Читать книгу Sieger über das Dunkel - Liane Sanden - Страница 4
Оглавление„Zum letzten Male sage ich dir, ich warne dich!“ Die schwere blaugeäderte Hand des alten Herrn fiel dröhnend auf den grossen Schreibtisch. Die Aderstränge auf der mächtigen Stirn waren angeschwollen. Er atmete schwer, bemühte sich, ruhig zu werden. Aber es war ein drohendes Grollen in seiner Stimme, wie er jetzt noch einmal sagte:
„Ich warne dich zum letztenmal, Heinz!
Wenn du dieses Leben nicht aufgibst, dann habe ich einen Sohn besessen. Verstehst du mich? Ich werde es nicht dulden, dass du durch deinen Leichtsinn mein altes Werk gefährdest.“
„Aber Vater“, versuchte der hübsche blonde Mensch einzuwerfen.
Mit einer harten Handbewegung schnitt Kommerzienrat Mühlensiefen die Worte des Sohnes ab:
„Genug von deinen Entschuldigungen. Ich kenne sie bis zum Überdruss. Aber ich sage dir, ich mache Ernst. Ich gebe dir eine letzte Möglichkeit. Du gehst in die Fabrik eines meiner Freunde und versuchst, dort wie jeder anständige Mensch zu arbeiten. Begabt genug bist du. An deiner Ausbildung ist nicht gespart worden. Wenn du wolltest, du könntest viel leisten. Aber du willst eben nicht.“
Das letzte klang gramvoll. Gramvoll war auch der Blick, mit dem Kommerzienrat Mühlensiefen in das Gesicht seines Einzigen sah. Wie war es nur möglich, dass der Junge so aus der Art geschlagen? Er und seine Frau, sie hatten sich von klein heraufgearbeitet. Vom kleinen Werkmeister bis zum Gründer und Besitzer der Fabriken Mühlensiefen. Und für wen hatten sie dies alles getan? Für diesen einzigen Sohn, der jetzt mit diesem halb verlegenen, halb leichtsinnigen Ausdruck vor Kommerzienrat Mühlensiefen stand. Mühlensiefen seufzte auf. Vielleicht war es nicht doch nur Schuld des Jungen, sondern auch Schuld der Erziehung. Mühlensiefen hatte ja immer versucht, gegen die Vergötterung anzugehen, welche die Mutter mit dem kleinen Heinz trieb. Innerlich musste er sich zugestehen, er selbst war oft schwach gewesen. Alles, was er und seine jüngst verstorbene Frau in dem harten Leben der Jugend entbehrt, der kleine Heinz hatte es haben sollen in unzerstörter Fülle. Das hatte sich gerächt. Heinz hatte wohl nichts anderes gelernt, als dass der Vater unerschöpfliche Mittel und die Mutter unerschöpfliche Liebe für ihn bereithielt. Er wusste nicht, dass Reichtum verpflichtete. Die Fabrik des Vaters schien nur dazu da zu sein, um ein bequemes und leichtsinniges Leben zu gewährleisten. Hart und härter waren die Kämpfe geworden, die Kommerzienrat Mühlensiefen mit dem Sohn führte, um seinen Einzigen zu einer anderen Lebensauffassung zu bekehren. Aber alles war vergeblich gewesen. Trotz aller Begabung, die Heinz besass, führte er ein Leben des Luxus, des Leichtsinns: Schulden, Spiel, Frauen waren die ständigen Etappen auf seinem Wege. Dann riss er sich wieder einmal zusammen, versuchte zu arbeiten. Und die Resultate waren glänzend. Aber das alles war nur wie ein trügerisches Aufflammen der Energie. Bald war es Heinz Mühlensiefen wieder viel bequemer, mit andern jungen Leuten sich einem bedenkenlosen Müssiggang hinzugeben. Vor einem Jahre schon war es zu schweren Kämpfen zwischen ihm und dem Vater gekommen. Der Vater hatte ihn damals nach Südamerika geschickt zu einer ihm befreundeten Firma. Er hatte Heinz gedroht, sich von ihm loszusagen, wenn die Berichte über sein Verhalten dort ungünstig wären. Merkwürdigerweise schien mit Heinz dort eine Wandlung vor sich gegangen zu sein. Denn die Nachrichten von Señor Aldrianos an den verehrten Geschäftsfreund, Kommerzienrat Mühlensiefen, waren des Lobes voll gewesen über Heinz. Seit einem halben Jahre war Heinz zurück. Noch in dem Augenblick, in dem er die Heimat betreten, schien er alles an guten Vorsätzen, Fleiss und Stetigkeit vergessen zu haben. Der Wechsel, den Kommerzienrat Mühlensiefen seinem Einzigen ausgesetzt, reichte nicht. Gestern waren ein paar sehr unangenehme Mahnbriefe in das Privatkontor des Kommerzienrats gekommen. Sie hatten den Groll des alten Herrn zum Überlaufen gebracht. Sein einziger Sohn, der Erbe der alten Firma, liess sich wegen Spielschulden mahnen — das war dem rechtlichen Sinn des alten Herrn unerträglich. Und darum sagte er jetzt noch einmal drohend:
„Du kennst nun meinen Entschluss. Wenn du durch deinen Leichtsinn dein Leben ruinieren willst, so weh es mir tut, ich kann es nicht ändern. Aber meine Firma lass ich mir nicht ruinieren. Es hängt ja nicht nur mein Name daran. Ich bin verantwortlich für Hunderte von Menschen, die bei mir Brot und Lohn finden. Ich werde es nicht dulden, dass die Sicherheit der Firma durch deinen Leichtsinn allmählich unterhöhlt wird. Ich erwarte Bescheid von meinem alten Freunde aus Hamburg, Geheimrat Werffen, ob man dich dort gebrauchen kann. Dann werden wir weitersehen.“
Heinz Mühlensiefen wollte etwas erwidern. Aber der Kommerzienrat hatte sich bereits wieder seiner Arbeit an seinem Schreibtisch zugewandt. So stand Heinz auf, zuckte die Achseln und ging mit einem leisen Gruss hinaus. Aber sowie er die Tür zu dem Privatbüro des Vaters geschlossen, nahm er eine unbefangene Haltung an und bemühte sich, möglichst heiter zu erscheinen. Es war nicht nötig, dass ihm die Angestellten, die ihm begegneten, etwas von dem anmerkten, was sich da drin abgespielt hatte. So ging er denn, den grauen Sommerhut schräg aufgesetzt, mit einem nachlässigen Lächeln durch die Gänge und erwiderte von oben herab die Grüsse der ihm Entgegenkommenden. In seinem Innern aber kochte es. Schauderhaft war es, dass man als erwachsener Mensch noch so von seinem alten Herrn abhängig war, nur weil der die Brieftasche zu — oder aufmachen konnte. Drüben, das war ein anderes Leben gewesen. Señor Aldrianos war ein Mann, der lebte und leben liess. Drüben bekam man Kredit, soviel man wollte. Und niemand drängte einen mit der Rückzahlung. Der einzige Sohn und Erbe von Kommerzienrat Mühlensiefen war den Leuten drüben sicher! Hier war alles ein Krämergeist, mit dem man nicht fertig wurde. Die Leute hier waren alle wie besessen von der Angst um das Geld. Zugegeben, es waren schwere Zeiten. Aber sie wurden schliesslich nicht besser, wenn man ewig klagte. Wozu war man jung und reich? Doch nicht, um wie ein Kuli von früh bis abends zu schaffen. Sein Vater freilich war anderer Meinung. Der war früh um acht einer der ersten im Betrieb. Und dachte noch längst nicht an Arbeitsschluss, wenn die Angestellten Feierabend gemacht hatten. So mochte er selbst nicht leben. Die Jugend war nur einmal da und man musste sie geniessen.
Was das nun wieder für eine Kateridee von dem alten Herrn war, ihn da quasi unter Aufsicht in irgendein Werk zu bringen! Heinz Mühlensiefen hatte nicht viel übrig für diese alten Geschäftsfreunde seines Vaters. Er kannte einige von ihnen. Alles respektable Herren. Gewiss, ungeheuer respektabel. Aber sie kannten auch nur eine Auffassung vom Leben: Arbeit und nochmals Arbeit. Und das würde nicht anders sein bei diesem Geschäftsfreunde, zu dem der Vater ihn schicken wollte. Aber es half nichts. Man musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Denn die Ebbe in der eigenen Kasse war erschreckend. Man musste durch Wohlverhalten den Vater zunächst wieder dahin bringen, dass er einen flott machte. Man brauchte ja nicht nur das Geld für sich allein. Da war auch noch Lou, die kleine süsse Krabbe. Und Frauen vom Schlage Lous waren niemals billig.
Der Gedanke an Lou stimmte Heinz Mühlensiefen fröhlicher. Sicherlich würde auf der Post einer ihrer lustigen Briefe liegen. Er musste ihr auch sofort schreiben, dass er von Hannover wegginge. Sie hatte ihm versprochen, sich mit ihm in Berlin zu treffen. Er würde ihr vorschlagen, falls er in die Verbannung zu irgendeinem dieser langweiligen Geschäftsfreunde musste, ihn zu begleiten. Hamburg war ja schliesslich kein Dorf. Auch in Hamburg liess es sich leben und sogar sehr gut.
Heinz Mühlensiefen war schon wieder ganz vergnügt. Er schlenderte in dem schönen Morgen die Hauptstrasse hinunter, sah mit aufmunterndem Lächeln manch hübschem Mädchen ins Gesicht und konstatierte mit Vergnügen, dass ebenso wohlgefällige Blicke ihn trafen. Man war jung. Man gefiel den Frauen. Und die Frauen gefielen einem selbst. Es gab doch noch allerhand Freude im Leben!
*
Geheimrat Werffen schob seufzend die Berichte und Zusammenstellungen zurück. Müde nahm er die Brille ab, legte sie sorgsam auf ihren Platz auf dem grossen Schreibtisch. Das Ergebnis seiner Prüfung war recht wenig zufriedenstellend. Sollte man wirklich zu Betriebseinschränkungen, zu Arbeiterentlassungen schreiten? Es war sein Stolz gewesen, dass er sein Werk langsam, aber stetig hatte entwickeln können. Seit einiger Zeit gingen die Umsätze zurück. Es lag nicht an der Krise. Farben wurden nach wie vor gebraucht. Aber andere, jüngere Kräfte, eine Gesellschaft mit grossem ausländischem Kapital drohte, den Markt an sich zu reissen. Die rote Lampe an der Aussentür, die jedem Werksangehörigen sagte „Eintritt verboten“, brannte. Dennoch klopfte es. Erstaunt blickte der Geheimrat zur Tür. Wer klopfte da so ungestüm, als hätte er das Recht, sich darüber einfach hinwegzusetzen? Jetzt wurde die Tür ohne weiteres aufgerissen. Ärgerlich erhob sich der Geheimrat. Aber seine Züge milderten sich, als er seinen Neffen, den Chefchemiker des Werkes, erkannte.
„Was gibt es so wichtiges, Gerhard, dass du mich so überfällst?“
„Onkel, ich muss dich sofort sprechen! Ich hab es! Hier, sieh her. Die neuen Proben! Ein glänzendes Resultat! Das macht uns so leicht keiner nach.“
Der grosse, schlanke Mensch, dem Freude und Stolz aus den Augen leuchteten, war vor Aufregung rot. Erstaunt betrachtete ihn der Geheimrat. Diese Lebhaftigkeit war er an Gerhard gar nicht gewöhnt. Gerhard war ihm mit seinen 32 Jahren oft viel zu ernst erschienen. Und es war ihm immer ein Rätsel gewesen, dass sein Wildfang, seine Annelore sich so schnell an den ernsten Vetter angeschlossen hatte. Dabei war Gerhard dem Mädel gegenüber keineswegs ein bequemer, nachgiebiger Vertrauter gewesen. Aber seine verwöhnte Einzige, der man schon um ihrer Mutterlosigkeit willen von früh auf so manches nachgesehen hatte, und die so überempfindlich und leicht scheu war, wenn ihr jemand nicht den Willen liess, mit Gerhard hatte sie vom ersten Tage eine Ausnahme gemacht. Wenn Gerhard etwas getadelt hatte, dann konnte man sicher sein, dass Annelore sich danach richtete. Es war manchmal eigenartig, die beiden zu beobachten. Annelore, die in ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit Gerhard immer mit fortreissen wollte, und der über seine Jahre ruhige, gesetzte Gerhard, an dessen Ruhe diese Versuche wirkungslos abprallten. Dr. Gerhard Hessenbrock hatte inzwischen, immer noch mit dem Ausdruck einer bei ihm ganz ungewohnt wirkenden Lebhaftigkeit eine Anzahl Stoffproben auf dem Schreibtisch ausgebreitet und dann die mitgebrachten Papiere geordnet. Nun wandte er sich mit scherzhafter Feierlichkeit an Geheimrat Werffen:
„Gestatten Sie, Herr Geheimrat, dass ich Ihnen einen kurzen Vortrag halte über die ohne Ihr Wissen in Ihrem Laboratorium gemachten Versuche mit lichtechten Farbstoffen. Hier sind die Stoffe in allen Farbtönungen, die mit dem neuen Farbstoff gefärbt sind. Hier“, er überreichte dem Onkel eine Anzahl Aufstellungen, „die Belichtungstabellen. Hier eine Aufstellung der Herstellungskosten, ausserordentlich niedrig. Hier Probe und Gegenprobe der Belichtungseffekte der Konkurrenzfarben. Wo sich bei den andern Farbmitteln bei den empfindlichsten Tönungen, bei bleu und lila schon Bleicheffekte zeigen, bleiben die mit unsrem neuen Mittel gefärbten Gegenproben noch vollkommen lichtecht. Und das Wichtigste: wir sind bei der von mir ausprobierten Herstellungsart vollkommen unabhängig vom Ausland. Alle Bestandteile für die Fabrikation sind in Deutschland zu haben. „Herr Geheimrat“, Gerhard verbeugte sich scherzhaft, „gestatten Sie mir, Ihnen zu dem neuen Aufschwung der Werffen-Werke Glück zu wünschen. Wenn Ihr Chefchemiker sich nicht gründlich täuscht — und das glaube ich nicht — schlagen wir auf Jahre hinaus mit diesen Farben alle konkurrierenden Werke, selbst die allmächtige Farbstoff-Gesellschaft aus dem Felde.“
Jede Spur von Müdigkeit war aus den Zügen des Geheimrats Werffen gewichen. Stück für Stück prüfte er jede der neuen Farben sorgsam, hielt sie unter die Tageslichtlampe, betrachtete sie mit einem starken Vergrösserungsglas und untersuchte in gleicher Weise die Gegenproben. Nach einem kurzen Blick auf die Belichtungstabellen sah er zu Gerhard auf, der ruhig abwartend seinen Untersuchungen zusah.
„Bist du dir darüber klar, dass dir hier ein ganz grosser Wurf gelungen ist? Und du Geheimniskrämer hast mir nichts von deinen Versuchen gesagt?“
„Ich wollte schweigen, Onkel, bis ich meiner Sache ganz sicher war. Du hast in den letzten Monaten Sorgen und Enttäuschungen zur Genüge gehabt. Glückte es, und es ist ja gottlob geglückt, dann war es noch immer Zeit. Aber die Enttäuschung eines Fehlschlages wollte ich dir ersparen.“
Bewegt schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand:
„Ich danke dir, Gerhard. Es ist in den letzten Monaten wirklich manches schief gegangen. Aber nun haben die Werffen-Werke wieder neuen Auftrieb. Nochmals Dank, mein Junge, du sollst dabei nicht zu kurz kommen. Wir wollen jetzt einmal die chemischen Formeln zusammen durcharbeiten.“
Fast zwei Stunden dauerte die Unterredung. Dann erhob sich Geheimrat Werffen:
„Genug für heute, Gerhard. Es ist ein grosser Erfolg, den du erreicht hast. Zum Abendessen bist du heut doch bei uns? Vielleicht sprechen wir dann noch über einiges.“
„Ich wollte zwar heute noch einen weiteren Versuch machen, Onkel. Die Farben machen mir viel zu schaffen.“
„Ist das der einzige Grund? Oder hast du dich mit Annelore gezankt? Das Mädel kommt mir seit einiger Zeit etwas still vor.“
„Kein Gedanke, Onkel. Und gezankt schon gar nicht. Dazu kommt es bei mir nicht so leicht. Ist etwas Besonderes mit Annelore?“
„Das nicht. Aber sie ist jetzt recht still. Erst dachte ich, du hättest ihr eine Standpauke gehalten. Also das ist es nicht. Nun, mit jungen Mädchen ist das so ’ne Sache. Man weiss da nie recht Bescheid. Die Mutter fehlt eben. Wird schon nichts weiter sein. — Also um 8 Uhr, Gerhard.“
Damit schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand und ging nach der Wohnung. Die lag dicht neben dem Werk in einem schönen Garten, den Werffen beim Bau hatte anlegen lassen. Seine Frau hatte es gewünscht. Sie liebte Sonne und Licht. Lange hatte sie sich nicht am Garten freuen können. Eine tückische Erkrankung hatte sie fortgerafft, viel zu früh für die lebensfrohe Frau. Viel zu zeitig aber auch für Werffen und vor allem für die kleine Annelore, die damals erst zehn Jahre alt war. Geheimrat Werffen hatte es nicht leicht gehabt mit der Kleinen. Gegen jede Hausdame, die an der Verwaisten Mutterstelle vertreten sollte, gegen jede Erzieherin hatte das Kind revoltiert. Und der Geheimrat hatte seinem Liebling nachgegeben. Immer wieder, bis er schliesslich alle derartigen Versuche aufgab. Annelore hatte sich zu einem schönen klugen Mädchen entwickelt. Aber eigenwillig war sie geblieben. Und für ihre Jugend zu verschlossen gegen Fremde. Nun, das legte sich vielleicht später, wenn ihr Herz einmal sprechen würde. Der Geheimrat überlegte: wie alt war das Mädel jetzt? Siebzehn? Da hatte er ja bald eine heiratsfähige Tochter! Aber heutzutage hatten die Mädels es damit nicht so eilig. Glücklicherweise, denn Werffen wünschte sehnlich, seinen Liebling noch recht lange bei sich behalten zu können.