Читать книгу Sieger über das Dunkel - Liane Sanden - Страница 8

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So sehr die Arbeit Gerhard bedrängte, er dachte an das Versprechen, welches er Annelore gegeben. Dies Versprechen musste er halten. Er hatte oft mit Interesse beobachtet, wie Annelore genau wie er in seiner eigenen Jugend sich mit Zweifeln und Skrupeln aller Art herumschlug, wie alles Auftauchende ihr einmalig und auf ihre Person zugeschnitten erschien. Wie Ungerechtigkeit und Unglück sie empörten, ihre Teilnahme weckten und den Wunsch, helfend einzugreifen. Erst aus den Gesprächen mit seiner jungen Kusine hatte er die Wahrheit des Satzes gelernt, dass jeder Mensch seine Erfahrungen selber machen müsse. Wie wenig nützte es doch einer Generation, dass die frühere die gleichen Gedanken gehabt, die gleichen Probleme erörtert, die Berechtigung oder Unberechtigung des gleichen Geschehens erwogen hatte.

Auch heute, kaum dass er Annelore abgeholt, hatte sie eine ganze Anzahl ihrer wichtigen kleinen Erlebnisse durchzusprechen. Aber sie gab sich zum Erstaunen von Gerhard nicht so offen, wie sonst. Er hatte das schon zu Beginn des Spaziergangs gemerkt. Er wartete darauf, dass Annelore in ihrer temperamentvollen Art schliesslich doch herauskommen würde mit dem, was sie in Wahrheit beschäftigte. Irgend etwas ihm gegenüber hemmte sie. Schliesslich fragte er sie geradezu.

Da blieb Annelore mitten in der gemeinsamen Wanderung stehen und sah Gerhard fest an:

„Fall ich dir eigentlich nicht lästig mit meinem Gerede über alle diese Unwichtigkeiten?“

„Aber, Annelore, du weisst doch, dass es mir eine Freude ist, wenn du Vertrauen zu mir hast.“

„Ja, aber du wirst doch jetzt ein ganz grosser Mann, Gerhard. Warum hast du denn nicht soviel Vertrauen zu mir gehabt, dass du mir von deiner grossen Erfindung etwas erzähltest?“

„Aber, Kind, das war ja bis gestern gar nicht spruchreif. Ich wusste auch nicht, dass du dich für solche Angelegenheiten interessierst.“

„Du musst mich noch für ein Gänschen halten, Gerhard. Wenn mir Pa heut mittag nicht davon gesprochen hätte, dann wüssten morgen meine Freundinnen alle mehr über den grossen Erfinder, als ich selbst. Ich hab während des ganzen Spaziergangs gewartet, dass du mir ein Wort darüber sagst.“

Gerhard lächelte unmerklich. Also das hatte der kleinen Annelore auf der Seele gelegen. Nun, das war ja wieder gut zu machen:

„Das nächste Mal mach ich’s besser, nun ich weiss, dass du auch über meine Arbeit unterrichtest sein möchtest.“

Annelore sah den Vetter von der Seite an. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Aber gleich darauf schloss sie ihn wieder. Und als sie nun zu plaudern begann, waren es lauter belanglose Dinge, anscheinend törichtes Mädchengeschwätz. Aber etwas Merkwürdiges, Hastiges, Unstetes war in der Art. Gerhard Hessenbrock fühlte: irgend etwas steckte dahinter, wie schon hinter dem ganzen Verhalten Annelores seit einigen Tagen. Nun, vielleicht würde sie bald wieder mit sich ins reine kommen. So ging er denn gutmütig auf Annelores Geplauder ein. Er ahnte ja nicht, was hinter all den oberflächlichen Reden steckte. Sonst wäre er wohl doch nachdenklicher und erschrocken gewesen.

Mit einer kleinen Bitterkeit und doch einer gewissen Erleichterung fühlte Annelore, es gelang ihr, ihren Vetter Gerhard zu täuschen. Sie musste diese Komödie des launenhaften, bald lustigen, bald gelangweilten, bald trotzigen Mädchens doch ausserordentlich gut spielen. Keiner ahnte, was darunter war: die tiefe Einsamkeit, die seit Kindheit auf ihr lastete. Der Vater, natürlich, er war der beste, liebevollste Vater! Aber er hatte immer nur zwischen der Arbeit ein paar Minuten Zeit für sein Kind gehabt. Und in ein paar Minuten konnte man nicht so sprechen, wie es einem ums Herz war. Überdies der Vater, er war ja doch ein Mann. Es gab Dinge, von denen man nur zu einer Frau sprechen konnte. Das spürte sie sogar Vetter Gerhard gegenüber. O ja, er war immer ihr guter Kamerad und verständnisvoller Freund gewesen. Aber das, was sie jetzt bedrängte, seelisch hin- und herwarf, das konnte sie ihm doch nicht sagen. Wenn sie eine wirkliche Freundin gehabt hätte! Aber Dorothee war, obwohl kaum jünger als sie, in ihrer ganzen Art und Entwicklung eher auf Annelore angewiesen, als Annelore auf Dorothee. Nein, eine Frau hätte man haben müssen! Reifer, älter, im Leben stehend. Das Leben und die Liebe kennend. Dann hätte man vielleicht sprechen können. So aber? Es bleibt einem nichts, als weiter die Rolle des verwöhnten kapriziösen Mädchens zu spielen. So brachte sie plötzlich das Gespräch ganz zusammenhanglos auf das Tanztournier im Alsterklub und ihr neues Reitpferd, das vom Trainer noch zugeritten wurde.

Als sie sich von Gerhard verabschiedete, konnte niemand etwas von dem dumpfen Kummer in ihrem Herzen ahnen.

Von Sonnabendmittag an war Ruhetag in der Villa Werffen. Der Geheimrat liebte es, den Sonnabendnachmittag allein und behaglich zu verbringen. Das war eine alte Gewohnheit aus der Zeit, in der er wochentags noch selbst mit zugegriffen hatte, weil er an Personal sparen musste. Er behauptete immer, ein Werk könne sich nur entwickeln, wenn sein Leiter auch praktisch in allen Abteilungen Bescheid wisse. Sonntag war sein Haus eins der gastfreisten, aber der Sonnabend gehörte ihm und Annelore. So war er wenig erfreut, als der Diener ihm zwei Besuchskarten überbrachte.

„Dr. Heinz Mühlensiefen“ stand darauf. Wie, schon heute, dachte er innerlich, laut aber sagte er:

„Bitten Sie den Herrn in den Empfangssalon. Fragen Sie auch, ob meine Tochter zuhaus ist. Geben Sie ihr die Karte. Ich lasse das gnädige Fräulein bitten!“

Wenige Minuten später begrüsste der Geheimrat seinen Besucher freundlich, ohne sich seinen Unmut über die Störung anmerken zu lassen. Der erste Eindruck, den er von ihm empfing, war günstiger, als er geglaubt hatte. Der junge Mühlensiefen machte einen frischen, gewandten Eindruck. Die äussere Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war zwar unverkennbar. Nur den etwas leeren, leichtsinnigen Zug um den Mund besass der Vater nicht. Ebenso wie er nichts von der übertriebenen Sorgfalt der Kleidung hatte, die der Sohn deutlich zur Schau trug. Die grauen Augen lagen etwas tief in dem gebräunten Gesicht, zu dem das weissblonde Haar noch besser gestanden hätte, wenn es nicht an den Schläfen und am Scheitel schon stark gelichtet gewesen wäre. Der Hinterkopf fiel etwas zu stark ab. Geheimrat Werffen reichte dem Besucher die Hand:

„Ich freue mich, den Sohn meines alten Freundes kennenzulernen. Wann sind Sie angekommen, Herr Doktor?“

„Vor ein paar Tagen, Herr Geheimrat. Mein Vater hat meinen Besuch wohl bereits angekündigt. Ich wünschte aber erst abzuwarten, ob seinem Wunsche wegen meiner Tätigkeit in Ihrem Unternehmen irgendwelche Gründe entgegenstehen.“

„Selbstverständlich nicht, Herr Doktor. Wenn Sie mich morgen im Werk aufsuchen, können wir darüber ja des näheren sprechen. Jetzt erzählen Sie mir bitte, wie es Ihrem Herrn Vater geht. Er schreibt leider nichts darüber.“

„Der alte Herr ist leidlich wohlauf. Er hat mir selbstverständlich viele Grüsse aufgetragen. Sehr viel Zeit hat er für mich nicht gehabt. Er ist ja aus seinem Büro am Tage nicht loszueisen und abends hatte ich natürlich über meine Zeit schon verfügt.“

Die Tür öffnete sich. Annelore betrat das Zimmer. Dr. Mühlensiefen verbeugte sich höflich vor dem jungen Mädchen. Ein halbes Kind, diese Tochter des Hauses, dachte er halb spöttisch, halb enttäuscht. Mit diesen jungen Dingern wusste er nie etwas anzufangen. Vom wirklichen Leben, besonders was Dr. Heinz Mühlensiefen unter Leben verstand, wussten diese jungen Kücken nichts. Dafür waren sie oft unbequem, und in ihrer Unerfahrenheit und Weltfremdheit waren sie gewohnt, an alle Menschen und an alle Dinge die grosse sittliche Forderung zu stellen. Der junge Mühlensiefen lenkte deshalb das Gespräch schnell auf das Gebiet über, das ihm geläufiger war.

„Welchem Tennisklub gehören Sie an, gnädiges Fräulein? Ich habe mir sagen lassen, dass Grüngelb der einzige ist, der in Betracht kommt.“

„Klubmitglied bin ich nicht“, sagte Annelore etwas zögernd, „wir haben hier am Haus einen sehr schönen Tennisplatz. Wir spielen auch regelmässig, aber ich glaube nicht, dass ich im Klub gut abschneiden würde. Unser Trainer behauptet zwar, dass ich es ruhig versuchen könnte.“

Mühlensiefen benutzte die Gelegenheit, um Annelore über seine Erfahrungen in den führenden Pariser und Neuyorker Klubs einzuweihen. Auf Annelores schüchterne Frage, „da haben Sie sicher auch schon eine ganze Menge Preise bekommen, Herr Doktor?“ erwiderte Heinz etwas betreten:

„Nein, an Tournieren habe ich mich nicht beteiligt und schliesslich ist ja so ein Klub nicht lediglich zum Sport da, sondern auch zum Flirt. Darin ist besonders Neuyork ein Vorbild. Überhaupt ist Amerika viel weniger spiessbürgerlich als in der Alten Welt. Dort geniesst die Jugend wenigstens ihr Leben.“

Als Annelore etwas verlegen schwieg, mischte sich Geheimrat Werffen in die Unterhaltung:

„Nach dieser Richtung brauchen wir wohl kaum einen Import. Ich glaube nicht, dass diese amerikanischen Sitten unseren deutschen jungen Mädchen liegen.“

Mühlensiefen unterdrückte ein überlegenes Lächeln. Das waren hier wirklich vorweltliche Ansichten! Man musste vorsichtig sein:

„Herr Geheimrat“, meinte er, „ist das nicht auch nur eine Frage der Zeit? Es wird nicht lange dauern, bis wir uns auch in dieser Beziehung Amerika angepasst haben. Nach dem, was ich seit meiner Rückkehr hier beobachtet habe, scheint mir der Unterschied auch gar nicht mehr so gross zu sein.“

Mit einer unbilligen Geste unterbrach Geheimrat Werffen:

„Meine Beobachtungen unterscheiden sich da doch wesentlich von den Ihren, Herr Doktor. Aber lassen wir das. Das Thema scheint mir auch genügend erörtert. Jedenfalls war es mir eine Freude, Sie bei mir begrüssen zu dürfen.“

Ein ironisches Lächeln lag auf Dr. Mühlensiefens Gesicht, als er sich nach diesen Worten erhob, um sich zu verabschieden:

„Wann passt Ihnen morgen mein Besuch in der Fabrik, Herr Geheimrat?“

„Zwischen 8 und 9 Uhr, Herr Doktor?“

„Wenn Ihnen vielleicht 11 Uhr recht wäre, Herr Geheimrat? 9 Uhr ist doch ein bisschen früh.“

„Gut, also 11 Uhr. Ihr Vater ist wie ich ein so grosser Frühaufsteher, dass ich die zeitige Stunde vorschlug“, sagte der Geheimrat mit leicht ironischer Betonung.

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