniff er die Lippen zusammen. Es war ein so schöner Tag und er hatte sich so darauf gefreut, im Fluss zu baden. Er hatte gehört, dass auch die Mädchen des Dorfes zum Fluss gehen wollten. Sie gingen nie dorthin, um zu baden, sondern um den Jungen bei ihren Wasserkämpfen und Mutproben zuzusehen. Mit ihren Kleidern konnten sie nicht schwimmen und nur die Kecksten von ihnen hielten die Zehen ins Wasser. Die Jungen hatten eine bevorzugte Stelle am Ufer. Dort trat das Gras vom Ufer zurück und gab einen Abschnitt mit schönem, weißem Sand frei. Ein Baum war vor langer Zeit von einem Sturm in eine solche Schräglage gebracht worden, dass seine Äste über den Fluss ragten. Es galt als Mutprobe, von diesen Ästen ins Wasser zu springen. Nur die Mutigsten unter ihnen erklommen auch die obersten Äste. Auf einen Ast kletterte jedoch niemand. Er war der Höchste und seine Blätter spiegelten sich in der Mitte des Flusses. Jeder Sprung wurde von den Mädchen mit Beifall bedacht und von anderen Jungen kritisch kommentiert. Dabei kam es nicht nur darauf an, von welcher Höhe aus man sprang. Auch die Art des Sprunges wurde bewertet. So manch einer war schon durch einen gekonnten Salto für einen Sommer zum Helden der Dorfjugend geworden. Doch das war eher die Sache der älteren Jungen von dreizehn oder vierzehn Jahren. Leif und Eric waren dafür noch zu jung, obwohl sie zu den wenigen gehörten, die sich bereits in die höheren Etagen wagten. Für Leif gab es jedoch noch einen weiteren Grund, sich auf die Anwesenheit der Mädchen zu freuen. Mit Vergnügen hatte er sich vorgestellt, sich an sie heranzuschleichen und sie an den Zöpfen zu ziehen. Vor allem bei Jorid, einem Mädchen, ein Jahr jünger als er, tat er das besonders gern. Sie hatte lange braune Zöpfe und ihre dunklen Augen blitzten vor Empörung immer so lustig, wenn er das tat. Eric hatte ihn schon ein paarmal damit aufgezogen, dass er wohl in dieses Mädchen verliebt sei, was er heftig bestritten hatte. Aber wenn er ehrlich war, gefiel sie ihm von allen Mädchen am besten. Er mochte sie, aber vorerst war das sein Geheimnis, das er nicht einmal mit Eric teilen wollte.

Wortlos lief Eric neben seinem Freund her und schien das schöne Wetter gar nicht wahrzunehmen. Leif überlegte krampfhaft, wie er ihn etwas aufmuntern könnte. „Komm, wer zuerst am Fluss ist!“, rief er und lief los. Schon nach wenigen Schritten stoppte er, da er merkte, dass Eric ihm nicht folgte. Wenn sich Eric nicht mal zu einem Wettlauf ermuntern ließ, musste es ganz schlimm gewesen sein. In dieser Stimmung war er bestimmt nicht zu irgendwelchen Späßen aufgelegt und würde sicher nur trübsinnig ins Wasser starren. Es war genauso, wie Leif befürchtet hatte. Weitab von den anderen Kindern des Dorfes ließ sich Eric an einer Böschung zu Boden sinken. Stumm setzte sich Leif neben ihn. Sehnsüchtig blickte er in die Richtung, aus der das Lachen und Juchzen der anderen zu ihnen drang. „Du kannst ruhig zu ihnen gehen. Ich bin heute keine gute Gesellschaft“ sagte Eric zu Leif. Auch er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass der sich seinen Tag ganz anders vorgestellt hatte. „Ich bleibe!“, sagte Leif knapp und sah Eric fest an. „Gib mir noch etwas Zeit. Dann komme ich mit dir mit“ bat Eric. Leif nickte. So war ihre Freundschaft. Keiner von ihnen dachte nur an sich. Sie suchten und fanden meist einen Weg, der für sie beide gangbar war. Sie legten sich in das warme Gras und blickten in den Himmel. Leif spürte, wie Eric mit seinem Kummer rang und versuchte, sich von ihm nicht überwältigen zu lassen. Gern hätte er ihn dabei in irgendeiner Weise unterstützt, aber im Moment war er ratlos. Da kam ihm sein jüngerer Bruder Thorben überraschend zu Hilfe. Sanft stupste er Eric an. „Er ist wieder da“, flüsterte er und grinste Eric schelmisch an. Eric wurde sofort hellhörig. „Thorben?“, fragte er ebenso leise zurück. Leif nickte nur ganz leicht. Thorbens liebstes Spiel war es, seinem großen Bruder und dessen Freund zu folgen und sie bei ihren Unternehmungen zu beobachten. Er war fünf Jahre jünger als die beiden und mächtig stolz, einen Bruder wie Leif zu haben. Eric war sein großer Held. So stolz und mutig wie er wollte Thorben auch einmal werden. Was dem Kleinen verborgen blieb, sein Bruder und Eric wussten, dass sie beobachtet wurden. Sie machten sich nur allzu gern einen Spaß daraus, plötzlich zu verschwinden und dann ihrerseits Thorben zuzusehen, wie er sie suchte. Er war ihnen zum Fluss gefolgt und hatte sich gewundert, dass sie nicht bei den anderen Dorfkindern waren. Er durfte mit seinen sieben Jahren noch gar nicht hier sein. Zu groß war die Gefahr, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. Erst mit zehn Jahren durften die Kinder allein an den Fluss. Leif zeigte Eric einen kleinen Stock, den er im Gras gefunden hatte und jetzt in der Hand hielt. Dann wies er mit dem Kopf zur Böschung. Eric grinste und nickte. Er hatte sofort verstanden, was sein Freund vorhatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung warf Leif den Stock zur Seite. Im nächsten Augenblick ließen sich die Freunde die Böschung hinunterkullern.

Leifs Plan war aufgegangen. Von dem Aufprall des Stocks einen Moment abgelenkt, hatte Thorben nicht mitbekommen, wohin sein Bruder und Eric verschwunden waren. Thorben ärgerte es, dass es den beiden schon wieder einmal gelungen war, ihn zu überlisten. Missmutig sah er sich um. Weit konnten sie nicht gekommen sein. Hier gab es nur Gras. Kein Busch und kein Baum gaben ihnen Deckung. Ein freudiges Strahlen lief über sein kleines Gesicht, als er erkannte, dass er sich auf einer Böschung befand. Vorsichtig schlich er auf allen Vieren an den Rand. Drauf hatten die beiden Freunde nur gewartet. Deutlich konnten sie Thorbens aufgeregtes Atmen hören. Auf ein Zeichen von Leif hin sprangen sie beide mit einem tierischen Gebrüll aus der Deckung. Thorben prallte zurück und plumpste vor Schreck auf den Hosenboden. Dabei machte er ein so verdutztes Gesicht, dass Leif in prustendes Lachen ausbrach, in das Eric sogleich einstimmte. Sie hatten sich Schlamm ins Gesicht geschmiert und sahen zum Fürchten aus. „Leif, du bist gemein! Wie kannst du mich immer so erschrecken!“, rief er erbost. „Das werde ich Vater sagen!“ „Das tust du nicht. Denn dann werde ich ihm sagen, dass du uns zum Fluss gefolgt bist. Dann gibt es bestimmt eine Kopfnuss!“, erwiderte Leif, völlig unbeeindruckt von der Drohung seines kleinen Bruders. Lars, der Vater der Brüder, lehnte Prügel ab. Nur wenn es seine Jungen einmal zu wild trieben, gab es diese Form der Züchtigung. Das kam jedoch ganz selten vor. Dennoch hatten seine Söhne erheblichen Respekt davor. „Na und!“, rief Thorben trotzig. „Du bekommst dann aber auch eine, weil … weil …“ „Weil was?“, wollte Leif triumphierend wissen. „Weil du immer so gemein zu mir bist!“, fiel Thorben gerade noch ein. Leif lachte laut auf und das trieb seinem kleinen Bruder Tränen der Wut in die Augen. Dass er jetzt auch noch ausgelacht wurde, machte ihn rasend. Mit seinen kleinen Fäusten ging er auf seinen Bruder los. „Eric, hilf mir!“, rief Leif in komischer Verzweiflung und suchte hinter ihm Schutz. Dabei wollte es ihn angesichts der hilflosen Wut seines kleinen Bruders schier vor Lachen zerreißen. Eric hatte mit Thorben ein Einsehen, doch er hatte Mühe, den kleinen Trotzkopf zu bändigen. „Na komm schon. So schlimm war es doch auch wieder nicht!“, beruhigte er den Kleinen und wischte ihm die Tränen von den Wangen. „Du wirst uns doch nicht verpetzen, oder? Du bist doch kein Mädchen!“ Thorben schniefte und schüttelte den Kopf. Für ein Mädchen wollte er nicht gehalten werden, schon gar nicht von Eric. „Du siehst komisch aus“, sagte er und griente Eric in sein schlammbeschmiertes Gesicht. Es war erstaunlich, wie schnell bei Thorben die Stimmung umschlug. „Pass bloß auf! Wenn wir dich in den Schlamm werfen, siehst du gleich genauso aus“, drohte Eric scherzhaft. Thorben sah ihn mit großen Augen an und nahm dann so schnell ihn seine Beine trugen, erschrocken Reißaus. Leif, begeistert vom Vorschlag seines Freundes, war bereits einen Schritt auf seinen kleinen Bruder zugetreten. Aus sicherer Entfernung drehte Thorben seinem Bruder eine Nase und rannte dann ins Dorf zurück. Lachend sahen ihm die beiden Freunde hinterher. Dieses Lachen bewirkte, dass Erics Verzweiflung in grenzenlose Ausgelassenheit umschlug. Jetzt war er es, der Leif zum Wettlauf herausforderte.

Er kam als erster am schrägen Baum an. Noch im Laufen hatte er sein Hemd ausgezogen und kletterte flink wie ein Äffchen den Stamm hoch. Ohne zu stocken, lief er auf einen der oberen Äste und sprang ins Wasser. Prustend kam er wieder an die Oberfläche und winkte Leif, ihm zu folgen. Der ließ sich nicht lange bitten. Er stand bereits auf einem Ast und hatte nur darauf gewartet, dass Eric wieder aufgetauchte. Mit einem großen Platschen landete er dicht neben seinem Freund. Das Wasser spritzte Eric nur so ins Gesicht. Der revanchierte sich bei Leif, indem er ihn untertauchte, kaum dass der Luft geholt hatte. Ihrem ausgelassenen Treiben schlossen sich nach und nach auch die anderen Kinder an. Da standen sie wieder Seite an Seite und es fanden sich sogar ein paar Jungen aus dem Dorf, die sich zu Eric und Leif gesellten. Schließlich lieferten sich die Jungen eine ausgelassene Wasserschlacht. Die Mädchen sahen diesem turbulenten Treiben kichernd zu. Schnell ergriffen sie für die eine oder andere Gruppe Partei, wobei deutlich mehr von ihnen der Gruppe um Eric und Leif die Daumen drückten. Viele Mädchen warfen Eric verstohlene Blicke zu. Doch der interessierte sich, anders als Leif, überhaupt nicht für sie. Auch Jorid gehörte insgeheim zu denen, die Leif den Sieg wünschte, obwohl sie nach außen hin die Nase über das kindische Verhalten der Jungen rümpfte. Nach einer Weile einigten sich die erschöpften Kämpfer auf ein Unentschieden. Zufrieden ließen sie sich in den warmen Sand sinken und von der Sonne trocknen. Es wurde ein vergnüglicher Nachmittag und Eric hatte seit Langem wieder einmal ein paar unbeschwerte Augenblicke genießen können. Als sich die Sonne soweit gesenkt hatte, dass sie die Baumwipfel küsste, machten sich die Kinder munter schwatzend auf den Weg zurück ins Dorf. Dort wurde die Gruppe immer kleiner. Einer nach dem anderen bog auf dem Weg zu seinem Heim ab.

Eric und Leif hatten den weitesten Weg. Die Schmiede und Erics Zuhause lagen am Rand des Dorfes. Eric erstarrte, als sie an dem letzten Haus vorbeiliefen, das den Blick zum Dorfrand verstellte. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er die Menschentraube vor ihrer kleinen Hütte stehen sah. „Mutter!“, rief er und lief los. Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch die Menschen, die ihm den Weg in die Hütte versperren wollten. „Lasst mich durch! Ich muss zu ihr! Mutter!“, schrie er verzweifelt. „Lasst ihn durch!“, befahl eine volle tiefe Männerstimme. Sie gehörte Lars, dem Schmied. Endlich bildeten die Menschen eine Gasse und Eric konnte eintreten. Still lag seine Mutter mit geschlossenen Augen im Bett. Es sah aus als würde sie schlafen. Ihr Gesicht war friedlich und sie schien zu lächeln. „Mutter?“, rief Eric leise. Doch sie rührt sich nicht. Am Boden stand der Teller mit der kalten Suppe und Gwyn stand weinend neben dem Bett. Da wusste er, seine Mutter war tot. „Thore hat ihr das Herz gebrochen“, und „Jetzt hat sie es endlich überstanden“, hörte er jemanden hinter sich sagen. Vor Schmerz betäubt fiel er vor dem Bett auf die Knie und umarmte ihren kalten Leib. Er schämte sich nicht der Tränen, die ihm über das Gesicht liefen. Immer mehr Dorfbewohner drängten in die kleine Kammer, um einen letzten Blick auf Linella zu werfen. Wieder war es Lars, der Eric half. „Geht hinaus. Lasst Eric in Ruhe von seiner Mutter Abschied nehmen.“

Sanft, aber bestimmt bugsierte er die Menschen aus dem Raum und schloss die Tür. Allein mit seiner toten Mutter weinte Eric hemmungslos und legte sein Gesicht auf ihre kalte Hand. Nie wieder würde ihm diese Hand zärtlich über den Kopf streicheln, wie es Linella noch bis zuletzt getan hatte. Krampfhaft rief sich Eric die schönen Erinnerungen an seine Mutter vor Augen, an ihre Liebe, ihre Stimme, ihre Wärme und ihr Lachen, um all dies tief in seinem Herzen zu bewahren. Lars hatte ihm viel Zeit für den Abschied verschafft und doch ging es Eric viel zu schnell, als der Schmied die Tür wieder öffnete und zu ihm in die Kammer trat. „Eric, wir müssen jetzt gehen. Die Frauen müssen sie noch für die Bestattung herrichten. Du bleibst so lange bei uns“, bestimmte er. „Ist sie jetzt glücklich? Sie sieht so friedlich aus“, fragte Eric, als hätte er Lars Worte nicht gehört und wandte ihm hoffnungsvoll sein tränenverschmiertes Gesicht zu. Der schluckte. Er kannte Eric und die tragische Geschichte seiner Mutter nur zu gut. Als Linellas Ende absehbar war, hatten Gwyn und er beschlossen, ihn zu sich zu nehmen. Eric war bereits fast ein Mitglied der Familie geworden. Leif und er klebten wie Pech und Schwefel aneinander und auch ihr jüngerer Sohn Thorben mochte den Freund seines großen Bruders. Väterlich legte er seine schwere Hand auf Erics Schulter. „Ich glaube schon“, antwortete er unsicher. „Sie wird jetzt für immer bei dir sein. Solange du sie nicht vergisst, wird sie in dir weiterleben, so als wäre sie nie krank gewesen“, versuchte er den Jungen zu trösten.

Die Menschen glaubten fest daran, dass die Verstorbenen in einer anderen Welt weiterleben und sie beschützen würden, solange man ihrer ehrend gedachte. Neben den Göttern wurden oft auch die Ahnen bei rituellen Handlungen angerufen. „Aber ich werde sie nie wiedersehen“, flüsterte Eric verzweifelt. „Wieso hat sie mich allein gelassen?“ Tränen schossen wieder in seine Augen. „Eric, du bist nicht allein!“, widersprach Lars. „Du hast Leif und Thorben. Gwyn und ich werden auch für dich da sein. Wir können dir deine Mutter zwar nicht ersetzen, aber du bist nicht allein!“, bekräftigte er. Mit sanfter Gewalt führte er Eric aus der Kammer heraus, vor deren Tür schon die Frauen warteten.

Linellas Bestattung fand am späten Nachmittag des nächsten Tages in dem heiligen Hain statt. Das hatte mit dem Glauben der Menschen in Osiat zu tun. Sie waren davon überzeugt, dass die Seele nach dem Tod eines Menschen in dem toten Körper noch eine Weile weiterlebt. Sie muss so schnell wie möglich befreit werden, damit sie dort keinen Schaden nimmt. Der Leichnam wurde auf einem Scheiterhaufen den Flammen übergeben. Wenn von ihm nur noch Asche übrig bliebe, wäre die Seele frei und könnte noch lebende Angehörige vor dem Unbill des Lebens beschützen. Der Scheiterhaufen, auf dem Erics Mutter in ein sauberes Tuch eingeschlagen lag, war klein und einfach. Das Holz dafür hatten die Dorfbewohner gespendet. Manch einer konnte nur ein Scheit geben, doch es hatte sich niemand nehmen lassen, der unglücklichen jungen Frau auf diese Weise die letzte Ehre zu erweisen. Nur Orun, der Schankwirt, und Lars, der Schmied, konnten etwas großzügiger sein. Um die ganzen Vorbereitungen für Linellas Bestattung hatten sich die Frauen unter Leitung von Gwyn gekümmert, während die Männer den Scheiterhaufen aufgestapelt hatten. Eric hatte die ganze Zeit über wie betäubt in der kleinen Hütte gesessen, die jetzt die Seine war. Da er noch ein Kind war, hatte man ihn mit diesen Arbeiten nicht behelligt. Außerdem sollte er in Ruhe um seine Mutter trauern können. Es gab keinen in Trendhoak, der nicht mit dem Jungen gefühlt hätte. Leif und Thorben hatten sich hinter die Schmiede ihres Vaters verkrochen. Eric hatte niemanden, nicht einmal seinen besten Freund, um sich haben wollen. Wie lächerlich erschien jetzt den Brüdern ihr Streit vom Vortag, den Eric geschlichtet hatte, während seine Mutter im Sterben lag. Auch wenn sie sich freuten, dass er in Zukunft als ihr Bruder bei ihnen leben würde, so waren sie doch ebenso traurig über den Tod seiner Mutter wie er.

Die bereits tief stehende Sonne zauberte ein besonderes intensives Rosa auf die wenigen harmlosen Wolken, als wollte auch sie der jungen Toten einen letzten Gruß entbieten. Mit einer brennenden Fackel in der Hand stand Eric neben dem Scheiterhaufen, während der eilig aus einem Nachbardorf herbeigerufener Priester ein paar Abschiedsgebete für die Verstorbene sprach. In seinen Augen war eine unverheiratete Mutter es nicht wert, seinen Segen für die Befreiung ihrer Seele zu erhalten. Erst als ihm gesagt worden war, wer der Vater ihres Kindes ist, hatte er sich auf den Weg gemacht. Von den Worten des heiligen Mannes drang an Erics Ohr nicht mehr als ein Murmeln. Zu tief saßen der Schmerz und die Erkenntnis, dass er jetzt ganz allein auf der Welt war. Dass ihn Gwyn und Lars bei sich aufnehmen würden und der Gedanke an Leif war der einzige, wenn auch geringe, Trost für ihn in diesen schweren Stunden. Eric schreckte hoch. Das Murmeln hatte aufgehört. Alles wartete darauf, dass er als einziger Familienangehöriger Linellas den Scheiterhaufen anzünden würde. Eric zögerte, den Leib seiner Mutter den Flammen zu übergeben. Zu endgültig erschien ihm der Abschied, wenn er jetzt die Fackel an das Holz legen würde. Es ging ihm alles viel zu schnell. Noch gestern hatte er mit ihr geredet und heute Abend würde von ihr nicht mehr als ein Haufen Asche übrig sein. „Du musst ihre Seele befreien“, redete Lars Eric gut zu und legte dem Jungen seine große schwere Hand auf die Schulter, als wollte er ihm Halt geben. Eric wandte dem Schmied sein tränenüberströmtes Gesicht zu. Es lag eine so tiefe Traurigkeit in diesem Blick, dass sich dem Mann das Herz zusammenkrampfte. Aufmunternd nickte er Eric zu. Mit einem entschlossenen Schritt trat der Junge an den Scheiterhaufen und hielt die Fackel an das trockene Holz. Schnell fraß sich das Feuer von Scheit zu Scheit. Es gab Eric einen Stich, als er sah, wie der verhüllte Leichnam seiner Mutter im Flammenmeer verschwand.

Langsam wandelte sich seine Trauer in Wut. Seine Mutter hatte ihn immer wieder gebeten, ja angefleht, seinen Vater Thore nicht zu hassen. Irgendwann, so hatte sie ihm versprochen, würde der große Gott nach Trendhoak kommen. Er würde ihn als sein eigen Fleisch und Blut anerkennen und sie dafür dankbar in die Arme nehmen, dass sie ihm einen so wunderbaren Sohn geschenkt hatte. Eric hatte diesen Worten seiner Mutter nur schweigend zugehört, ohne ihre Hoffnung zu teilen. Der Stimmungswandel war ihm anzusehen. Sein Körper straffte sich und mit einem zornigen Blick holte er aus. „Eric, nicht!“, rief Lars, der sofort erkannte, was der Junge vorhatte. Doch es war bereits zu spät. In einem hohen Bogen flog die Fackel zu Thores Escalinbaum und blieb brennend am Fuß des Stammes liegen. Gierig leckten die Flammen an der borkigen Rinde. Dem Priester entfuhr ein quiekender Entsetzensschrei, während einige Dorfbewohner zu Thores Heiligen Baum liefen und sich darum bemühten, das Feuer zu löschen. „Er wird den Zorn des großen Gottes über Trendhoak und die ganze Gegend bringen. Jagt ihn fort!“, schrie der Priester hysterisch. Ein zustimmendes Raunen antwortete ihm aus der versammelten Menge und alle Augen richteten sich auf den Übeltäter. Lars stellte sich schützend vor Eric und ballte drohend seine Fäuste. „Hier wird niemand fortgejagt! Der Junge gehört jetzt zu mir!“, stellte er unmissverständlich klar. Die Menschen verharrten. Niemand wollte sich als erster mit dem starken Schmied auf einen Kampf einlassen, der jeden Einzelnen von ihnen mit einem herausfordernden Blick ansah.

Plötzlich fielen alle Dorfbewohner vor Lars und Eric auf die Knie und senkten ehrfürchtig die Köpfe. Selbst die, die das Feuer an dem Escalinbaum gelöscht hatten, verharrten in dieser unterwürfigen Stellung. Verwundert wechselten Lars und Eric einen Blick, da hörten sie hinter sich das Schnauben eines Pferdes. Als sich Lars nach dem Reiter umdrehte, beeilte er sich, die vorgeschriebene Haltung einzunehmen. Vor ihnen stand ein riesiger weißer Hengst und auf ihm saß Thore. Wie aus dem Nichts war er in dem heiligen Hain erschienen. Selbst weit entfernt von Trendhoak, in seinem Palast in Oskan, der Hauptstadt von Amesia, war ihm nicht verborgen geblieben, dass jemand eine Fackel an einen seiner heiligen Bäume gelegt hatte. Sofort war er aufgebrochen, um diesen Frevel zu ahnden. Mit einem wütenden Blick musterte der große Gott die vor ihm kauernde Menge und den Jungen, der nicht daran dachte, sich vor ihm zu verneigen und ihm trotzig ins Gesicht sah. „Warst du das?“, fragte Thore mit dröhnender Stimme und zeigte auf seinen Baum. „Ja Herr! Es war dieser unverschämte Junge“, antwortete der Priester ungefragt. „Bitte straft ihn für diesen Frevel. Uns trifft nur die Schuld, dass wir ihn so lange in unserer Mitte geduldet haben“, fuhr er in seinem Bemühen fort, Thores Zorn ausschließlich auf Eric zu lenken. „Schweig! Wer hat dir erlaubt, das Wort an mich zu richten“, fuhr ihn der große Gott an. Mit einer Hand zielte er in Richtung des Priesters. Den Priester traf ein heftiger Schlag, der ihn von seinem Platz fegte. Halb ohnmächtig blieb der Priester ein ganzes Stück entfernt liegen und wagte nicht, sich zu rühren. Er hatte eines der Gebote im Umgang mit Thore außer Acht gelassen. Kein Mensch durfte das Wort direkt an ihn richten. Nur, wenn der große Gott an jemanden eine Frage stellte, war es überhaupt erlaubt, in seiner Gegenwart den Mund zu öffnen.

Eric stand aufrecht vor seinem Vater. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so groß war. Selbst Lars, für Eric bis dahin der größte und stärkste Mann, den er kannte, wirkte im Vergleich zu Thore zierlich. Das dichte dunkelblonde Haar des großen Gottes wurde von einem goldenen Stirnreif gehalten. Sein kantiges Gesicht wies edle Züge auf. Seine starken Augenbrauen verliehen ihm einen strengen, machtgewohnten Ausdruck. Unruhig tänzelte der Schimmelhengst, als ihm etwas Rauch von dem brennenden Scheiterhaufen in die Nüstern fuhr. Unter dem gekonnten Diktat seines Herrn beruhigte er sich jedoch schnell wieder. „Bist du Linellas Sohn?“, wandte er sich wieder an Eric. Diese Frage war eigentlich überflüssig, wie er selbst feststellte, als er dem Jungen ins Gesicht sah. Der sah seiner Mutter sehr ähnlich, hatte ihre schmalen schönen Gesichtszüge und seine Augen waren, als hätte Thore in einen Spiegel gesehen. „Verschwinde! Du hast sie umgebracht!“, schrie ihn Eric wütend an und die Dörfler hielten vor Schreck den Atem an. Thore gab ein gefährlich klingendes Knurren von sich, packte seinen Sohn am Kragen und hob ihn mühelos auf sein Pferd. Ohne ein weiteres Wort sprengte er davon. Leif war der Erste, der sich von dem Schrecken erholte. Laut den Namen seines Freundes rufend lief er hinter dem Pferd her. Doch es war hoffnungslos. So schnell lief der Hengst, dass er nur noch als weißer Punkt in der Ferne zu sehen war, der auf den letzten Strahlen in die untergehende Sonne zu reiten schien. Leif rannte, bis ihn seine Kräfte verließen und er entmutigt aufgeben musste. Verzweifelt sank er auf die Knie und fragte sich, ob er seinen Freund je wiedersehen würde.

Quondam ... Der magische Schild

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