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Kapitel 1

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Es zieht ein Sturm auf.« Siranys Mutter Aileen warf einen besorgten Blick gen Himmel, während sie ihre einzige Tochter nach draußen begleitete. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Müller?«

Auch Sirany prüfte das Wetter mit einem Blick, sah die dunklen, schneeverhangenen Wolken drohend über ihrem Kopf aufragen. Obwohl der Frühling bereits Einzug in das Land gehalten hatte, rang ihm der Winter noch diese eine Woche ab.

Kälte würgte Mensch und Tier, drang in jeden Knochen und ließ die bereits vorsichtig emporgesprossenen Blumen erfrieren. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem kalten Erdboden, als hätte es den Frühling nie gegeben.

»Der Sturm ist nicht das Problem. Der Schnee ist übel«, erwiderte Sirany.

Rasch gab sie ihrer Mutter einen letzten Kuss auf die Wange und sprang von der Veranda hinab in den Schnee. Sie versank bis weit über die Knöchel, hörte das ihr so vertraute knirschende Geräusch zusammengedrückten Schnees.

Fröstelnd zog sie den Umhang um ihre mageren Schultern und ging vorwärts. Es war nicht weit bis zur Mühle des Müllers, doch der Weg war gefährlich. Unweigerlich musste man gleich zwei Wachtposten passieren und die überprüften jeden sehr genau, stets auf der Suche nach jungen, hübschen Frauen.

Sirany war dieses Spiel bereits so gewohnt, dass sie nicht weiter darüber nachdachte. Mit geübtem Griff zog sie sich die Kapuze weit über die Augen, krümmte sich und wirkte daraufhin wie eine alte, zermürbte Frau.

Um kein unnötiges Risiko einzugehen, schlug sie den Weg entlang des Flusses ein. Der führte am äußeren Rand des kleinen Dorfes vorüber. Normalerweise waren hier keine Soldaten anzutreffen, aber so genau wusste man das nie.

Da sie nur auf ihre Füße starrte und nicht den Blick hob, um vorauszuschauen, übersah sie den jungen Mann in Uniform. Er hatte unerlaubt seine Truppe verlassen, um sich hinter einem Busch heimlich eine der verbotenen Zigaretten anzuzünden.

Als er das junge Mädchen näher kommen sah, warf er hastig seinen Verrat in den Schnee, straffte sich und blickte der Gestalt entgegen. Er war jung, unerfahren und wollte sich dringend beweisen. Zudem genoss er das Gefühl der Macht, das mit seiner Uniform einherging. Die Chance, seine Überlegenheit einmal völlig allein auszukosten, ließ er sich daher nicht entgehen.

»Anhalten«, brüllte er so autoritär wie er es vermochte und damit erheblich lauter als nötig.

Augenblicklich erstarrte Sirany in ihrem Schritt. Vorsichtig hob sie den Kopf, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu erhaschen. Als sie die Soldatenuniform erkannte, übersprang ihr Herz glatt einen Schlag. Dann wummerte es in ihrer Brust wie eine durchgehende Pferdeherde.

»Was machst du hier?«, bellte der Mann in einem Ton, der sie bis in die Knochen erzittern ließ. »Warum gehst du hier entlang? Das ist verboten.«

Natürlich war das verboten. Aber bisher hatte sie niemand erwischt.

Sirany machte einen unschlüssigen Schritt zurück und überlegte, ob sie die Zeit hatte, sich umzudrehen und die Flucht in das Dorf zu wagen. Möglicherweise konnte sie sich dort verstecken.

Der Soldat stand jedoch zu nahe, hatte sie sogar bereits am Umhang gepackt. Sekunden später riss er ihr die Kapuze vom Kopf und starrte sie verdutzt an.

Über die Jahre hinweg hatten sie und ihre Eltern es zu vermeiden gewusst, Sirany in der Öffentlichkeit zu zeigen. Stets war sie den unauffälligsten Weg gegangen, stets den Soldaten ausgewichen. Nun war das eingetreten, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte.

Auch dem Soldaten dämmerte, was er da vor sich hatte. Eine Trophäe, eine Seltenheit in diesem Bezirk. Sein Lehnsherr würde sich als sehr dankbar erweisen, wenn er ihm dieses Juwel zuführte.

Sirany las in seinen Augen, was er dachte; er versäumte es, in den ihren zu lesen. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sie ihm die Faust ins Gesicht, riss sich los und sprang an ihm vorbei.

Ein trainierter Soldat war bestimmt auf offenem Feld schneller als sie, daher rannte sie nicht zurück ins Dorf, sondern auf den Fluss zu. Dahinter erstreckte sich unbeweglich der schneeverhangene Wald, sprach von Sicherheit und Geborgenheit – wenn sie ihn denn erreichen konnte.

Der Schlag ins Gesicht hatte den Soldaten nur überrascht und nicht verletzt. Nun wirbelte er mit einem wütenden Schrei herum und sprang ihr hinterher, bekam einen Zipfel ihres Umhangs zu packen und wollte sie zurückreißen.

Sirany befreite sich im letzten Moment von dem störenden Kleidungsstück, stolperte vorwärts und hielt nun direkt auf eine winzige Holzbrücke zu. Im Wald kannte sie sich aus, dort konnte sie auch ihre Wendigkeit zu ihrem Vorteil nutzen. Aber erst einmal musste sie die Baumgrenze erreichen.

Ihr wurde klar, dass sie es nicht schaffen würde, als sie den ersten Fuß auf die alte Holzbrücke setzte. Der junge Mann, mit längeren Beinen und größerer Schnelligkeit ausgestattet als sie, hatte sie erreicht, noch bevor sie über die Hälfte der Planken gehuscht war.

Mit einem Triumphgeheul warf er sich auf sie, packte sie an der Taille und zerrte sie zurück auf das gegenüberliegende Ufer. Sirany schlug wild nach ihm, versuchte ihn zu treten und zu beißen. Er fing spielend leicht ihre Fäuste ab. Gleich darauf versetzte er ihr einen Hieb ins Gesicht, der sie rücklings zu Boden schleuderte.

Er setzte ihr nach, drückte sie mit seinem ganzen Gewicht hinunter und hockte sich rittlings auf sie. Mit einer Hand hielt er ihre beiden Hände fest, presste sie weit über ihrem Kopf in den Schnee, während er mit der anderen ihren Hals umklammerte und anfing, sie zu würgen.

Augenblicklich erlahmte Siranys Gegenwehr. Sie hatte dieses tödliche Glitzern schon oft in den Augen junger Soldaten bemerkt, die in ihren kurzen Leben zu viele schlimme Dinge hatten sehen müssen.

Erst als sie sich kaum noch rührte, gab der Mann ihren Hals frei, um sich nun über sie zu beugen und sie breit anzugrinsen.

»Na, mein Täubchen? Was mache ich nun mit dir?«

In seinem Blick sah Sirany, dass es eine rein rhetorische Frage war. Er wusste sehr genau, was er mit ihr machen wollte. Er verlagerte leicht sein Gewicht, drückte nun mit dem Gesäß ihren Bauch in den Schnee, presste sie an den Boden.

Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Kalte Angst ergriff sie, während der eisige Schnee jede Ritze ihrer Kleidung eroberte und sich durch ihre Knochen fraß. Gleichzeitig hämmerte ihr Herz, als wollte es zerspringen, steigerte sich sogar, als der Mann mit der freien Hand über ihren Busen glitt.

Sie schrie auf, wand sich unter ihm. Er hielt sie eisern am Boden und erfreute sich an ihrer Panik.

Sie hörte den Fluss plätschern. Keine zwei Fuß neben ihrem Kopf befand sich die kleine Böschung, die hinunter zum kalten Wasser führte. Konnte sie ihn dort hineinstoßen? Über den Rand hinweg?

Sie verwarf diesen Gedanken wieder, als er mit seiner eiskalten Hand über ihre Kleidung huschte, sich einen Weg zu ihren Beinen suchte. In den glitzernden Augen des Soldaten sah sie plötzlich aufkommende Erregung, vermischt mit dem berauschenden Gefühl, jemand anderen in der Gewalt zu haben.

Mit dem Mut der Verzweiflung unternahm Sirany eine letzte Kraftanstrengung, zog die Beine an und trat mit den angewinkelten Knien nach ihm.

Sie traf seinen Rücken. Durch den unverhofften Stoß fiel er nach vorn und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk gerade genug, dass sie sich befreien konnte. Wild schlug sie ihm beide Hände ins Gesicht, drückte ihn von sich fort und versuchte von ihm wegzu­krabbeln, doch er packte sie an den Haaren und riss sie zu ihm zurück.

Auf den Knien hockend kämpften sie weiter verbissen miteinander. Er hatte die Hände in ihren Haaren verkrallt, während sie seine Handgelenke umklammert hielt.

Siranys Kräfte erlahmten und allmählich ahnte sie, dass es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das Einzige, was ihr übrig blieb, war, auf seine Gnade zu hoffen. Auf eine Gnade, die der Mann in seiner Erregung nicht kennen würde.

Doch dann bemerkte sie am Waldrand eine Bewegung. Es war nur ein kurzes Rascheln der Zweige, eine winzige Veränderung unter einem Baum. Sie sah niemanden, spürte aber, dass dort etwas war.

Etwas, was sie beobachtete.

Gerade wollte sie der Soldat wieder in den Würgegriff nehmen, als der Schatten am Waldrand plötzlich Gestalt annahm. Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor, einen Bogen im Anschlag, den Pfeil bereits auf der Sehne. Er zögerte nicht eine Sekunde, zielte kurz und schoss.

Sirany hörte den dumpfen Aufschlag des Pfeils direkt neben ihrem Ohr. Genau dort, wo sich der Hals des Soldaten befinden musste. Es folgte ein wilder Schmerzenslaut, danach ein seltsames Gurgeln.

Anstatt sie endlich freizugeben, krallte sich der Mann an ihr fest, wollte sie selbst in seinem Todeskampf nicht freilassen.

In Panik schlug Sirany erneut nach ihm und sprang aus der Hocke nach vorn, in der Hoffnung, ihm so entkommen zu können. Zu spät fiel ihr ein, dass sich dort die Uferböschung befand – und die führte direkt hinab in den eiskalten Fluss.

Ehe sie es sich versah, rutschte sie haltlos das kurze, steile Stück hinunter. Sekunden später umhüllte sie der eisige Fluss mit seinem kalten Nass, riss sie mit seiner ganzen Kraft vom Ufer fort in seine Mitte, genau dahin, wo der Strom am stärksten war. Normalerweise schlummerte der Dorffluss friedlich vor sich hin, nur nicht zu dieser Jahreszeit. Dann schwoll er zu einer bedrohlichen Sintflut an, riss alles mit sich, was sich in seine Fänge begab.

Genauso verfuhr er nun auch mit Sirany, lähmte sie zuerst mit seiner Kälte und versuchte anschließend, sie in den dunklen Tiefen zu ertränken.


Elendar Assaim hatte es nur gut gemeint. Er wollte das Mädchen retten und nicht umbringen. Wirklich.

Stattdessen musste er nun mit ansehen, wie das Mädchen die Böschung hinunterrutschte und vom wild donnernden Fluss verschluckt wurde. Es tauchte einmal komplett unter, kam prustend wieder zum Vorschein und kämpfte verzweifelt um sein Leben, versuchte panisch das rettende Ufer zu erreichen.

Elendar reagierte sofort. Hastig ließ er Pfeil und Bogen zu Boden fallen und rannte am Ufer entlang, dem von den Fluten davon­getragenen Mädchen hinterher.

Er war von Kind auf stets der Schnellste und Wendigste gewesen, doch dies war eine neue Herausforderung. Der Fluss war reißend, spielte mit der gefangenen jungen Frau, als sei sie nur ein albernes Spielzeug, riss sie mehr und mehr von ihm fort.

Gerade als Elendar aufgeben wollte, sah er ihren Schopf wieder aufblitzen. Sie musste all ihre Kraft zusammengenommen haben, um sich an den Rand des Flusses zu retten. Dort floss das Wasser etwas langsamer – und genau das verschaffte Elendar die Möglichkeit, wieder aufzuschließen.

Sirany indes verkrallte sich mit ihren Händen in einem Stein, drei Schritt vom Uferbereich entfernt. Das Moos war glitschig zwischen ihren Fingern, ihr Halt war mehr als bedenklich. Wütend zerrte der Fluss an ihr und ihren Kleidern, versuchte sie in die tieferen Bereiche seines Reiches zu ziehen. Doch noch gab Sirany nicht auf.

Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie es nicht bis ans Ufer schaffte. Mit der gleichen Gewissheit wusste sie auch, dass sie nicht sterben wollte. Also kämpfte sie wie nie zuvor in ihrem Leben. Gegen die Kälte, gegen den Sog. Doch langsam, ganz langsam kroch der Tod in ihre Glieder. Die Kälte machte sie taub und gefühllos, ihre Finger gehorchten ihr immer weniger. Sie zwang sich dennoch, nicht loszulassen.

Elendar erblickte sie in der Sekunde, als ihre Kraft sie gerade verließ. Ihre Hand löste sich unaufhaltsam von dem rettenden Stein, Finger für Finger. Dann war da … nichts mehr, nur der unendliche Sog. Der Fluss packte wieder zu und zerrte sie mit sich. Sie ging unter.

Daher sah sie den spektakulären Hechtsprung nicht, den Elendar in dieser Sekunde vollführte.

Der junge Mann warf sich hinein in die Fluten, lang gestreckt, jeder Muskel angespannt. Er wusste: Er hatte nur eine Chance, sie zu packen. Er erwischte einen ihrer Arme, fasste zu und hielt ihren davontreibenden Körper auf.

Mit aller Kraft stemmte er die Beine in den Uferschlamm und lehnte sich gegen die Kraft des Flusses. Das Rauschen des Wassers dröhnte in seinen Ohren. Er schaffte es, sich aufrecht zu halten und die junge Frau zu sich heranzuziehen. Schritt für Schritt schleppte er sich Richtung Ufer, die Fremde mit sich ziehend. Dann endlich erreichte er trockene Erde. Der Sog ließ nach und er konnte sie in seine Arme und aus dem Wasser ziehen.

Zwei Schritte, drei. Schließlich hatte er den Fluss besiegt. An Ort und Stelle ließ er sich und die Fremde zu Boden gleiten. Ihr Atem ging hektisch und er gefror augenblicklich zu feinen weißen Dampfwolken vor den Mündern. Das erinnerte ihn unweigerlich an die eisige Kälte.

Das Mädchen lag wie tot vor ihm. Es hatte die Finger seltsam verkrampft, zuckte wie im Todeskampf und atmete nur stoßweise. Die Haut schimmerte milchig weiß und hatte jegliche Farbe verloren. In den Haaren glitzerten bereits die ersten Eiskristalle wie funkelnde Edelsteine.

Elendar wusste, dass sie erfrieren würde, wenn er nicht bald etwas unternahm.

Mit fahrigen Fingern zog er seinen Dolch, setzte ihn an der Kleidung der jungen Frau an und begann, sie aufzuschneiden. Die letzten Fetzen riss er regelrecht von ihrem Körper, während sie es willenlos über sich ergehen ließ. Er sah in ihrem Blick helle Panik, vermischt mit Resignation und Unglauben. Dennoch unternahm sie keinen Versuch, seinen Fingern zu entkommen, selbst dann nicht, als er sie bis auf die nackte Haut entkleidet hatte.

Ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, entledigte er sich ebenfalls seiner nassen Kleidung. Dann zog er ihren Körper zu sich heran, presste ihn an sich und umhüllte sie beide mit seinem Mantel, den er aus reinem Instinkt am Ufer hatte liegen lassen, bevor er dem Mädchen in die eisigen Fluten gefolgt war.

Dieses eine trockene Kleidungsstück war nun ihre einzige Hoffnung, sie vor dem Erfrieren zu bewahren.

Sirany lag wie erstarrt in den Armen des fremden Mannes. Er hatte ihren Kopf gegen seine Brust gepresst, die Arme fest um ihren Körper geschlungen und den Mantel wie einen schützenden Kokon um sie beide gelegt. Er lag halb auf ihr, presste seine nackte Haut auf ihre, um seine Körperwärme mit ihr zu teilen.

So lagen sie eine Ewigkeit da, während das Mädchen dem sanften Herzschlag ihres Retters lauschte. Am Anfang hatte sein Herz gehämmert, als wollte es einen Wettbewerb gewinnen, nach und nach hatte es sich jedoch beruhigt.

Die beiden wussten, dass sie nicht ewig so liegen bleiben konnten. Früher oder später würde die Kälte sie töten, die nun unweigerlich auch durch den Mantel drang. Durch die geringe Körperwärme, die von dem Mann ausging, erwachten wenigstens Siranys Arme und Beine zum Leben.

Sie begann, sich zu entspannen. Immerhin hatte der Mann bisher keinerlei Anstalten gemacht, über sie herzufallen – so wie es der Soldat nur Minuten vorher getan hatte.

Das Gebüsch bewegte sich direkt neben ihren Köpfen und ein in dicke Felle gehüllter Mann trat hervor. Er erstarrte bei dem seltsamen Anblick.

Verwundert fragte der Fremde ihren Retter etwas in einer Sprache, die Sirany nicht verstand. Dieser antwortete kurz und knapp, erst danach trat der Fremde zu ihnen und legte eines seiner Felle über sie.

Für einige Zeit bewegte sich niemand. Sirany fühlte sich durch die Anwesenheit des Fremden bedrängt, verängstigt. Sie lag nackt unter einem Mantel und einem Fell, umgeben von zwei Männern, denen sie niemals in ihrem Leben begegnet war.

Sie war ihnen völlig ausgeliefert.

Als sich ihr Retter neben ihr bewegte und dabei mit dem Arm über ihre Brust strich, erstarrte Sirany vor Schreck und wagte keinen Atemzug. Zum Glück war die Berührung nur zufällig gewesen. Ihr Retter richtete sich lediglich auf und befreite sich von den Über­würfen. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und nahm dankbar den Mantel entgegen, den ihm der Fremde hilfreich entgegenhielt.

Erst nachdem er sich fest eingehüllt hatte, drehte er sich zu Sirany um. Die hatte sich mittlerweile aufgerichtet und saß nun mit wild klappernden Zähnen da. Ängstlich presste sie die beiden Kleidungsstücke an sich und versuchte sich damit so gut es ging zu verhüllen.

»Du musst dich bewegen, wenn du nicht erfrieren willst«, sagte ihr Retter unverhofft.

Seine Stimme klang weich, fast wohltuend beruhigend, mit einem sehr starken Akzent, den Sirany nicht einzuordnen vermochte.

Sirany war nicht fähig zu sprechen. Ihre Lippen zitterten zu sehr vor Kälte, ihr gesamter Unterkiefer war vor Eis wie erstarrt. Also nickte sie lediglich und bemühte sich nach Kräften, auf die Beine zu kommen. Sie schaffte es erst, als ihr Retter ihr hilfreich unter die Achseln griff.

Dann stand sie da. Zitternd, halb von Sinnen vor Kälte, fast nackt und völlig ungeschützt. Sie stand knöcheltief im Schnee, barfuß, denn ihre Schuhe waren im Fluss verloren gegangen. Ihr war, als müsste sie jeden Moment erfrieren.

Elendar betrachtete das Mädchen einen Moment prüfend und befand, dass er sich erst um sich selbst kümmern musste, um ihr helfen zu können. Efnor hatte zum Glück die Angewohnheit, mit Fellen bepackt wie ein frierender alter Esel herumzulaufen. An wärmenden Decken mangelte es ihnen daher nicht.

Efnor gab so viel ab, wie er entbehren konnte, und reichte schließlich sogar seine letzte Lage Fell an das Mädchen weiter. Nun stand auch er frierend da, nur noch bekleidet mit seinem alten, löchrigen Hemd. Er war jedoch Kummer gewohnt und kümmerte sich nicht weiter um die Kälte.

»Hol Hilfe«, wandte sich Elendar an seinen Freund und sprach extra Assarisch, damit das Mädchen ihn nicht verstand. »Wir brauchen ein Pferd, um schneller ins Lager zu kommen. Sag Sheyn, er soll Steine ins Feuer legen und Felle warm halten. Wir gehen euch entgegen.« Eine Sekunde zögerte er, dann fügte er hinzu: »Am Fluss­ufer liegt ein toter Soldat. Findet und vergrabt ihn, bevor er Aufsehen erregt. Macht rasch.«

Efnor fragte nicht weiter nach, sondern nickte nur und eilte davon, hinein in den Wald. Einen Moment blickte Elendar seinem Freund hinterher, erst danach drehte er sich zu dem Mädchen um.

Das stand nach wie vor wie zur Salzsäule erstarrt da und zitterte vor sich hin. Wenigstens zitterte es wieder. Das war schon mal ein gutes Zeichen.

Elendar trat neben die junge Frau, zog ihr die Felle so fest er konnte um den Oberkörper und sah sie streng an.

»Wir müssen uns bewegen, sonst sind wir so gut wie tot. Versuch es wenigstens.«

Wie in Trance nickte sie, machte einen zaghaften Schritt und knickte augenblicklich ein. Elendar zog sie seufzend wieder auf die Beine und drängte sie nach vorn.

»Du musst gehen«, ermahnte er sie und zog sie mehr hinter sich her, als dass sie selbstständig ging. Auch ihm tat mittlerweile alles weh. Außerdem macht er sich heftige Sorgen um seine Zehen, die er kaum spürte. Seine Schuhe waren völlig durchweicht und boten keinen Schutz gegen die Kälte. Wenigstens hatte er welche, im Gegensatz zur jungen Frau.

Sie verließen das Ufer des Flusses und drangen in den schnee­bedeckten Wald ein. Äste knackten unheimlich unter ihrer Last, hier und da segelte ein Zweig zu Boden. Ansonsten war alles still, nur durchbrochen von den keuchenden Lauten der beiden Menschen.

Sirany war mittlerweile übel. Wie in einen dichten Nebel gehüllt stolperte sie hinter dem Fremden her, der sie unerbittlich vorwärtsdrängte. Ihr Körper schmerzte heftig und die Brust war wie eingeschnürt. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die sie dem Mann folgte, eine Ewigkeit, in der sie durch die Hölle ging. Schließlich war sie mit den Kräften am Ende. Der Kampf mit dem Soldaten, die nackte Panik vor einer Vergewaltigung, das alles hatte sie geschwächt, der Sieg über die eisigen Fluten hatte sie an den Rand ihrer Fähigkeiten gebracht. Der Marsch durch diese eisige Hölle überstieg nun ihre Kräfte.

Elendar fing sie gerade noch auf, als sie zusammenbrach. Er ließ sie in den Schnee gleiten und stützte ihren Oberkörper ab.

»Ich kann nicht …«, flüsterte sie. Dabei krallte sie sich in seinen Fellumhang, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Elendar gab ebenfalls auf. Auch er konnte sich kaum rühren. Eine eigenartige Müdigkeit umgab ihn. Schweigend zog er das Mädchen dicht an sich heran. Es vergrub sein Gesicht an seiner Brust. So verharrten sie.

Keine zwei Minuten später kamen endlich die Pferde – und die brachten sie sicher in das Lager. Dort warteten warme Felle und ein heißes Feuer auf sie.

Später erinnerte sich Elendar nicht mehr vollständig an das Geschehene. Er hatte das Mädchen zu sich auf sein Gebirgspony genommen und war im Jagdgalopp durch den Wald gestürmt, so schnell es der winzige Wanderpfad zuließ. Im Lager angekommen, hatte er das Mädchen vom Rücken seines Tieres gezogen und in sein Zelt getragen, hatte es mit Decken und warmen Steinen bedeckt und war anschließend zu ihm unter die Felle gekrochen.

Der Gesang des Sturms

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