Читать книгу Der Gesang des Sturms - Liane Mars - Страница 28
Kapitel 11
ОглавлениеSirany wurde davon wach, dass jemand mit unglaublicher Wucht gegen die Tür schlug. Augenblicklich saß sie senkrecht im Bett, sprang auf und jagte die Treppe hinunter.
Ihr Vater hatte die Tür bereits erreicht. Er hatte einen dicken Ast in der Hand, den er nun drohend hob. Mit der anderen Hand drückte er misstrauisch die Klinke hinunter. Seine Tochter trat neugierig neben ihn, die Muskeln gespannt, jederzeit bereit, ihrem Vater zu Hilfe zu eilen.
Wen immer sie vor der Tür auch erwartet haben mochte, Elendar war es gewiss nicht gewesen. Er sah aus wie der leibhaftige Teufel, über und über mit Schlamm bespritzt. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich hektisch und sein Atem rasselte hörbar in der Lunge.
Am schlimmsten waren seine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und wie dunkle Schatten ihrer selbst wirkten. Sie erzählten von zu wenig Schlaf und zu viel Anspannung.
Ehe ihr Vater es überhaupt begreifen konnte, flog Sirany bereits an seiner Seite vorbei und fiel dem erleichterten Elendar um den Hals. Elendar zog sie in seine Arme und hielt sie eine Weile eng umschlungen, während er versuchte, zu Atem zu kommen.
»Mein Gott, Elendar, was machst du hier?«, fragte Sirany schließlich und löste sich von ihm.
Er zitterte vor Anstrengung am ganzen Körper und fühlte sich heiß und klamm zugleich.
»Ihr müsst fliehen, sofort«, keuchte er mühsam.
Sirany sah ihn mit großen Augen an.
»Die Shari sind im Anmarsch auf euer Dorf. In spätestens einer Stunde haben sie euch erreicht.« Schweiß rann ihm von der Stirn und er wischte ihn ärgerlich fort. »Weckt die anderen. Ihr müsst euch im Wald verstecken, sonst droht euch der Tod.«
Sirany brauchte nur Sekunden, um das Gehörte zu verstehen. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund und blickte ihren Vater ängstlich an. Der reagierte sofort. »Weck du Mutter, ich gehe zu den Nachbarn.« Kurz wandte er sich Elendar zu. »Was können wir für Euch tun?«
»Nur etwas Wasser bitte.«
Sirany eilte ins Haus und holte ihre Mutter. Anschließend rannte sie in die Küche und brachte dem völlig erschöpften Elendar einen Becher Wasser. Der Assar hatte sich mittlerweile auf den Boden der Veranda gesetzt und versuchte seine zitternden Muskeln zu beruhigen.
Das Dorf erwachte in der Zeit zum Leben, in der Elendar das kühle Nass seine Kehle hinunterstürzte. Sirany beobachtete ihn dabei und ließ sich neben ihn auf die Knie herab. Sie sahen einander lange schweigend an.
Erschrockene Rufe durchdrangen die Nacht. Die Menschen strömten auf die Straße, nur mit wenigen Habseligkeiten beladen. Keiner zweifelte an der Neuigkeit und somit verging nur kurze Zeit, bis die ersten Menschen zum Waldrand eilten.
Elendar schloss für einen Moment die Augen und horchte in die Dunkelheit. Es dauerte nicht lange, da hatte er gefunden, wonach er suchte. Die Reiterei würde gleich das Dorf erreicht haben.
Er war zu spät gekommen, denn Sirany saß noch neben ihm. Sie hatte sich nicht in Sicherheit bringen können.
Wut stieg in ihm hoch, als er seine Augen wieder öffnete und ihre schöne Gestalt erblickte. Sie wirkte so verletzlich und zart. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah.
Entschlossen stand er auf und zog in der gleichen Sekunde das Schwert aus der Scheide. Man mochte seine Schwester getötet haben, aber Sirany würden sie nicht bekommen.
»Was tust du?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
In der gleichen Sekunde hallten die ersten Angstschreie durch die Häuserzeilen. Die Reiter hatten das Dorf erreicht.
»Hol den Bogen, den ich dir angefertigt habe, und bring die Leute in Sicherheit. Ich kümmere mich um die Reiter.«
»Du kannst keine zwanzig Mann allein erledigen«, protestierte sie.
»Geh.«
Sirany sah ihn an, zögerte einen Moment. Letztlich trat sie entschlossen vor ihn und gab ihm einen sanften Kuss. Es war nur ein flüchtiger Kuss. Dafür war er umso süßer. Sanft, zärtlich, ein Versprechen. Elendars Lippen schmeckten nach Salz und Wind, sie sprachen von Wärme und Zärtlichkeit. Sie waren wie ein Zuhause.
Sirany riss sich jedoch rasch wieder los. Es war jetzt keine Zeit für Gefühle. Sie huschte ins Haus, holte ihren Bogen und ließ den völlig verwirrten Elendar allein zurück.
Dabei blickte sie nicht einmal zu ihm. Sie wäre sonst womöglich wieder umgekehrt.
Elendar hingegen brauchte einen Moment, fünf Atemzüge, um genau zu sein, um sich von seiner Überraschung zu erholen. Dann wirbelte er herum und sprang die Veranda hinunter.
Sein Schwert glitzerte unheilvoll im Mondlicht.
Die Reiterei fühlte sich überrumpelt. Eigentlich hätten die Menschen schlafen sollen. Stattdessen liefen sie geradewegs Richtung Wald. Was war hier los? Ihr Anführer knurrte ärgerlich und zügelte sein schweißüberströmtes Pferd. Er musste kurz darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.
Er kam nicht weit mit seinen Gedanken, denn just in dieser Sekunde erblickte er eine schwarz gekleidete Gestalt. Es war ein Mann in voller Kriegsmontur. Sein grimmiges Gesicht sah wie eine Maske aus purem Hass aus, und das wilde Haar wehte gespenstig im Wind.
Zehn Schritte von der erstaunten Reiterei entfernt blieb er stehen, rammte mit unbeweglicher Miene sein Schwert in den Boden und zog sich langsam das Hemd aus. Darunter schimmerte bronzene Haut im Lichtglanz des Mondes.
Lediglich mit einer schwarze Hose bekleidet, zog er das Schwert wieder aus der Erde und wog es gelassen in der Hand, während ihn die Shari ungläubig anstarrten.
»Elendar«, flüsterte jemand hinter dem Anführer.
Augenblicklich ging ein Raunen durch die Menge. Doch noch ehe irgendjemand sonst etwas sagen oder tun konnte, ging der Assar vor ihnen in den Angriff über.
Sein wilder Kampfschrei ging in dem Geräusch der gezogenen Stahlklingen unter, wurde sogleich von entsetzten Schmerzenslauten der ersten Sterbenden abgelöst. Pferde wieherten panisch auf, Hufe peitschten die Erde.
Der sonst so still daliegende Rand des Dorfes verwandelte sich in ein Schlachtfeld.
Sirany rannte hinter ihrer Mutter her in Richtung Wald. Aileen hatte ein kleines Kind auf dem Arm, das der Nachbarin. Die hatte mit ihren anderen beiden bereits genug zu schleppen.
Hinter der kleinen Frauenschar erscholl Hufgetrappel. Ein Pferd näherte sich in gestrecktem Galopp, es schnaubte, schnaufte. Sattelzeug knarrte, Eisen klirrte und all diese Geräusche kamen näher und näher. Sie würden die Flüchtenden bald eingeholt haben.
Siranys Gedanken drehten sich im Kreis. Mit einem Mal blieb sie abrupt stehen – und stellte sich der Gefahr, der sie ohnehin nicht entkommen konnte. Da half kein noch so schneller Lauf, und wenn sie nicht etwas unternahm, würden auch die anderen sterben.
Es war ein Shari, genau wie sie vermutet hatte. Er musste Elendars Schwert ausgewichen sein und stattdessen den Fliehenden nachgesetzt haben.
Grimmig zog Sirany einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn mit fliegenden Fingern auf dem Bogen an. Nicht zittern, dachte sie. Sei stark. Sei mutig. Sei der Pfeil.
Das war ausgesprochen schwierig. Erst recht, wenn ein Tausend-Pfund-Koloss auf sie zupreschte. Fast war das Pferd heran.
Hinter ihr schrie ihre Mutter, schrien Frauen und Kinder in rasender Panik. »Sirany. Sirany, lauf«, meinte sie zu hören. Sirany verschloss ihre Ohren. Zum Laufen war es nun zu spät. Gerade als sie meinte, die ersten Schweißperlen von Pferd und Reiter abbekommen zu haben, lag der Pfeil richtig auf dem Bogen. Sirany hob ihn, zielte … und ließ das tödliche Geschoss fliegen.
Das Pferd war schon zu nahe, als dass sie den Reiter hätte treffen können. Der Pfeil verfehlte dennoch nicht das Ziel.
Mit einem dumpfen Laut schlug er in der Kehle des Pferdes ein. Fast in der gleichen Sekunde brach das riesige Tier in den Vorderläufen ein und begrub seinen Reiter mit seinem schweren Leib unter sich.
Sirany verlor keine Zeit. Keine Zeit zum Jubel, keine Zeit zum Durchatmen. Sie wirbelte herum und rannte um ihr Leben. Schon hörte sie weiteren Hufschlag hinter sich. Zeit für den nächsten Pfeil. Im Lauf legte sie ihn auf, spannte die Sehne des Bogens, blieb stehen, atmete kurz durch, einmal, zweimal, zielen, zielen, jetzt! Der Pfeil flog – und traf den Reiter. Er stürzte schwer und blieb reglos liegen.
Rückwärtsgehend lud Sirany ihre Waffe und arbeitete sich dabei Stück für Stück Richtung Wald voran. Sie wusste, dass sie verloren war, sollte sie jemals ihr Ziel nicht treffen.
Jetzt war nur noch ein einziger Reiter übrig. Er war schnell und duckte sich tief über den Hals seines Tieres. Sie konnte das Weiß in den Augen des Pferdes sehen, den Schweiß auf seiner Haut riechen.
Als der Pfeil sich von der Sehne löste, spürte Sirany bereits, dass sie zu tief gezielt hatte. Er traf den braunen Hengst und verwundete ihn leicht.
Sirany blieb stehen und legte wie in Trance ihren Bogen zu Boden, wartete auf das Herannahen des Pferdes. Sie sah das Schwert seines Reiters aufblitzen, als dieser es hoch über seinen Kopf hob. Er holte Schwung für den tödlichen Schlag, ließ die Klinge herabsausen.
In dem Moment tauchte Sirany unter dem Schlag hinweg. Elendar hatte ihr vor langer Zeit diesen Trick gezeigt und ihr dabei anvertraut, dass für den Erfolg eine große Portion Glück vonnöten war. Sirany konnte nur beten, dass sie dieses Glück hatte.
Fast geschmeidig zog sie ihr Messer, drehte sich um die eigene Achse und rammte die Klinge mit all ihrer Kraft in den Bauch des Pferdes. Das Tier wieherte schrill und bäumte sich auf. Dann brach es mit einem dumpfen Schlag in sich zusammen.
Die Erde bebte, als es aufschlug. Ärgerlicherweise hatte sich der Reiter rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Er rollte sich geschickt ab und sprang auf die Füße. Langsam hob er sein Schwert, schwer atmend, mit wutverzerrter Miene. Sekunden später lächelte er plötzlich, als hätte er sich selbst einen Witz erzählt. Ihm stand eine junge Frau mit einem Messer gegenüber. Einem Messer. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.
Sirany war klar: Einen Zweikampf konnte sie nicht gewinnen. Das wusste sie und das wusste ihr Gegner. Das Messer in ihrer Hand wurde feucht von ihrem Angstschweiß. Sie wich vor dem Shari zurück, ihr Herzschlag hämmerte gemeinsam mit dem bösen Lachen des Kriegers in ihren Ohren.
Sirany hatte keineswegs vor, sich in diesen Nahkampf verwickeln zu lassen. Sie brauchte lediglich etwas Abstand, um besser zielen zu können. Dann wechselte sie blitzschnell den Griff um ihr Messer und schleuderte es mit aller Kraft auf ihren Gegner.
Es traf ihn mit der Klinge voran direkt in der Brust. Ein ungläubiges Keuchen entrang sich seiner Kehle, als der Getroffene begriff, was geschehen war. Augenblicklich verdrehte er die Augen, brach in die Knie und blieb reglos in dem sich rot färbenden Gras liegen.
Sirany blieb wie betäubt im kalten Wind der Nacht stehen. Ihre Glieder zitterten vor Angst. Die Panik kam erst jetzt in ihr hoch und krallte sich in ihre Kehle.
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich nur langsam in diese Richtung. Im Falle eines Sharis hätte sie ohnehin keinerlei Waffen mehr gehabt, um sich zu wehren.
Stattdessen sah sie Elendar, der müde zu ihr den Hang hinaufkam. Blut klebte auf seiner Haut, in seinen Haaren. Die Klinge seines Schwertes glänzte nicht silbern, sondern rot.
»Mir scheint, du hattest einen guten Lehrer«, sagte er müde.
Sirany löste sich endlich aus ihrer Starre und rannte zu ihm. Er fing sie erleichtert auf und brach zusammen mit ihr auf dem kleinen Hügel in die Knie.
Voller Erleichterung, dass sie noch lebte, legte er den Kopf in den Nacken und blickte zu den schimmernden Sternen hinauf. Inbrünstig dankte er demjenigen, der sie in diesen Sekunden vor dem Tod bewahrt hatte.
Elendar vergrub seine Hand in Siranys dichten Haaren und streichelte ihren Rücken mit der anderen. Sanft küsste er ihre Stirn. Sie zitterte wie Espenlaub und hielt ihn umklammert, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, tropften auf seine nackte Haut und versickerten dort.
Schließlich drückte Elendar sie von sich fort. Er umfasste ihr schmales Gesicht mit seinen Händen und wischte mit den Daumen die Tränen weg. Dann blickte er ihr tief in die Augen.
»Hör mir jetzt gut zu. Die Gefahr ist nicht vorüber. Bleibt im Wald, versteckt euch so tief in den Wäldern, wie ihr nur könnt. Wenn das Heer hier durchmarschiert und die Toten entdeckt, wird man euch dafür zur Verantwortung ziehen. Um die Leichen zu verstecken, bleibt uns keine Zeit, deshalb können wir nur darauf vertrauen, dass der Heerführer sich nicht weiter mit der Sache beschäftigt.«
Elendars Herz war schwer, als er aufstand und Sirany mit sich zog.
»Pass auf dich auf.«
»Wohin gehst du?«
»Ich muss zurück zum Heer. Wenn ich nicht bald wieder auftauche, wird mein Verschwinden auffallen. Man darf mich nicht mit eurer Warnung in Verbindung bringen, hörst du? Sonst ist mein Volk verloren. Sag das auch deinen Leuten.«
Er blickte Sirany mahnend an, bis sie nickte. Elendar hätte die junge Frau gern geküsst und ermahnte sich selbst. Er war sich nicht sicher, ob er sie sonst jemals wieder loslassen konnte.
Deshalb machte er sich rasch von ihr frei und wollte den Hügel hinabeilen, doch sie hielt ihn mit einer Hand auf.
»Warte.«
Sie strich ihm einige Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sein blutiges, zerschundenes Gesicht. Sanft fuhr sie mit dem Zeigefinger über seine Wange und berührte seine Lippen. Er umfasste ihre Hand, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leidenschaftlich.
Es war nicht so, dass zwei Menschen einander einfach küssten.
Dieser Kuss bedeutete viel mehr, war es ein Kuss zwischen einem Assaren und einer Farreyn. Ein Kuss, der zum ersten Mal diese beiden Völker miteinander verband und zu einer Einheit zusammenschloss.
Es war ein inniger Kuss von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die bisher einander mit Missachtung gegenübergestanden hatten und sich plötzlich auf einer gemeinsamen Seite wiederfanden.
Es war ein leidenschaftlicher Kuss voller Hoffnung und Liebe.
Als Sirany den Wald betrat, herrschte um sie herum Stille. Selbst die Bäume schienen den Atem angehalten zu haben und die Nachttiere waren längst vom Lärm der Menschen vertrieben worden.
Sirany traf unweit des Waldrandes auf ihre Mutter. Neben ihr stand die junge Frau mit den drei Kindern und starrte sie an. Natürlich hatten beide die Szene auf dem Hügel mit angesehen.
Aileen sagte nichts, sondern hob nur das kleine Mädchen wieder auf ihre Hüfte und trat tiefer in den Wald. Die anderen Frauen folgten.
Für Sirany bedeutete jeder Schritt, sich weiter von Elendar zu entfernen. Doch es musste sein. Er musste zurückkehren und sie musste fliehen. Keiner von beiden konnte daran etwas ändern.
»Hat er alle Reiter vernichtet?«, fragte Aileen nach langer Zeit in die Nacht hinein.
Ihre Stimme klang fast ein bisschen irre, übergeschnappt. Sie zitterte leicht.
»Bis auf die drei, die ich erledigt habe, alle.«
Sirany sagte es in einem leichten Ton. Innerlich drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte Menschen getötet. Es waren zwar ihre Feinde, doch hatte niemand einen solchen Tod wirklich verdient.
Ihre Mutter warf ihr einen scharfen Blick zu. »Hat er dir das Schießen beigebracht?«
»Ja.«
»Dann hat er auch diese drei auf dem Gewissen.«
Sirany wollte erst protestieren, denn ihre Mutter klang, als wolle sie Elendar Vorwürfe machen, aber Aileen sprach bereits weiter. »Und er hat damit unser aller Leben gerettet. Dafür sollten wir dankbar sein.«
Sie tappten fast zwanzig Minuten halb blind durch den Wald, bis sie endlich auf eine Gruppe anderer Dorfbewohner trafen. Gemeinsam gingen sie weiter, tiefer in den dunklen Bauch des Waldes.
Sirany wurde in dieser Zeit fast verrückt vor Angst. Sie bangte um die Menschen, die hierher geflohen waren und sich nun verstecken mussten. Sie hatte Angst vor der nahenden Reiterschar und fürchtete um ihr Dorf und ihr Vieh. Vor allem sorgte sie sich um Elendar, der zu den Leuten zurückkehren musste, die sie alle hatten umbringen wollen.
Irgendwann fand Sirany in dem undurchdringlichen Dickicht ihren Vater. Erleichtert umarmten sie einander. Sarn gab erst seiner Tochter einen kurzen Kuss auf die Stirn, danach küsste er innig seine Frau.
Die Nacht zog sich dahin, bis der Morgen graute und die ersten Vögel vorsichtig ihr Lied anstimmten. Schatten wurden zu Ästen und Dunkelheit zu Licht. Das Leben kehrte in den Wald zurück.
Mit jedem Baum, den Sirany im Licht besser erkennen konnte, wurde sie zugleich unruhiger. Sie spürte das Herannahen des Heeres und wusste, dass ihr Leben weiterhin in Gefahr war. Deshalb trieb sie die kleine Schar zu noch größerer Eile an, bis alle vor Erschöpfung zitterten.
Als der Tag schließlich in seiner vollen Blüte erwacht war, suchten sich die Flüchtenden gute Verstecke im Dickicht und warteten auf das Kommende.
Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Das ewige Warten lastete schwer auf den Nerven der Menschen, an Schlaf war in ihrer Angst ohnehin nicht zu denken.
Plötzlich richtete sich Sirany erschrocken auf und streckte den Kopf in den Wind.
»Rauch«, flüsterte sie entsetzt. Alle anderen schnupperten nun ebenfalls und rochen Qualm, brennendes Holz, tosende Flammen. »Sie fackeln den Wald ab.«
Die Erkenntnis brachte die Menschen wieder auf die Beine. Zwar war der Geruch bisher nur schwach, doch von Sekunde zu Sekunde verdichtete er sich mehr und begann bereits in ihrer Lunge zu brennen. Dann sah Sirany die ersten Flammen über den Baumwipfeln aufleuchten.
»Der Wind treibt das Feuer direkt auf uns zu.« Sarn fuhr sich nervös durch das Haar. »Wir müssen hier weg.«
Nach diesen Worten folgte eine wilde Flucht quer durch den Wald. Ein Wettrennen begann, in dem diesmal nicht die Menschen vor ihresgleichen flüchteten, sondern vor einer Macht, der sie noch weitaus hilfloser ausgeliefert waren.
Das Prasseln der Flammen grollte nun in den Ohren der Dorfbewohner, übertönte jedes weitere Geräusch und ließ die ganze Welt um sie herum in einem Meer aus Angst und Panik verschwinden. Hitze lechzte nach ihren Kleidern; Rauch brannte in ihren Augen, verstopfte ihre Münder und lähmte ihre Lungen.
Verzweifelt versuchten sie dem Feuer aus dem Weg zu gehen, doch es ließ keinen Platz zur Flucht. Unbarmherzig trieb es sie vor sich her, bestimmte jede Richtung.
Nach und nach verloren sie einander aus den Augen, Qualm und Rauch verschluckte sie. Nur ihre verzweifelten Schreie übertönten das Knacken brennender Büsche, Sträucher und Bäume.
Sirany hielt die Hand ihrer Mutter fest umklammert und stolperte vorwärts. Ihre Instinkte sagten ihr, dass hier ein Nebenfluss herführen musste. Darin hatten Elendars Männer ihre Wäsche gewaschen und ihr Trinkwasser geholt.
Die kleine dreiköpfige Familie blieb dicht beisammen, zusammengehalten durch das feste Band ihrer Hände. Die Angst verlieh ihren Füßen Geschwindigkeit, ließ sie über Wurzeln und Stämme hinwegeilen und den Schmerz ignorieren, der in ihren Lungen brannte.
Endlich erreichten sie den Fluss. Er war an manchen Stellen tief, das wusste Sirany. Sein Strom führte direkt aus dem Wald hinaus, parallel zur Feuerfront. Die einzige Möglichkeit, sich retten zu können.
Keiner der drei zögerte lange. Sie stürzten sich in den Fluss, eilten bis zu seiner Mitte und wateten von dort am Ufer entlang. Das Feuer tobte nun seitlich und hauchte den Menschen seinen heißen Atem entgegen.
Je weiter sie gingen, desto tiefer wurde der Fluss. Das Ufer wurde steiler, türmte sich höher vor ihnen auf und schirmte sie dadurch immer mehr von den brennenden Bäumen ab.
Anfangs hatte das Wasser Sirany nur bis zur Wade gereicht, schließlich bis zum Oberschenkel, zur Hüfte … und jetzt zerrte die Strömung so heftig an ihr, dass es sie von den Füßen riss. Neben ihr verlor erst ihre Mutter, dann ihr Vater den Halt und die Strömung trug sie fort, vorbei an heulenden Feuerstürmen, zerberstenden Bäumen und stinkenden Büschen.
Und dann, auf einmal, war es vorbei. Sie waren der Flammenhölle entkommen. Der Fluss hatte sie geradewegs durch das Herz des brennenden Waldes geschwemmt und sie am äußeren Rand wieder ausgespuckt, hinein in eine Flussmündung, die nicht mehr von Bäumen umgeben war.
Nass und erschöpft, wie sie waren, zogen sie sich ans trockene Ufer und starrten den brennenden Wald an. Der türmte sich wie ein riesiges, rot glühendes Ungeheuer vor ihnen auf. Aus seinem Mund stieg grauer Rauch auf und verdunkelte die Sonne.
Sirany und ihre Eltern zögerten lange hinaus, zurück ins Dorf zu gehen. Der Weg war lang und möglicherweise gefährlich. Nach weiteren Stunden war der Lärm des Heeres verschwunden, das Klirren der Waffen und das Wiehern der Pferde fort. Es war weitergezogen.
Also ging es für die kleine Familie zurück, quer durch den Fluss, gegen die Strömung, vorbei an rauchender Asche und toten, verbrannten Tieren. Als sie in ihr Dorf kamen, sah es dort nicht viel besser aus.
Einige Häuser brannten lichterloh, die Scheune zum Beispiel und auch die Mühle. Andere waren nur noch verkohlte, rauchende Ruinen.
Schweigend standen die drei da. Sirany und Aileen hatten Tränen in den Augen und doch konnten sie sich nicht abwenden. Ihre Lebensgrundlage, das, wofür sie so hart gearbeitet hatten, ging langsam und unaufhaltbar in Rauch auf.
Viele Stunden später gesellten sich die nächsten Überlebenden zu ihnen. Sie sagten nicht viel, standen nur da und beobachteten die tanzenden Flammen. Fast alle weinten. Gleichzeitig erfüllte sie auch eine große Erleichterung, noch am Leben zu sein.
Allmählich fragte sich Sirany jedoch, wie sie die nächsten Jahre in solch einem barbarischen Land überleben sollte. Sie erkannte ihre alte Heimat kaum noch wieder. Was kam noch auf sie zu? Was würde geschehen, wenn Elendar sie nicht mehr rechtzeitig warnen konnte?