Читать книгу Sieger über das Dunkel - Liane Sanden - Страница 10

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Gerhard Hessenbrock war endlich der Einladung seines Freundes Veldten gefolgt. Die junge Frau war noch beschäftigt und so hatten Veldten und Hessenbrock sich ihre geliebte Schachpartie vorgenommen. Das Schach hatte sie in der gemeinschaftlichen Studienzeit zusammengeführt. Denn damals schon bestand diese Freundschaft zwischen ihnen. Gerhard Hessenbrock hatte auf Veldten von jeher eine grosse Anziehungskraft ausgeübt. Veldten erkannte sehr bald den wertvollen, energischen Charakter in Gerhard. Aber er hatte um ihn förmlich werben müssen. Veldten, der junge Rheinländer, der in Sorglosigkeit und Fröhlichkeit aufgewachsen war, hatte den Norddeutschen in einem Kolleg kennengelernt. Ein Zusammensein am gleichen Tage hatte Gerhard Hessenbrock ablehnen müssen. Er hatte noch Unterricht geben müssen. Diese Nebenbeschäftigung als Hauslehrer war die Quelle, aus der er die Mittel zur Fortsetzung seines Studiums schöpfte. An einem der nächsten Abende waren die beiden jungen Leute zusammengekommen. Veldten hatte, ohne sich dabei etwas zu denken, ein gutes Bierlokal vorgeschlagen. Aber nach dem ersten Abend hatte Hessenbrock mit Bestimmtheit erklärt, dass sie einen anderen Treffpunkt wählen müssten. Seine Kasse erlaubte solche Ausgaben nicht. Veldten war überrascht gewesen. Dies solidere, wenn auch etwas teure Lokal war für ihn ja etwas Alltägliches gewesen. Nie hatte er daran gedacht, dass manche Menschen es nicht bezahlen konnten. Selbstverständlich hatte er sich aber den Wünschen seines neuen Freundes gefügt. Ja, die Offenheit von Gerhard Hessenbrock hatte ihm gefallen. Und noch mehr in der Folgezeit die Bestimmtheit, mit der Gerhard es zurückwies, sich von dem wohlhabenden Freunde gelegentlich aushelfen zu lassen.

Dabei hatte Veldten manchmal den Eindruck, dass Gerhard eine solche gelegentliche freundschaftliche Gefälligkeit sehr gut hätte brauchen können. Beinahe wäre es deshalb einmal zu einer Entfremdung zwischen ihnen beiden gekommen.

Gerhard hatte mit ein paar scherzhaften Worten die Schachpartie für den nächsten Tag abgesagt. Er hatte Veldten eine Rohrpostkarte geschickt, mit der er sich entschuldigte. Einige Glassplitter wären bei einem kleinen Unfall im Laboratorium eine zu innige Verbindung mit Gerhard Hessenbrocks Gesicht eingegangen. Fritz Veldten hatte sich nach dem Kolleg aufgemacht, um Gerhard Hessenbrock aufzusuchen. Er fand ihn mit verbundenem Kopf bei seiner Mittagmahlzeit aus Tee, den Gerhard aus seinem Spirituskocher zurechtgebraut hatte, ein paar Schrippen, einer gelben Masse, die Veldten innerlich als Margarine ansprach und einer unwahrscheinlichen kleinen Portion Leberwurst. Als Veldten sich davon überzeugt hatte, dass die Verletzungen von Gerhard nur leichter Natur waren, machte er ihm Vorstellungen über diese unzureichende Ernährung nach erheblichem Blutverlust. Gerhard Hessenbrock nahm die Vorwürfe humoristisch auf. „Bei uns Chemikern ist sowas ganz einfach ein Betriebsunfall, mit dem man als selbstverständlich zu rechnen hat. Wenn man daraufhin jedesmal eine extra Wurst gebraten bekäme, — ich glaube, die Glasindustrie würde eine erhebliche Absatzsteigerung zu verzeichnen haben. Der Medizinmann in dir will sich nur wichtig machen, Fritz. Ihr glaubt immer, eure Patienten sind schon so wenig widerstandsfähig, dass sie nicht nur eure Mixturen schlucken, sondern sich auch noch vorschreiben lassen, dass sie sich mästen müssen.“

Gleich darauf verwickelte Gerhard seinen Freund Fritz Veldten in ein Schachproblem, über dessen Lösung die beiden alles andere vergassen. Fritz Veldten wollte zum Schluss die gefundene Lösung aufschreiben. Er griff nach einem Blatt Papier, das auf dem Tisch lag. Aber Gerhard Hessenbrock nahm das Blatt dem Freunde aus der Hand. „Respekt vor den Arrivierten! Das ist ein Brief von Generaldirektor Werffen. Weisst du, von der grossen chemischen Fabrik in Hamburg.“

„Von dem Farben-Werffen?“ fragte Fritz Veldten zurück. „Was führst du denn mit dieser aufsteigenden Grösse für Korrespondenz?“

„Fachsimpelei!“ antwortete Gerhard lakonisch. „Und daneben noch ein bisschen Familiensimpelei.“

„Was habt ihr beide denn Familie zu simpeln?“ fragte Fritz Veldten erstaunt.

„Der gute Onkel ist neugierig. Heute will er wissen, wie ich es fertig bringe, mit meinen Zinsen auszukommen. Er will mir schon seit Jahren durchaus einen Zuschuss geben und schimpft, dass ich dankend ablehne. Ich hab aber keine Lust, irgend jemand verpflichtet zu sein. Das will er nicht verstehen, quatscht von selbstverständlichen Verpflichtungen, die zu erfüllen er doch ohne weiteres auch in der Lage sei, und so weiter.“ Gerhards Stimme bekam einen leichten Anflug von Schärfe. „Ich will ohne Verpflichtungen dastehn, wenn ich mein Studium beendet habe, auch ohne moralische Verpflichtungen. Das mag eine Marotte sein, ich hab sie aber nun mal.“

Fritz Veldten versuchte vergeblich, dem Freunde klar zu machen, dass von jeher der begüterte Verwandte sich der Begabung in der Familie zur Verfügung gestellt habe, dass Gerhard sich das Leben doch etwas erleichtern könne, ohne sich damit das geringste zu vergeben, Gerhard war von seinem Standpunkt nicht abzubringen.

Zum erstenmal seit ihrer Bekanntschaft wurde Gerhard Hessenbrock dem Freunde gegenüber heftig.

Fritz Veldten wollte sich nicht geschlagen geben.

„Du übersiehst ganz, Gerhard, dass du mit deinem Einsiedlerleben dir Möglichkeiten für deine Zukunft verbaust. Ein Mensch von deinen Fähigkeiten könnte Verbindungen für die Zukunft anbahnen. Du bist auch in den alltäglichsten gesellschaftlichen Formen so ungewandt, dass du später zusehen wirst, wenn Unbedeutendere dir vorgezogen werden, nur weil sie über bessere Verbindungen verfügen und gewandter sind.“

„Lass sie, Fritz. Wenn ich meinen Weg nicht auf Grund meiner Leistungen mache, auf andere Weise bestimmt nicht. Ich will auch nicht.“ Fritz gab den Kampf noch nicht auf. Erst als Gerhard Hessenbrock energisch bat, das Thema fallen zu lassen, gab Fritz nach. Aber die Freunde trennten sich verstimmt.

Man söhnte sich dann aber wieder bei einer Schale Schwarzem und der geliebten Schachpartie aus.

Das war damals der Anfang jener Freundschaft gewesen, die sich mit den Jahren zwischen den Männern immer mehr vertieft hatte. Man war gewöhnlich allwöchentlich einmal zusammen. Und nur eben in den letzten Wochen hatte Gerhard es seiner Arbeit wegen nicht mehr gekonnt.

Gerade, als Frau Brigitte Veldten hereinkam, wurde Dr. Veldten telefonisch zu einem Kranken der Nähe gerufen. So blieben Gerhard und Frau Brigitte allein. Er war darüber nicht böse. Denn er hatte die warmherzige, gescheite Frau seines Freundes sehr schnell in die Freundschaft einbezogen. Eine Plauderstunde mit ihr war immer ein menschlicher Gewinn.

„Das war wohl Ihre Kusine Annelore, Gerhard, mit der Sie gestern an mir vorbeikamen? Ja? Ein entzückendes Geschöpfchen! Ist es richtig, dass Fräulein Werffen mutterlos ist?“

„Ja. Die Mutter ist gestorben, als Annelore noch ein kleines Kind war. Leider hat mein Onkel keine Erzieherin finden können, die es verstanden hätte, der kleinen Annelo etwas Ersatz für den Verlust zu geben.“

Nachdenklich sagte Frau Brigitte:

„Dann muss es doch für die Kleine recht einsam im Haus gewesen sein. So ein Mädelchen ohne Mutter —“

„Und um so mehr, als mein Onkel Werffen ein vielbeschäftigter Mann ist. Er hängt unendlich an seiner Tochter und sie an ihm. Jedoch viel Zeit konnte er ihr nie widmen.“

„Aber ein solch junges Geschöpf braucht doch jemanden, an den es sich anschliesst. Eine Frau, mit der es über Dinge sprechen kann, für die auch der Vater ungeeignet ist. Braucht Erfahrung und Güte.“

„Ja, liebe Frau Brigitte, soweit ich dazu in der Lage bin, vertrete ich die Rolle einer etwas vorgeschrittenen Kinderfrau.“

Brigitte streifte Gerhard mit einem kurzen, forschenden Blick. Sie antwortete nicht.

Gerhard hatte diesen eigentümlichen Blick beobachtet: „Ich lese so etwas, wie Missbilligung in Ihren Augen, Frau Brigitte. Sie sind doch sonst so offen. Erscheint Ihnen da etwas unpassend?“

„Unpassend?“ sagte Frau Brigitte zögernd, „das wäre nicht das richtige Wort. Etwas ungewöhnlich eher und, lieber Gerhard, auch nicht ganz unbedenklich für Sie beide.“

„Da sehen Sie wohl doch zu schwarz, Frau Brigitte. Wir sind doch schliesslich nahe Verwandte.“

„Haben Sie noch nie daran gedacht, dass diese Vertrautheit eines so jungen Mädchens einem Manne gegenüber — auch wenn er ihr Vetter ist — zu einer seelischen Bindung führen kann, an die Sie nicht denken?“

„Sie haben wahrscheinlich recht, Frau Brigitte. Aber ein solcher Gedanke ist mir nie gekommen. Wir Männer wissen so wenig von dem, was in so einer Mädchenseele vorgeht. Aber da kommt mir ein wundervoller Gedanke: Frau Brigitte, dürfte ich Annelore nicht einmal zu Ihnen bringen? Ich habe so das Gefühl, Sie könnten ihr etwas sein. Ich habe ihr auch schon von Ihnen erzählt.“

„Aber gern, Gerhard, wenn Sie glauben — Ihre kleine Kusine soll mir willkommm sein. Ich habe ja aus meiner Lehrerinnenzeit einige Erfahrungen im Umgang mit jungen Menschen.“ Mitten aus dem weiteren Gespräch fragte Frau Brigitte plötzlich:

„Sagen Sie mal, Gerhard, gedenken Sie denn immer so einschichtig durchs Leben zu gehen? Ist Ihnen denn noch nie ein junges Mädchen begegnet, das ein tieferes Interesse bei Ihnen geweckt hat?“

Ganz erschrocken richtete sich Gerhard aus seiner bequemen Plauderstellung auf:

„Mir? Nein! Aber wie um alles in der Welt kommen Sie auf diese Idee, Frau Brigitte?“

Lachend sah Brigitte zu Gerhard hinüber. Ein Blick warmer Freundschaft streifte ihn.

„Ist denn das etwas so Unmögliches? Ich würde mich herzlich freuen, wenn Ihnen jemand begegnete, den Sie lieben lernten. Für Sie und für das Mädchen. Ihre Frau wird es mal sehr gut bei Ihnen haben. Und Sie wissen doch, Frauen, die selbst glücklich sind, möchten auch ihre Freunde gern glücklich sehen.“

Mit komischem Entsetzen wehrte Gerhard ab:

„Mir ist ganz wohl so, Frau Brigitte. Ich möchte an meinem Leben gar nichts geändert sehen.“

„Wenn das nur so bleibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade ein Mensch wie Sie einsam durchs Leben gehen will. Ich glaubte immer, Sie hätten ein starkes Bedürfnis, einen Menschen zu lieben, für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen.“

Gerhard antwortete nicht. Er hielt erstaunt den Blick auf Frau Brigitte gerichtet. Seine Züge bekamen einen grübelnden Ausdruck. Hatte Brigitte nicht recht? Hatte er nicht tatsächlich manchmal schon ähnliche Gedanken gehabt? Tagträume, die er schnell von sich wies? Sah er seine Stellung zu Annelore wirklich nur als die eines Beraters und Schützers an? Gerade wollte er etwas sagen, als draussen die Korridortür ging. Fritz Veldten trat ins Zimmer.

„Habt ihr euch gut unterhalten, ihr beiden?“ Er küsste seine Frau auf die Stirn, „was ist denn mit Gerhard los? Der macht doch sein Grüblergesicht. He, Gerhard, wollen Sie noch eine welterschütternde Erfindung machen?“

„Welterschütternd? Nein! Aber ich fürchte fast, eine Entdeckung habe ich eben gemacht.“

*

Am nächsten Tage sassen Geheimrat Werffen, Gerhard Hessenbrock und der Syndikus Dr. Walther in Werffens Arbeitszimmer zusammen. Geheimrat Werffen hatte darauf bestanden, den neuen Vertrag mit Gerhard über dessen Erfindung sofort abzuschliessen.

Dr. Walther übergab Gerhard einen Entwurf aus der Mappe, in den nur noch die Ziffern über prozentuale Beteiligung einzusetzen waren.

„Herr Dr. Hessenbrock, dieser Vertrag hätte eigentlich vor der Patenteintragung erfolgen müssen. Es muss eine reinliche Linie zwischen Ihren Rechten und denen der Werffenwerke gezogen werden. Sie mögen ein guter Chemiker sein. Ein tüchtiger Kaufmann sind Sie bisher nicht. Aber auch die Werffenwerke müssen sich dagegen sichern, dass Sie nicht eines Tages unangemessenene Ansprüche erheben.“

Gerhard lachte: „Diese Besorgnis haben wohl weder Sie ernsthaft, noch sonst jemand im Werk.“

Geheimrat Werffen nickte Gerhard zu. „Nein, die Besorgnis hat niemand. Aber ich kann eines Tages sterben, Gerhard, die juristische Form der Werffenwerke kann geändert werden. In solchen Dingen ist falsche Sentimentalität nicht am Platze. Sieh dir die Quote an“, Geheimrat Werffen schob Gerhard ein Vertragsformular, in das er Zahlen eingesetzt hatte, herüber, und Gerhard erklärte sich einverstanden. Er unterzeichnete und nahm das gegengezeichnete Vertragsformular an sich. Werffen wandte sich nochmals an den Syndikus:

„Wie steht es mit den Patentanmeldungen für das Ausland, Herr Doktor?“

„Die sind in die Wege geleitet, Herr Geheimrat. Vorläufig sind wir ja durch die Anmeldung hier geschützt.“

„Beschleunigen Sie die Auslandsanmeldungen! Und du, Gerhard, lass bitte Muster und Versuchsmaterial für das Ausland vorbereiten. Hier“, Werffen nahm eine Anzahl Telegramme vom Schreibtisch, „es liegen eine Anzahl dringender Auslandsanfragen bereits vor. Es ist überraschend, wie schnell man sich bemüht, eine neue Verbindung anzuknüpfen, um den drückenden Bedingungen der bisherigen Farbstoffgesellschaft zu entgehen.“ Mit einem leisen Seufzer setzte er hinzu:

„In diesem vertrauten Kreis kann ich’s ja ruhig sagen: Mir wäre es lieber, wenn die Entwicklung nicht so schnell vor sich ginge. Die Geldinvestierungen wachsen einem sonst zu leicht über den Kopf.“

„Ist sonst noch ein Punkt zu besprechen, meine Herren? Nein? Dann auf Wiedersehen.“

Sieger über das Dunkel

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