Читать книгу Der Gesang des Sturms - Liane Mars - Страница 7

Prolog

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In einer windgepeitschten Nacht, in der die Sterne unsichtbar hinter schneeverhangenen Wolken verborgen waren und nicht einmal der Lichtstrahl des Mondes die Erde zu erreichen vermochte, wurde Sirany geboren.

Man gab nicht viel um ihr Leben. Sie war viel zu klein, wog kaum so viel wie eine Feder und verhielt sich wie ein zum Tode verurteiltes Baby.

Sie weinte nicht.

Selbst nach mehreren Klapsen auf ihr Hinterteil blieb sie stumm, betrachtete die Welt um sich herum nur aus trüben, fast traurig wirkenden Augen. Als ihre Mutter sie verzweifelt zum Trinken ermuntern wollte, verweigerte sie die Nahrung, drehte das kleine Köpfchen weg und starrte stattdessen aus dem Fenster, als suchte sie etwas.

Am dritten Tage nach ihrer Geburt rechnete ihre Mutter mit ihrem letzten Atemzug. Stunde um Stunde zog sich dahin, ohne dass Sirany die Welt, die sie bislang nur so kurz besucht hatte, wieder verließ.

Am vierten Tage trank sie endlich. Nicht gierig. Gerade so viel, um am Leben zu bleiben und die Kraft zu haben, auch am nächsten Tag ein wenig zu trinken.

Der Priester kam am fünften Tag, um sie für ihren Gott zu weihen. Er kam spät, denn der Schneesturm hatte ihn aufgehalten. Tausendmal entschuldigte er sich, bevor er endlich sein Weihwasser hervor­kramte. Vielleicht half das dem Baby ins Leben.

Siranys Mutter hatte Angst vor diesem Moment. Ihr Mann war sich sicher, dass das Kind gerade so lange hatte leben wollen, um geweiht zu werden. Dann, so der Vater, werde es dieser Welt wieder entschwinden.

Tatsächlich verweigerte das Baby am nächsten Tag die Nahrung. Am darauffolgenden Tag war es dasselbe – bis es wieder so schwächlich war wie bei seiner Geburt.

Vater und Mutter wachten von Stund an vor dem kleinen Bettchen. Der Vater hatte es eigens für ihr allererstes Kind voller Liebe und Vorfreude gezimmert. Während draußen weiterhin der Schneesturm wütete, als wollte er die Welt aus den Angeln heben, verschlechterte sich der Zustand des Kindes zusehends. Mit jeder Böe, die zornig gegen das erst vor Kurzem errichtete Heim peitschte, entrückte das Kind mehr dieser Welt; mit jeder Schneeflocke, die aus den dunklen Wolken zu Boden segelte, verloren die Eltern an Mut – bis zu dem Moment, als der Sturm urplötzlich aufhörte.

Es war nicht so, dass nach und nach keine Flocken mehr zu Boden schwebten oder der Wind abflaute, sondern von einer Sekunde auf die nächste verschwand das Unwetter, als hätte es nie existiert.

In derselben Sekunde, in der die letzte Schneeflocke auf die Veranda fiel, fing das Kind an zu schreien. Es schrie und schrie aus seiner winzigen Lunge, der man derlei Laute gar nicht zugetraut hätte. Die Kraft, die aus diesem Schrei sprach, zeugte von einem unbändigen Überlebenswillen; von einem Geist, der in dieser Welt verbleiben und sich nicht vertreiben lassen wollte.

Von diesem Moment an trank das Baby. Es wurde zunächst nicht so kräftig wie andere Kinder in diesem Alter, doch wurde es zusehends stärker, wuchs und war so gut wie nie krank. Andere Kleinkinder wurden geboren und verließen die Welt wieder. Sirany blieb.

An ihrem fünften Geburtstag zog wieder ein Sturm herauf. Schneeflocken fielen dicht an dicht zu Boden und bedeckten jeden Fleck Erde, den sie erobern konnten. Der wilde Wind fuhr in die Äste und Zweige der Bäume, rüttelte und zerrte an ihnen, bis sie nachgaben und mit einem Knirschen zu Boden fielen.

Am gleichen Tag fielen die Shari über Siranys Welt her, unterwarfen ihr Volk und vernichteten ganze Familien – einfach nur, um ihre neue Herrschaft unter Beweis zu stellen. Das alles geschah so schnell, dass viele erst Wochen später erkannten, was für ein Grauen sie ereilt hatte.

Nur wenige stellten sich den plündernden Scharen der Shari entgegen und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Siranys Volk, die Farreyn, bestand zum Großteil aus Bauern, die jeden Tag mit der Natur zu kämpfen hatten. Mit Schwertern einem anderen Volk entgegenzutreten war ihnen neu.

Daher war es nicht verwunderlich, dass der Feldzug der Shari nicht lange andauerte. Innerhalb von drei Wochen hatten sie das magere, unerfahrene Heer des Königs der Farreyn unterworfen, die Adeligen entmachtet und den Thron an sich gerissen. Der König selbst verschwand von der Bildfläche dieser Welt, ermordet in den finsteren Gewölben seiner eigenen Verliese. Allein und unbemerkt.

Statt ihm bestieg der Herr der Shari den Thron, der sich als alleiniger Gott und Herrscher ansah. Wild entschlossen, seine Macht sogleich unter Beweis zu stellen, erließ er Tausende von neuen Gesetzen. Schwindelerregend hohe Steuern wurden erhoben, das Vieh den Bauern entrissen und die Äcker an sharische Adelige verschenkt. Siranys Volk konnte nichts mehr ihr Eigen nennen. Die einzige Ausnahme betraf ihr nacktes Leben – und dieses wollten die wenigsten durch eine Revolte verlieren.

Siranys Eltern taten das, was die anderen ebenfalls machten. Sie zogen die Köpfe ein und hofften, der Sturm möge an ihnen vorüber­gehen. Heerscharen von fremden Soldaten zogen durch ihr kleines Dorf; brandschatzten, mordeten, plünderten. Doch das Haus der kleinen dreiköpfigen Familie blieb unbehelligt.

Mit den Soldaten kamen die Händler, die mit etwas handeln wollten, was niemand kaufen konnte. Es war eine dunkle Zeit, voller Hunger und Verzweiflung.

Sirany betrachtete diese Welt voller Staunen. Sie sah grimmige Soldaten an sich vorüberziehen, genauso hungrig wie sie und voller Hass auf ihr hartes Los. Das Klirren Tausender Waffen wurde zu einem beständigen Gesang, der sie abends in den Schlaf wiegte, während sie sich die zitternden Männer draußen in der Kälte vorstellte.

Sie bedauerte sie, obwohl sie ihr Land überfallen und niedergerungen hatten. Alles, was sie registrierte, waren die erschöpften, traurigen und kranken Männer dort draußen, die um ihr Leben kämpften.

Nach den Händlern und Soldaten kehrte endlich etwas Normalität in den Alltag der Unterworfenen zurück. Das Leben war hart, meist knapp an der Grenze zum Verhungern, doch es war erträglich.

Das fremde Volk führte indes nach und nach seine Sitten ein, verbot den Gott der Farreyn, verbrannte ihre Kirchen und führte seine eigene Religion ein. Alexej, König der Shari, durfte nur noch als einziger wahrer Gott angebetet werden. Volksversammlungen wurden schwer bestraft, Feste durften nicht gefeiert werden. Die Toten wurden begraben und nicht mehr verbrannt – und die Kinder bekamen andere Namen.

Nach und nach verlor Siranys Volk seine Identität. Überall dort, wo man sie bewahren wollte, wurde sie ihm mit einer Brutalität genommen, die weitere Versuche sofort im Keim erstickte.

Sirany hieß fortan Saka. Sie wurde in das neue Geburtenregister unter diesem Namen eingetragen, ihre Eltern verzeichnet und als Staats­bürgerin der Shari anerkannt. Allerdings mit dem Vermerk L. Leibeigene.

Ihr Lehnsherr hieß Kamu. Numa Kamu. Er war ein grausamer Mann. Seine Familie hatte in seinem eigenen Land nur einen winzigen Fleck Erde, auf dem sie leben konnten. Während der Streifzüge mit seinem Herrn hatte er sich Ehre erworben und somit eine der größten Ländereien der Farreyn errungen.

Voller Stolz und Pflichtgefühl, seiner Familie weiterhin gut zu dienen, machte er sich ans Regieren. Disziplin und Züchtigungen hatte er von der Pike auf gelernt. Seine harte Erziehung übertrug er nun auf seine Untergebenen durch strenge Gesetze und noch härtere Strafen bei Verstößen.

Dieses Verhalten allein trug ihm nicht seinen Spitznamen ein, mit dem er Jahre später in den Geschichtsbüchern erscheinen sollte.

Er war Numa Kamu der Unersättliche. Sonst lasterfrei, von seiner angeborenen Grausamkeit einmal abgesehen, konnte er nicht von den Frauen lassen.

Die jungen hatten es ihm angetan. Die jungen, hübschen und unerfahrenen. Sie durften nicht viel Speck auf den Hüften haben, was ihn zu dem Wahn veranlasste, seine Untergebenen hungern zu lassen.

Wer sich verweigerte, wurde genommen.

Von nun an lebten Siranys Eltern in der ständigen Angst, der verrückte Lehnsherr könne auf ihre kleine Tochter aufmerksam werden. Kinder ließ der Mann in Ruhe, doch sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten und seinen Anforderungen entsprachen, waren sie nicht mehr vor ihm sicher.

Zu ihrem Leid entwickelte sich Sirany zu einer ansehnlichen jungen Frau. Der Babyspeck verschwand ebenso wie die ungelenken Bewegungen. Sie hielt sich aufrechter als so manch andere, blickte mit neugierigen, von dichten, langen schwarzen Wimpern umrahmten Augen in eine ihr fremde Welt.

Aus den Härchen eines Neugeborenen wurden schwarze, lange Haare, die ihr wie ein dunkler Fluss den Rücken hinunterrannen. Meist wurden sie zu einem dicken Zopf geflochten und streng hochgesteckt, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen.

Ihre grünen Augen konnte man schlecht verstecken. Ebenso wenig wie ihr anziehendes Lächeln, das ihr gesamtes Gesicht erstrahlen ließ, als sei die Sonne gerade in ihr aufgegangen.

Nein, Sirany konnte man nicht übersehen.

Und gerade wegen ihrer zierlichen Gestalt und der unschuldigen Aura, die sie umgab, passte sie genau in das Beuteschema des Lehnsherrn.


Viele Jahre zogen vorüber. Die Zeiten wandelten sich, genau wie die Stimmung im Volk.

Als Sirany gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, ging eine fast unerklärliche Unruhe durch die unterdrückten Farreyn. Sie witterten die Freiheit, die der Frühling wie jedes Jahr versprach.

Dieses Jahr jedoch waren sie bereit, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen.

Tage später wurde der gerade eingekehrte Friede wieder jäh von Schwerterklirren durchbrochen. Notdürftig zusammengezimmerte Klingen trafen auf die scharf gewetzten Schwerter erfahrener Soldaten. Die Bauern kämpften mit dem Mut der Verzweiflung – mit einer Tapferkeit, die sie vor fünfzehn Jahren nicht hatten aufbringen können. Genau wie es vor so vielen Jahren bereits abzusehen war, konnte der Sieg der Freiheit nicht errungen werden.

Immerhin brachten die Bauern aus Siranys Volk den fremden Soldaten so viele Verluste bei, dass der König begann, sich Sorgen zu machen. Er hatte nicht mit einem Aufstand gerechnet, nicht von einem Volk voller Bauern, und schon gar nicht hatte er sich auf die grimmige Miliz vorbereitet, die sich innerhalb eines Monats formierte und nun sogar mit Taktik gegen den Feind vorrückte.

Der König war kein dummer Mann und auf der Nase ließ er sich nicht herumtanzen. Er hatte einen Trumpf im Ärmel, den er nun hervorzog.

Keine zwei Tage später hielten die Assaren Einzug in das von Krieg gebeutelte Land. Ein jeder dieser Krieger war in der Lage, gegen ein halbes Dutzend Bauern zu kämpfen und zu gewinnen.

Man sagte ihnen schnell Magie nach, denn sie kamen wie der Tod, leise, fast unbemerkt und ebenso effektiv. Wer mit der Klinge dieser Männer Bekanntschaft gemacht hatte, konnte später nicht mehr darüber erzählen.

Sie waren Schatten in Siranys Land. Schatten, die töteten, wenn sie hervortraten, und leise wieder verschwanden.

Niemand wusste etwas über dieses Volk, aber es war da und es schlug die Revolte so schnell nieder, wie sie gekommen war.


Als wieder Ruhe einkehrte, nahmen die überlebenden Bürger an, mit dem Krieg hätten auch die Assaren das Land verlassen. Die Einzige, die vom Gegenteil überzeugt war, war Sirany. Das hatte einen ganz bestimmten Grund. Sirany hatte die Assaren gesehen und als solche erkannt. Sie wusste, dass sie weiterhin da waren.

Vor einigen Wochen waren die Assaren durch ihr Dorf geritten. Keiner der Dorfbewohner hatte bemerkt, wen er dort vor sich hatte, und nur Sirany ahnte, was die wahre Identität der unauffälligen Männer war.

In ihre dicken, dreckigen Umhänge gehüllt, die Köpfe gesenkt und die Ponys struppig und mager, hatten sie nicht viel anders ausgesehen als jede andere Reitergruppe. Sirany jedoch hatte gespürt, dass dem nicht so war. Neugierig war sie den fremden Männern ein Stück des Weges gefolgt und hatte beobachtet, wie sie in den Tiefen des angrenzenden Waldes ihr Lager aufbauten und dort fortan blieben.

Sirany war fasziniert von ihnen. So düster sie nach außen hin erschienen, wirkten sie dennoch nicht wie die Mörder, von denen man ihr erzählt hatte. Sie sahen eher wie eine von Kummer und Pein erdrückte Gruppe besiegter Soldaten aus. Dieses Bild setzte sich in Siranys Kopf fest und führte dazu, dass sie die Assaren eher mit großer Neugierde denn mit Furcht betrachtete.

Ihre Faszination für dieses Volk wuchs sogar, als sie Wochen später feststellte, dass sich die Anzahl der Männer reduziert hatte. Zwei von ihnen waren gestorben, wie sie nach Auffinden zweier Grabstellen feststellte. Die geheimnisvollen Krieger waren keineswegs so unsterblich, wie das Gerücht verbreitete.

Ganz entgegen der Sitte der Shari mussten sie die Toten erst verbrannt und danach die Asche in einem kleinen Hügelgrab beigesetzt haben. Das erkannte Sirany schon allein an der Größe der Gräber. Es waren Urnengräber, die vom König der Shari verboten worden waren. Fast liebevoll waren einige wenige Blumen gepflanzt und zwei Schwerter in die Erde gesteckt worden. Vermutlich ein Zeichen für einen Brauch, den Sirany nicht kannte. Die Schrift auf den scharfen Klingen konnte Sirany nicht entziffern, geschwungene Runen wie gemalte Bilder, mystisch und geheimnisvoll.

Fast wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte, legte auch Sirany eine kleine Handvoll Blumen auf die Gräber, ging fort und kam zwei Tage später, um die verwelkten Pflanzen voll schlechten Gewissens wieder fortzunehmen.

Hätte man sie dabei beobachtet, wie sie dem Feind die letzte Ehre erwies, so hätte ihr Volk sie des Verrats bezichtigt. Doch im Tode waren nach Siranys Ansicht alle gleich – und ein paar Blumen als Ehrerbietung würden schon niemanden in Schwierigkeiten bringen.

Eines, das wusste sie genau, war ihr verboten. Niemals, zu keiner Zeit durfte sie den Männern helfen. Viele ihrer Landsleute hatten durch ihre Hände den Tod gefunden. Sie hatten verhindert, dass ihr Volk seine Freiheit erlangte. Ein guter Grund, um die Assaren als Feinde zu bezeichnen.

Ihren Schwur musste sie ein halbes Jahr später gründlich überdenken, nachdem sie Blutspuren im Wald gefunden hatte.

Erst dachte sie, es wäre das Blut eines Tieres. Sie folgte der Spur in der Hoffnung auf leichte Beute, denn auch ein Farreyn-Mädchen konnte durchaus jagen, musste aber bald ihren Irrtum einsehen. Anstatt auf ein verwundetes Reh zu stoßen, führte sie die Fährte geradewegs auf das Lager der fremden Männer zu.

Der Grund für das Blut auf dem Boden war nicht schwer zu ergründen. Einer von ihnen musste verletzt sein, blutete so stark, dass man der Spur ohne Probleme folgen konnte. Das war nicht ihre Angelegenheit – und somit machte Sirany rasch wieder kehrt und lief ins Dorf zurück.

Zwei Tage später erwischte sie sich dabei, wie sie einen Korb mit Verbänden, Nähzeug und fieberstillenden Mitteln auf eines der Gräber stellte, in der stillen Hoffnung, er möge gefunden werden.

Sirany hätte nicht sagen können, warum sie dies tat. Sie tat es einfach und wie sich später herausstellte, hätte sie nichts Besseres tun können.

Der Gesang des Sturms

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