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Kapitel 10

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Elendars Reitergruppe erreichte sieben Tage später Attenge, die nördlichste Region von Farreyn. Hier hatte sich eine Rebellengruppe formiert, die sich weiterhin energisch zur Wehr setzte.

Elendar und seine Männer gingen mit einer Brutalität zu Werke, die für die Assaren völlig untypisch war und ihnen weitere schauerliche Mythen einbrachte.

Sie fuhren über die erschrockene Rebellenschar wie eine wütende, alles verschlingende Feuersbrunst und hinterließen nichts als Asche und Rauch. Das Ganze dauerte nicht länger als zwei Wochen. Dann war von dem Aufstand nichts mehr übrig als ein kurzer Bericht in den Geschichtsbüchern.

Kaum waren die Rebellen als vernichtet erklärt, brachen die Assaren auf und ritten wie die Teufel gen Westen, zurück in ihre Heimat. Sie galoppierten durch die Wälder Farreyns, ohne die Schönheit dieser Welt zu sehen, passierten Koruns Grenze und preschten über seine endlosen Weiden. Schließlich wurde der Weg steiniger, steiler und sie erreichten das Hochland. Assanien. Ihre Heimat. Einige von ihnen hatten sie seit dreizehn langen Jahren nicht gesehen.

Nach dem Überfall auf das assarische Dorf vor vielen Jahren waren die meisten Frauen und Kinder getötet oder verschleppt worden. Einige hatten jedoch fliehen können. Sie hatten sich in den Bergen versteckt und auf jene Männer gewartet, die auf dem Schlachtfeld kämpften. Es waren so schrecklich wenige gewesen, die zurück­kehrten. So wenige.

Als die überlebenden Krieger sahen, was aus ihren Familien geworden war, weinten sie bitterlich. Anschließend ergaben sie sich – um der Frauen und Kinder willen, die in Gefangenschaft geraten waren. Jene, die hatten fliehen können, versteckten sich in den Bergen, tauchten unter, um nicht ebenfalls zu Geiseln zu werden. Alexej wusste natürlich darum. Hier aber zeigte er sich großzügig. Er erlaubte ihnen zu leben, solange sie sich nicht bemerkbar machten.

Bei den Kriegern war er weniger barmherzig. Die meisten büßten die Kapitulation mit ihrem Leben ein. Den Rest der Krieger zwang Alexej unter seine Herrschaft. Die Bedingung: unbedingter Gehorsam. Sonst starben die Geiseln.

Somit wurde Elendars kleine Reiterschar eine von vielen, die in Alexejs Auftrag Morde ausführte. Sie alle waren an jene verhasste Bedingung gebunden. Es gab kaum jemanden, der nicht einen gefangenen Verwandten hatte.

Die Assaren durften diese Verwandten jedes Jahr einmal sehen. Bei den freien Assaren in den Bergen sah die Sache leider anders aus. Einige von ihnen hatten sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen.

Aber jetzt, jetzt war es so weit. Elendars Männer durften den Teil ihrer Freunde sehen, die frei in den Bergen lebten.

Es war ein freudiges Ereignis und ein merkwürdiges Gefühl, wieder heimzukehren. Allerdings kam Elendar nicht mit zum Wiedersehen. Er blieb am Fuße des Berges stehen, als seine Männer bereits freudestrahlend den Hang hinaufliefen.

Dort oben erwartete ihn niemand mehr. Bekannte vielleicht, möglicherweise auch gute Freunde, die sich über sein Überleben gefreut hätten. Aus seiner Familie war niemand mehr am Leben.

Efnor bemerkte sein Zurückbleiben und kehrte zu ihm um. »Komm«, sagte er und bot seinem Freund auffordernd die Hand.

Elendar drehte sich schweigend fort. »Ich habe dir noch gar nicht gesagt, was Raell mir über deine Tochter erzählt hat.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Sie kümmert sich jetzt um die kleine Tochter von Sabrin.«

Als sich Elendar wieder umdrehte, hatte Efnor Tränen in den Augen. »Es tut mir so leid für dich, Elendar. So leid.«

Dann hastete auch Efnor den Hang hinauf, um seiner Frau das zu erzählen, was er soeben erfahren hatte.


Die Assaren blieben in dem einsamen Bergdorf, solange es ihnen möglich war. Sie prägten sich jede Sekunde dieser glücklichen Zeit in ihre Gedächtnisse ein, um sie in Zeiten tiefster Verzweiflung hervorzuholen. Hoffnung wuchs in ihren Herzen und gab ihnen Kraft, die erneute Trennung zu überstehen.

Das Wetter war mild. Keine Regenwolke trübte den Himmel und die Sonne schickte ungehindert ihre warmen Sonnenstrahlen auf die Erde. Nur der kühle Wind des Hochlandes brachte etwas Kälte mit sich. Efnor lief daher wieder mit seinen tausend Lagen Pelz herum.

Für Elendar war es eine Zeit, in der er sich in Ruhe über seine Gefühle klar werden konnte. Einsam ritt er durch seine alte Heimat, hinüber zum alten Dorf, das vor dreizehn Jahren in den Flammen der Shari aufgegangen war.

Die Umrisse jener Hütte, in der er und seine Familie acht Jahre gelebt hatten, waren kaum zu erkennen. Er brauchte eine Weile, um die Stelle zu finden. Sein Familienheim war jetzt fast vollständig von Unkraut überwuchert. Eine riesige Erle war in der Mitte des Hauses emporgeschossen und überspannte das eingestürzte Dach wie ein zweiter Schutzwall.

Elendar blieb lange dort, ging von Haus zu Haus und erinnerte sich an die glücklichen Tage seiner Jugend. Er schaffte es sogar, nicht an den Überfall zu denken, der sein Leben schließlich zerstört hatte. Statt­dessen konzentrierte er sich einzig und allein auf die schönen Momente.

Er sah sich als Junge, wie er Steine vom Feld sammelte und dabei über diese undankbare Aufgabe schimpfte. Jetzt hätte er alles dafür getan, um diesen Moment erneut erleben zu können. Denn das würde bedeuten, dass auch seine Familie noch am Leben wäre.

Er sah sich, wie er seiner Schwester Caina an den langen Zöpfen zog oder Cloey mit hinunter zum Bach schleppte, um sie dort zu waschen. Sie zappelte und schrie in seinen Armen, denn das Wasser war kalt. Seine Mutter rief ihn zum Abendbrot und die ganze Familie versammelte sich um den alten, von zahlreichen Mahlzeiten ganz fleckig gewordenen Essenstisch.

Sein Vater saß am Ende der Tafel. Die langen Haare reichten ihm bis weit über die Schultern und er hatte sie an den Schläfen zu zwei kleinen Zöpfen geflochten. Sein Bart wurde allmählich grau. Seine Augen glitzerten voll jugendlichem Übermut, sobald er seine Frau ansah. Elendars Mutter war kurz vor dem Überfall rundlich geworden, und Elendar hatte lange Jahre darüber nachgedacht, ob sie schwanger gewesen sein mochte. Dieses Geheimnis hatte sie allerdings mit in ihr Flammengrab genommen.

Schließlich war es Zeit, zu seinen Männern zurückzukehren. Schweren Herzens saß er auf und lenkte sein Pony fort von den alten Zeiten, hinauf in die Zukunft.

Der kleine zähe Wallach schlug einen fröhlichen Trab an und stolzierte mit wehendem Schweif über die Hochebene. Auch er musste spüren, dass er zu Hause angekommen war, obwohl er seine Heimat noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Das Moos unter seinen Hufen federte sanft, der Wind wehte in seine Nüstern und spielte mit seiner Mähne. Er war zu Hause und glücklich.

Auch Elendar genoss diesen kurzen Weg hinauf ins neue Dorf. Doch als er es betrat, erdrückte ihn die Last seiner Aufgabe mit einem Mal.

Die neuen Häuser waren fast nach dem Ebenbild der alten, zerstörten Bauten errichtet worden. Strohdächer glänzten in der Sonne wie schimmerndes Gold und das leise Knarren der Holzwände vermischte sich mit dem Duft der Blumen in den liebevoll gepflegten Vorgärten. Fast vor jedem Haus war ein schwarzes Kreuz errichtet worden zum Andenken an getötete oder verschleppte Verwandte.

Neben jedem dieser Kreuze steckte ein Schwert bis zur Hälfte der Klinge in der Erde. Die Toten waren noch nicht gesühnt worden, die Blutschuld offen.

Elendar wurde still von den Dorfbewohnern begrüßt. Man reichte ihm Essen und Trinken und lud ihn zu sich ein, doch er lehnte ab und antwortete sanft: »Holt bitte meine Männer. Wir müssen wieder fort.«

Es dauerte nicht lange, da saßen die Assaren wieder auf ihren Ponys, ausgestattet mit neuen wollenen Umhängen und frischem Reiseproviant. Auch Elendar überreichte man neue Kleidung. Er nahm diese Dinge dankbar an, legte nach fast sieben Jahren seinen alten Mantel ab und ersetzte ihn durch einen neuen.

Erst danach verließen sie das Dorf, winkten zum Abschied und trieben ihre Ponys zu einem raschen Trab, um möglichst schnell ihre Lieben zurückzulassen.

So manch einer kämpfte still mit seinen Tränen, aber niemand machte Anstalten umzukehren. Die Pflicht ihren gefangenen Verwandten gegenüber ließ ihnen keine andere Wahl, als in den Dienst der Shari zurückzukehren.

Bald erreichten sie das riesige Heerlager. Es lagerte an der Grenze zwischen dem Land Korun und ihrer alten Heimat Assanien. Überall dort, wo die Soldaten der Shari ihre Zelte errichtet hatten, war die Erde zu Schlamm aufgewühlt worden. Alles war braun und trist, das Gras schon lange tot.

Genau wie sie das Gras zerstörten, zermalmten sie auch fremde Kulturen.

Der Anführer der Armee hieß Samell Mi. Mit knirschenden Zähnen begrüßte er die Neuankömmlinge und gab ihnen einen Platz am hintersten Ende des Heeres. Sollten die Assaren doch den Staub seiner Männer schlucken.

Samell Mi hasste es, Angst zu haben, und weil er vor den Assaren Angst hatte, hasste er die Assaren. Das war eine ganz einfache Gleichung für ihn, mit der er jahrelang gut gefahren war.

Elendar machte sich nicht die Mühe zu protestieren und führte seine Männer direkt an die ihnen zugewiesene Position. Dann warteten sie gemeinsam, bis sich das schwerfällige Heer in Gang setzte. Sie folgten dem zertrampelten Pfad.

Es war ein langer, kräftezehrender Marsch. Ab und zu ließ der Kommandant haltmachen, um Truppen vorauszuschicken, die die angrenzenden Dörfer überfielen. So kamen sie an das Essen für die vielen Soldaten.

Wenn die Assaren durch die brennenden Dörfer ritten, sahen sie anstatt der lebendigen Bewohner nur Leichen.

Die meisten der Männer schliefen in den Sätteln ihrer Ponys. Ein Nachtlager gab es nicht, höchstens kurze Essenspausen. So war es kaum ein Wunder, dass die riesige Schar schnell vorankam. Fuß­soldaten gab es nämlich nicht.

Elendar machte in all dieser Zeit nicht einmal die Augen zu, sondern hielt stets eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt. Er misstraute der Ruhe.

»Mir gefällt die Route nicht, die wir einschlagen«, vertraute er irgendwann Efnor an, der neben ihm ritt.

Der alte Assar führte Rais störrische Stute an der Führleine, damit sie ihren schlafenden Reiter nicht unauffällig absetzte.

»Wir nehmen direkten Kurs auf Attenge. Von dort aus werden wir in das Land der Niehren vordringen. Was gefällt dir daran nicht?«

»Wenn wir so weiterreiten, kommen wir direkt an Siranys Dorf vorbei.«

Efnor rechnete nach. In Gedanken verlängerte er den vor ihnen liegenden Weg und kam zum gleichen Schluss. »Verdammt.«

Mit jeder verstreichenden Stunde wurde Elendar nervöser. Der Kommandant machte keine Anstalten, von seiner Route abzuweichen. In spätestens zwei Tagen würden sie Siranys Dorf erreicht haben. Elendar bezweifelte, dass sie diese Menschensiedlung anders behandeln würden als die anderen. Wenn dem so war, befand sich Sirany in unmittelbarer Gefahr.

Seine Sorge übertrug sich auf seinen Wallach, der nach kurzer Zeit übellaunig und schreckhaft war. Unruhig bewegte er sich unter seinem Reiter und kämpfte mit den Zügeln.

Nach einem weiteren Tag entschloss sich Elendar zu handeln. »In der Abenddämmerung breche ich aus der Armee aus und reite voraus.« Nervös spielte er mit den Zügeln in seinen Händen. »Ich warne die Dorfbewohner und komme so schnell wie möglich wieder zurück. Sie haben dann noch ein paar Stunden, um sich zu verstecken.«

Efnor sah ihn entsetzt an.

»Elendar, du kannst dich kaum im Sattel halten. Dein Pony ist erschöpft und einem Gewaltritt nicht gewachsen. Außerdem kommt erschwerend hinzu, dass du gesehen werden könntest. Wenn das passiert, bringen wir alle in Gefahr. Sirany, unseren Trupp und unsere Familien!«

Natürlich hatte Elendar diese Risiken bereits gegeneinander abgewogen und war zu dem Entschluss gekommen, es dennoch zu wagen. Er sah seinen Freund an und blickte ihm tief in die Augen. »Caina und ich waren die einzigen Überlebenden meiner Familie. Jetzt bin ich der letzte. Mich bindet nichts mehr an die Hände der Shari.«

Efnor glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Solche Worte jemals aus dem Mund seines Anführers zu hören, hätte er niemals erwartet.

»Das Versprechen deinem Volk gegenüber bindet dich.«

»Und ich werde mein Bestes geben, um es einzuhalten.« Elendars Blick wurde flehend, fast verzweifelt. »Versteh mich bitte, wenn ich das Einzige, was mir noch lieb ist, schützen möchte.«

Es war das erste Mal, dass Elendar seinem Freund gegenüber zugab, etwas für Sirany zu empfinden.

»Dann musst du tun, was zu tun ist«, sagte der Assar leise. Elendar dankte ihm still und trieb sein Pony unverzüglich so unauffällig wie möglich an den Rand des Menschenheeres. Nur wenige Minuten später fand man ihn nicht mehr zwischen den Assaren. Er hatte still und heimlich seinen Platz verlassen, ohne je gesehen worden zu sein.

Erst als er sich so weit von den Augen der aufmerksamen Wachen entfernt hatte, dass sie ihn bestimmt nicht mehr erblicken konnten, gab er seinem Pony die Sporen. Das Tier legte seine Ohren widerwillig an und fiel in einen langsamen Galopp. Eine Weile duldete Elendar dieses Tempo, dann erhöhte er es.

Die Reitertruppen, die Samell Mi zur Brandschatzung der Dörfer vorausschickte, waren schnell. Sie saßen auf ausgeruhten und flinken Pferden, die für lange Distanzen gezüchtet worden waren.

Die Gebirgspferde der Assaren fanden ihre Stärken eher in ihrer Ausdauer und Wendigkeit als in ihrer Schnelligkeit. Deshalb trieb Elendar den Wallach rücksichtslos an, bis dieser voller Panik über das kurze Grasland stob.

Keine zwei Stunden später schickte Samell Mi fünfzehn seiner besten Männer los, um sich des Dorfes anzunehmen, das unweit vor ihnen lag. Er kannte es aus einer alten Schlacht und wusste genau, wo es zu finden war.

Elendar brauchte lange, bis er auch nur in Siranys Nähe kam. Der Tag zog dahin und die Sonne versank hinter dem Horizont, doch der Assar hatte keinen Blick für das wunderschöne Lichtspektakel am Himmel. Sein Wallach schnaufte mittlerweile wie ein verendendes Tier, dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er blieb mit zitternden Flanken stehen.

Seufzend stieg der Assar ab und führte das Pony in ein nahes Wäldchen, band es dort an einen Baum und ließ es zurück. Der Assar hatte kaum Hoffnung, es später lebend vorzufinden. Wahrscheinlicher war, dass es dort verenden würde.

Jetzt konnte sich Elendar lediglich auf seine eigene Schnelligkeit verlassen. Er begann einen wilden Wettlauf mit den langen Beinen der heraneilenden Reiterschar. Diese war nur eineinhalb Stunden von ihm entfernt.

Die Nacht eilte ihm zu Hilfe, denn in der Dunkelheit verlangsamten die Krieger zur Sicherheit ihrer Pferde das Tempo. Elendar hingegen fand sich auch in der Nacht wie eine Katze zurecht.

Die Angst um Sirany trieb seine Beine zur Höchstleistung an, sein Herz schlug im Rhythmus seines Atems. Er spürte die Nähe der Gefahr und eilte ihr voraus, in der Hoffnung, rechtzeitig anzukommen.

Dann erreichte er völlig entkräftet das Dorf, stolperte zwischen den ihm so vertrauten Häuserzeilen hindurch und erreichte zitternd vor Schwäche Siranys Heim.

Der Gesang des Sturms

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