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Kapitel 6
ОглавлениеSirany kehrte lange nicht in das Lager zurück. Sie brauchte Zeit, um das Gehörte zu verdauen. Sie hatte längst geahnt, was die Männer trieben, wenn sie fort waren. Es aus Elendars Mund zu hören, erschreckte sie zutiefst. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie der sonst so sanfte und ruhige Elendar das Schwert gegen eine Frau erhob.
Sirany spürte, dass sie hier an einem Wendepunkt in ihrer Beziehung angekommen waren. Vorbei war das fröhliche Miteinander, vorbei das unbeschwerte Herumtollen. Sirany war zusammen mit der Wahrheit erwachsen geworden. Als junge Frau musste sie sich nun entscheiden, ob sie das, was Elendar war und was er tat, mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Momentan war sie sich da noch nicht so sicher und somit mied sie den Wald so gut es ging.
Bald schon stieß ihr das Dorfleben auf. Meistens blieb sie zu Hause, denn die Soldaten patrouillierten weiterhin und hielten Ausschau nach leichter Beute. Manchmal besuchte sie Freundinnen, aber es war, als wäre sie eine Fremde unter alten Bekannten. Die Mädchen tratschten über das Dorfleben, schwärmten von jungen Männern oder planten Hochzeiten mit ihren Verlobten.
Sirany konnte da nicht mitreden. Sie wollte keine Hochzeit und fand auch keinen Mann des Dorfes attraktiv. Um nicht als Außenseiter zu gelten, verstellte sie sich. Sie gab vor, den Sohn des Müllers toll zu finden und malte allerhand Unsinn zusammen mit den anderen aus.
Doch aus einem ihr unbekannten Grund fühlte sie sich, als würde sie Elendar bei ihrem Tun verraten.
Während die Mädchen lachten und gackerten, legte Dorin, die Tochter des Metzgers, plötzlich ihr Strickzeug beiseite und blickte Sirany an. Augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen und ein ungutes Gefühl beschlich sie.
»Jetzt mal ehrlich, Sirany. Wir wissen alle, dass du einen Geliebten haben musst«, erklärte sie inbrünstig und augenblicklich wurde es ganz still am Tisch.
Alle Augen wandten sich Sirany zu, die sich unter ihren Blicken unruhig zu bewegen begann.
»Wer soll das denn sein?«, entgegnete sie möglichst unschuldig, doch jede am Tisch hörte das leichte Zittern in ihrer Stimme.
»Keine Ahnung. Das möchte ich gern von dir wissen. Mit wem verschwindest du des Nachts im Wald? Mit wem vertreibst du dir die dunklen Stunden?«
»Mit niemandem, Dorin, wie kommst du denn bloß darauf?«
»Ach, komm schon, Sirany«, entgegnete Ella, ein kleines, unscheinbares Ding.
Sirany hatte vergessen, wessen Tochter sie war, und im Grunde interessierte es sie auch gar nicht. Sie hatte bisher nicht viel mit ihr zu tun gehabt und hatte auch nicht vor, das zu ändern. Schon gar nicht nach den nächsten Worten. »Wir wissen alle, dass du rumläufst wie eine läufige Hündin. Wer dir in die Augen schaut, sieht die Gier nach neuen Sünden. Ständig bist du auf der Suche nach …«
»… nach was?«, unterbrach Sirany sie scharf.
Die Mädchen kicherten und einige machten recht anzügliche Bewegungen. »Nach jemandem, der dich besteigen möchte, nach fleischlicher Befriedigung«, formulierte es Freya, die als Einzige in der Runde verlobt war und dementsprechend auch als Einzige Erfahrung hatte. Beschwörend beugte sie sich über den Tisch und starrte Sirany an, während alle Mädchen mit ihren Blicken an ihren Lippen hingen wie Hündchen an der Zitze ihrer Mutter.
»Du kostest von etwas, von dem du keine Ahnung hast. Sei vorsichtig. Es könnte dich für immer verderben.«
Sie machte eine Kunstpause. Sirany wurde schlecht vor Angst. Was mochte jetzt kommen?
»Männer können grausam sein, mein Herzchen. In der einen Sekunde umgarnen sie dich, sagen dir die herrlichsten Worte, in der nächsten reißen sie dir die Kleider vom Leib, um dich nur wenig später allein zurückzulassen.«
Alle starrten sie an, Sirany nicht minder entgeistert als die anderen. Zum Glück fand sie als Erste ihre Sprache wieder. »Ich kann nichts dafür, dass dir das ständig passiert. Du solltest mal darüber nachdenken, ob es an dir liegt«, entgegnete sie kalt, stand auf und ging so schnell wie möglich aus der Hütte.
Draußen atmete sie tief und zitternd durch und ein fauler Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Elendar war ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sich durchaus körperlich zu ihr hingezogen fühlte, aber er hatte sie niemals, wirklich niemals unsittlich berührt.
Außer das eine Mal im Teich … und das eine Mal unter der Bettdecke, um sie zu wärmen … und das eine Mal nach der Feier und … plötzlich wurde ihr schlecht und sie übergab sich hinterm nächsten Busch.
Zu allem Übel hatte das eines der Mädchen gesehen. Neue Gerüchte begannen zu kreisen und man munkelte, Sirany sei schwanger. Dieses Gerücht erreichte sogar die Ohren ihrer Eltern und Aileen sah sich gezwungen, mit ihrer Tochter zu reden.
»Du weißt, was über dich erzählt wird?«, fragte sie streng.
»Ja.«
»Ist da was Wahres dran?«
»Nein«, sagte sie leise und schluchzte heiser auf. »Ich habe nichts Unrechtes getan, das musst du mir glauben. Mädchen können so grausam sein.«
Ihre Mutter nahm sie in die Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. »Ich weiß, dass dir der junge Mann aus den Wäldern den Kopf verdreht hat. Aber du weißt gar nicht, was er von dir hält. Er ist älter als du, erfahrener, und er wird es nicht beim Händchenhalten belassen. Hast du verstanden? Sei vorsichtig, mein Kind. Er kann gefährlich für dich werden. Und damit meine ich nicht nur deinen Ruf.«
»Was meinst du genau?«
»Die Leute reden, Sirany! Man hat gesehen, wie er zu Kuma ins Schloss gerufen wurde. Zu Kuma! Das bedeutet, dass er den Mann kennt, der dir am gefährlichsten werden kann. Er arbeitet für ihn.«
»Er würde mich nie verraten, Mama. Nie!«
»Hoffen wir es. Es sieht trotzdem für die Dorfbewohner so aus, als würdest du mit dem Feind paktieren. Das kann uns auf Dauer schaden und erregt unangenehme Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die wir vermeiden müssen. Wenn Kuma dich durch Elendar bemerkt, können wir dich nicht mehr retten. Sollte das passieren, kannst du auch nicht auf deinen Freund hoffen. Auch sein Leben liegt in Kumas Händen.«
Sirany bemühte sich, weitere Tränen zurückzuhalten. Ihre Mutter hatte recht. Trotzdem tat es weh, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen. »Wir treffen uns ohnehin nicht mehr. Es ist vorbei«, flüsterte sie und ihr Herz fühlte sich an, als müsste es zerspringen.
Aileen zog daraufhin ihre Tochter in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind. »Ach, mein Mädchen. So jung und schon solche Probleme. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht. Man beobachtet dich auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Wenn du dich und ihn nicht in Gefahr bringen willst, bleib vorerst zu Hause.«
»Find dich damit ab, du hast sie vertrieben«, sagte Sheyn eine Woche später zu Elendar. »Ist auch besser so. Ein Assar gehört zu einer assarischen Frau. Farreyn … pah.« Verächtlich spuckte er auf den Boden. Efnor legte Elendar mahnend eine Hand auf die Schulter, damit dieser sich nicht wutentbrannt auf den anderen Krieger stürzen konnte.
»Sie wird kommen, wenn sie das Problem der Assaren verstanden hat«, sagte Efnor im Brustton der Überzeugung. »Sie wird es verstehen und sie wird kommen.«
Tatsächlich kam sie eines Nachts, allerdings anders als erwartet.
In ihrem Dorf wurde in dieser Nacht eine Hochzeit gefeiert. Die meisten waren schon sturzbetrunken, noch ehe der Priester das Paar getraut hatte. Die Braut war untrüglich schwanger und der Grund der Hochzeit überdeutlich. Sie wirkte auch nicht gerade, als ob sie die Feier wirklich genießen konnte.
Sirany musste an diesem Abend jede Menge Sticheleien über sich ergehen lassen.
»Schaut nur, da ist sie. Sie wird die Nächste sein. Von wem sie wohl schwanger ist?«, und andere miese Andeutungen wurden ihr hinterhergetuschelt. Sirany ignorierte die Tratschtanten weitestgehend und versuchte erst recht, den Jungen auszuweichen. Seitdem sie als leichtes Mädchen galt, war mit ihnen nicht mehr gut auszukommen. Sie hielt sich möglichst nah bei ihren Eltern und verwünschte die närrische Bande um sich herum ein ums andere mal.
Kurz vor Mitternacht verschwand ihr Vater mit einem Bekannten in der Menge und ihre Mutter holte sich etwas zu trinken. Plötzlich stand Sirany allein da und war von einer Horde gackernder Weiber umringt, ehe sie es sich versehen konnte.
»Na, Sirany? Wie geht es dir heute?«
Dorin kam herbei. Sie war ein Jahr älter als Sirany und zog sie dennoch wie ein kleines Kind an ihrem geflochtenen Zopf.
»Und was macht dein kleiner Bastard?«
Sirany schlug Dorins Hände wutschnaubend fort und blitzte sie mit funkelnden Augen an.
»Lass das«, fauchte sie und der drohende Kreis aus Mädchen schloss sich um sie herum.
»Du bist eine Hure«, zischte jemand in ihr rechtes Ohr.
Sie wich nach links aus. Auch da stand ein Mädchen und wisperte das Gleiche.
»Lasst mich. Sucht euch eine andere, die ihr quälen könnt.«
Siranys Stimme schwankte zwischen Wut und Furcht. Sie versuchte aus dem Kreis herauszukommen, doch die Mädchen standen zu dicht um sie herum.
Irgendwer fing an, ihr einen Stoß zu geben, und sie taumelte einen kleinen Schritt nach vorn. Dort stieß sie jemand zurück und plötzlich kreiselte sie wie ein hilfloser Ball zwischen kneifenden, stoßenden und schmerzhaft schlagenden Händen umher.
Und dann reichte es Sirany. Ehe eines der Mädchen reagieren konnte, hatte sie Freya in der Menge ausgemacht und sie zu ihrem Opfer auserkoren. Blitzschnell packte sie zu, vergrub ihre eine Hand in ihren Haaren und schnappte sich eines ihrer Handgelenke. Einige Hebelgriffe später lag das andere Mädchen schreiend und sich windend in Siranys stahlhartem Griff und konnte sich nicht rühren.
»Hör auf zu zappeln oder ich kugele dir den Arm aus«, zischte Sirany drohend. Die Mädchen wichen einen Schritt vor ihr zurück, während Freya vor Schmerz zu quieken anfing.
»Lasst mich endlich in Ruhe, ihr Furien, oder euch allen geht es nicht besser als diesem Miststück hier.«
Sie riss schmerzhaft an Freyas Haaren und ihr Opfer schrie entsetzt auf, als sie den anderen Mädchen ein Büschel ausgerupfter Locken entgegenhielt. Sirany starrte die anderen einen Moment hasserfüllt an, dann gab sie Freya einen Stoß und das Mädchen taumelte gegen ihre Freundinnen.
Sirany beeilte sich, durch die entstandene Lücke zu entkommen, und rannte, was ihre Beine hergaben. In letzter Sekunde bemerkte sie einen der Wächter am Dorfrand, entging ihm um Haaresbreite, überquerte den Fluss in mehreren gewagten Sprüngen von Stein zu Stein, rannte hinein in den Wald und verkroch sich unter der Wurzel eines umgestürzten Baumes.
Hier rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und weinte.
Es war Efnor, der Elendar in der Nacht weckte.
»Sirany ist im Wald und weint. Ich habe sie bei einem meiner Rundgänge gefunden. Sie weiß nicht, dass ich sie gesehen habe«, sagte er leise zu seinem Anführer.
Der war schneller auf den Beinen, als Efnor gucken konnte. Sekunden später waren sie auch schon unterwegs.
»Was macht sie zu dieser Zeit im Wald?«, fragte Elendar besorgt.
»Keine Ahnung. Das musst du sie schon selbst fragen.«
Genau das hatte Elendar vor. Als sie in die Nähe des besagten Baumes kamen, blieb Efnor zurück. Elendar bedankte sich stumm mit einem Nicken. Dann trat er auf die zusammengerollte Gestalt zu und zog sie aus dem Erdloch.
»Es ist gefährlich, sich unter einen entwurzelten Baum zu legen«, schalt er sanft und zog die weinende junge Frau zu sich auf den Schoß. »Man weiß nie, wie viel Spannung noch in dem toten Ding ist. Der Baum könnte zurückschnappen und dich unter seiner Wurzel zerquetschen.«
»Weißt du, wie egal mir das im Moment ist?«, schniefte Sirany.
Wie selbstverständlich legte sie beide Arme um seinen Hals und weinte an seiner Schulter. Ihre Berührungen ließen Elendar atemlos werden und ihr Duft verlangsamte sein Denken. Hastig konzentrierte er sich auf die Tatsache, dass sie offensichtlich sehr traurig war.
»Was ist passiert?«, fragte er sanft und erhielt zunächst keine Antwort. Nach einer Weile kam ein geschnieftes: »Ich hab dich vermisst«, was er sich zunächst einzubilden glaubte. Dann lächelte er. »Ich dich auch. Verzeih mir meine harschen Worte.«
Sirany lehnte sich zurück, um ihn besser sehen zu können. »Wirst du mich an Kuma verraten?«, fragte sie. »Falls er dich unter Druck setzt? Mit was auch immer? Ich wäre ein interessantes Geschenk für ihn.«
»Ich würde dich niemals verraten. Nie! Und schon gar nicht auf diese Weise.«
Sirany sah ihm eine Weile forschend in sein Gesicht und nickte beruhigt. »Meine Mutter macht sich deshalb große Sorgen. Sie sagt, dass du mit den falschen Leuten verkehrst und gefährlich für mich bist. Dieser Brief, den du bekommen hast. Er kam aus dem sharischen Königsschloss, nicht wahr? Das allein zeigt, dass an den Gerüchten was dran sein muss. Du kennst zu viele Shari und arbeitest für sie.«
»Deine Mutter ist eine kluge Frau. Sie hat recht. Ich arbeite mit Männern zusammen, die nicht besser sind als dieser Dreck unterm Baum. Ich muss aber für sie arbeiten. Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich nicht für ein Bauernmädchen interessieren, solange sie nicht sehen, wie hübsch du bist.«
Sirany spürte, dass das nicht die volle Wahrheit war. Elendar war unwohl zumute. Sie hatte etwas angesprochen, was ihm selbst Sorgen bereitete. Etwas, das er ihr verheimlichen wollte. Sie nahm sich fest vor, herauszufinden, was genau das war. Welche Art von Verbindung unterhielt er zum Königshof? Was war das für ein Spion, der ihm Warnungen zukommen ließ?
Zunächst war sie froh, Elendar zurückzuhaben. Sie ließ sich erneut in seine Arme sinken und gestattete sich einen Moment, um sich auszuweinen. Die Gemeinheiten der Dorfmädchen steckten ihr tief in den Knochen. Sie hatte nicht erwartet, an dieser Front kämpfen zu müssen. Allerdings hatte sie den Streit gewonnen. Schon allein deswegen hatte sich Elendars Training bezahlt gemacht.
Sirany besuchte die Assaren von Stund an wieder. Es war ihr egal, was die anderen sagten, dachten oder schnodderig behaupteten. Sie fühlte sich in ihrem Dorf wie eine Gefangene und das Lager war ihr Zufluchtsort.
Schließlich hörte das Gerede auf. Das hatte zum einen damit zu tun, dass das Thema langweilig wurde, und zum anderen damit, dass auch die Mädchen begriffen, wie gefährlich ihr Getratsche sein konnte. Sirany ging zu einem Assaren. Zu einem Mann im Wald. So jemanden wollte man nicht verstimmen.
Das Verhältnis zwischen Elendar und Sirany normalisierte sich wieder. Elendar gab ihr wie zuvor Unterricht und sie brachte ihn als Gegenleistung zum Lachen. Das leichte Prickeln zwischen ihnen erwähnte keiner von beiden. Sie waren Freunde. Mehr nicht. Das redeten sie sich zumindest ein.
Nach ein paar weiteren Wochen schaffte Sirany es sogar, dass Elendar ein klein wenig aus seinem früheren Leben erzählte. Leider war es verworren und unzusammenhängend, da er die Hälfte ausließ und Sirany sich den Rest selbst zusammenreimen musste.
Er hatte zwei Schwestern gehabt. Die eine hieß Cloey und war gestorben. Woran, ließ er sich partout nicht aus der Nase ziehen. Sobald dieses Thema auch nur im Ansatz aufkam, blockte er ab und wechselte es geschwind. Die andere Schwester hieß Caina und lebte momentan in sharischer Gefangenschaft. Er schien ein sehr herzliches Verhältnis zu ihr gehabt zu haben.
»Sie war so schön wie die Morgenröte. Wenn sie den Raum betrat, wurde dieser ein Stückchen heller. Sie hatte braune Locken und weigerte sich, sie zusammenzubinden. Abends weinte sie oft, wenn Mutter sie kämmte, denn ihre Haare waren hoffnungslos ineinander verknäuelt. Danach brauchte ich meist mehrere Minuten, um sie wieder froh zu stimmen.«
»Und dein Vater? Erzähl mir von deinem Vater.«
»Er war ein Krieger und ein Bauer. Morgens hat er mit mir geübt. Schwertkampf, Bogenschießen, Selbstverteidigung, halt die Sachen, die wir gerade tun sollten.«
Statt zu trainieren, lagen sie nebeneinander im Laub der Bäume und starrten hinauf zu den Kronen, die sich wie ein mächtiges Dach über sie erstreckten. Der Himmel war nicht zu sehen.
»Sobald der Hahn krähte, rief uns meine Mutter herein und wir frühstückten. Danach ging ich meist zu unserem Dorfältesten, der uns ein wenig in den weltlichen Dingen unterrichtete und uns Lesen und Schreiben lehrte. Mein Vater ging in dieser Zeit allein aufs Feld oder kümmerte sich um Haus und Hof. Ab Mittag wurden die Mädchen bei uns unterrichtet und wir Jungen wurden zur Feldarbeit geschickt. Ich musste meistens die größeren Steine von unseren Feldern tragen. Es ist mühsam, in unseren Bergen etwas anzubauen. Das Geröll wächst dort wie Pilze aus dem Boden. Und wenn ich genug Geröll geschleppt hatte, war es meist später Nachmittag. Dann wurde ich zum Spielen nach draußen geschickt. Hauptsache, ich bewegte mich noch ein wenig, sonst wurde ich abends nörgelig und wollte nicht ins Bett.« Jetzt grinste Elendar breit.
»Wie alt warst du da?«
»Fünf oder sechs. Als ich acht Jahre alt wurde, habe ich meine Ausbildung zum Dachdecker angefangen.«
»Du warst Dachdecker?«
Siranys Augenbraue wanderte bis unter ihren Haaransatz und ihr Unglauben beleidigte Elendar beinahe.
»Nicht wirklich. Wie gesagt. Ich fing die Ausbildung erst an. Bei uns bestehen die Dächer aus Stroh. Kinder sind schön leicht und können daher die Dächer am ehesten mit Stroh auslegen. Das ist keine besonders anspruchsvolle Arbeit. Wenn man diese Ausbildung hinter sich gebracht hat, wird einem beigebracht, ganze Hütten zu bauen. Dazu gehört Bäume fällen, Zersägen, Zurechtschneiden, Zusammenzimmern … halt das Übliche.«
»Aber?«
»Was, aber?«
»Du hast diese zweite Ausbildung nicht mehr gemacht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Die Shari kamen, Sirany. Da brauchten wir niemanden mehr, der die Dächer mit Stroh auslegen konnte, weil es keine Häuser mehr gab, die es zu bearbeiten galt. Wir brauchten auch niemanden mehr, der Hütten bauen konnte, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte bewohnen können.«
Ein kurzes Schweigen folgte.
»Ich hasse es, wenn du das machst.«
»Was?«
»In einer Sekunde erzählst du mir etwas über deine glückliche Kindheit, in der nächsten haust du mir den Tod um die Ohren.« Sirany seufzte tief. »Ich bin selbst schuld. Was frag ich auch so dumm.«
Elendar starrte blicklos hinauf zu den Bäumen und wirkte regelrecht entrückt.
»Meine Kindheit endete leider sehr abrupt mit dem Eintreffen der Shari. Es gab keinen sanften Übergang. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so wie bisher.«
»Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig.«
»Und wann kamen die Shari?«
»Da war ich acht.«
»Deine Eltern starben bei dem Angriff?«
»Ich nehme es an.«
Wie immer gestaltete sich ein Gespräch mit Sirany urplötzlich zu einer Frage- und Antwortstunde und Elendar fühlte sich wie bei einem Verhör, nur ohne Folter.
»Das weißt du nicht? Warum weißt du das nicht?«
Elendar schloss die Augen, um die Welt oder auch den Schmerz auszublenden. »Ich habe meinen Vater nie wiedergesehen. Deshalb nehme ich an, dass er bei dem Angriff ums Leben kam oder danach umgebracht worden ist. Es ist egal, denn er lebt auf keinen Fall mehr. Meine Mutter … ich weiß es nicht. Lass gut sein, Sirany.«
Mit einem Ruck richtete er sich auf und stand auf. Sie war zu weit gegangen. Seufzend erhob auch sie sich aus dem Laub und klopfte sich die Kleider ab.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was man als Achtjähriger empfinden muss, wenn die ganze Familie auf einmal nicht mehr da ist. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, was ich machen sollte, falls meinen Eltern etwas zustoßen würde.«
»Dann würdest du bei mir bleiben«, sagte Elendar leichthin.
Während Sirany ihn mit offenem Mund anstarrte, warf er ihr auch schon ihren Bogen hin. »Na los, du faules Tier. Du musst noch viel lernen.«