Читать книгу Schnell.liebig - Lina Mallon - Страница 10
Verfallsdating
Оглавление»Bleib liegen, wenn du willst«, sagt er und zieht sein Sweatshirt über. »Zieh später einfach die Tür hinter dir zu, ich muss los.«
Wir küssen uns nicht zum Abschied, wir lächeln uns nur schief an. Und ich bleibe nicht liegen. Noch während ich durch das offene Fenster höre, wie er sein Auto ausparkt, suche ich meine Sachen zusammen und verlasse die Wohnung. Um keinen Preis will ich hier allein bleiben. Ich will nicht durch seine Bücher blättern, auf seinem Sofa einen Kaffee trinken oder in sein Sweatshirt schlüpfen und es später gar nicht mehr ausziehen, so wie man es eben macht, wenn man sich verliebt hat. Denn das bin ich nicht. Oder will es nicht sein.
Ich bin nicht bei Heath. Seit unserem Date sind fast zwei Monate vergangen. Wir hatten zwar immer mal wieder voneinander gehört, waren uns sogar noch einmal zufällig über den Weg gelaufen, aber obwohl ich ihn weiterhin interessant und anziehend fand, wusste ich nie, ob es ihm genauso ging. Er antwortete mir nicht mehr direkt und irgendwann hörte ich auf, ihn ein zweites und manchmal sogar drittes Mal anzuschreiben.
Das mit Finn und mir (so heißt der Mann, bei dem ich gerade aufgewacht bin), fing weniger romantisch, auf keinem Festival, sondern in einem dritten Stock, aber dafür ähnlich zufällig an. Wobei man vielleicht noch nicht einmal davon sprechen kann. 14 Menschen auf einer Geburtstagsparty, zwei davon Single. Das waren wir. Als Finn mich im Laufe des Abends fragte, ob ich etwas trinken wollte und währenddessen vorsichtig meine Taille berührte, fühlte ich, dass er mich bemerkt hatte. Als er beim Gin auf die doppelte Menge setzte und mich dabei mit hochgezogenen Augenbrauen angrinste, glaubte ich, dass er Interesse hatte. Als er schließlich meine Hand nahm und mich zum Knutschen auf den Balkon zog – wusste ich es. Als es hell an der Elbe wurde, schlenderten wir zu Fuß bis zu seiner Wohnung und fielen in sein Bett.
Finn war vom ersten Moment an schlagfertig, klug und vor allem – auf einmal da. Er überraschte mich bei jedem neuen Treffen, forderte mich heraus, zog mich samstags auf Tanzflächen und ließ sich unter der Woche nur zu gern in hitzige Diskussionen verwickeln. Wochenlang waren wir wie Sparringspartner, die sich aneinander aufluden, sich immer näherkamen, ohne dass sie ein neues, echtes Ziel füreinander hätten, eines, das über die nächste Nacht hinausging.
Schon als ich mit dem billigen Gin-Cocktail im Plastikbecher, der nach Kopfschmerz und Kontrollverlust schmeckte, anstieß und langsam immer dichter in seine Nähe rutschte, wusste ich, dass ich bereit für ein Abenteuer war, dass ich nicht nachdenken, nicht überlegen, nicht analysieren und vor allem keine Erwartungen erfüllen wollte. Mir hatte genau das hier schon so lange, schon in meiner Beziehung und erst recht bei meinem Date mit Heath gefehlt: ungezwungener Spaß, ein Kribbeln. Und die Chance darauf, mal nicht zu denken, nur zu fallen, ineinander, ohne aufzuschlagen.
Ich binde mir die Haare zusammen, wasche mir das vergessene Make-up aus dem Gesicht und drehe mich nicht noch einmal um, als die Wohnungstür ins Schloss fällt. An der Ecke seines Blockes kaufe ich mir einen Kaffee und einen Muffin und spaziere nach Hause. Mittlerweile ist das ein Ritual geworden. Der Spaziergang und die gemischten Gefühle danach. Es ist nicht die Realität, die eintritt, wenn der Wein nachlässt. Es ist nicht einmal das Tageslicht, das uns Vernunft und Distanz zurück ins Schlafzimmer spült. Es ist unsere eng gesteckte comfort zone. Sobald wir sein Bett verlassen, sobald wir wieder festen Boden unter den Füßen haben – ist es vorbei. Jedes Mal. Dann ist der Sex vorbei, aber nicht nur der. Auch die Nähe, das Losgelöstsein. Dann liegt sein Gesicht nicht mehr an meiner Schulter und mein Herz nicht mehr auf meiner Zunge. Dann sind wir raus, raus aus der comfort zone, in der sich alles bequem und leicht anfühlt. Und anders als Motivationstrainer, Achtsamkeitsblogs und Meditationsapps es uns glaubhaft machen wollen, ist das, was außerhalb dessen passiert, nicht die eigentliche Magie. Nur ein paar betretene Blicke. Und das, obwohl wir etwas anderes als ein wiederkehrender One-Night-Stand sind.
Er ist ein ziemlich toller Typ – nur leider ohne Zukunft. Und nein, ich urteile nicht vorschnell. Ich habe das durchdacht. Ich bin eine Frau mit dreihundert verschiedenen, jederzeit abrufbaren Emotionen in sich. Ich durchdenke Beziehungen, auch wenn ich sie nicht führe.
Wir – das könnten die klassischen fünf Monate sein. Zwei davon leidenschaftlich verliebt, wenn ich uns lassen würde, viel Sex, kaum Streit, man denkt nur ans Jetzt. Im dritten Monat würden wir beide merken, dass es nicht funktioniert, dass die Entfernung zu groß ist, nicht die zwischen unseren Vierteln, nicht einmal die drei Jahre Altersunterschied, die ich ihm voraushabe, sondern vor allem die zwischen unseren Leben, unseren Jobs, Wünschen und Plänen. Im vierten Monat würden wir aufgeben, im fünften noch einmal kämpfen. Und dann, dann wäre es endgültig vorbei. Das hier war Verfallsdating, ohne dass ich es wegwerfen wollte oder konnte. Irgendwann würde es eben aufhören. Auch wenn ich das jetzt noch nicht wollte.
***
»Weißt du, ich gönn dir den Spaß, und ich gönn es dir, dass du dich endlich wieder losgelöst fühlst. Finn ist dafür genau der richtige Typ. Aber was wird das, wenn du fertig bist?«
Seitdem wir uns kennen, stellt sie die unbequemen Fragen, damit ich meine Antwort, die sie längst kennt, auch laut ausspreche. Das ist unser Ding. Angefangen hat es an einem kleinen Badesee und mit einer Flasche Wein mit Schraubverschluss, am letzten warmen Tag des vergangenen Herbstes. Die Füße steckten im kalten Sand, die Herzen in der Klemme. Stundenlang schwiegen wir uns an, bis es dunkel genug war, bis wir weder das Schwappen des Wassers noch einander sehen konnten.
»Denkst du manchmal auch, dass man im Dunkeln alles sagen kann? Dass man sich vor keinem Satz fürchten muss, weil er ja gar nicht wahr, sondern nur eine Nacht lang da ist?«, fragte sie mich. Und ich wusste, was sie meinte.
Wenn du sagst, was nur ein Ende sein kann, wenn du springst und den Mund aufmachst, dann ist zu fallen wie fliegen, für einen kleinen Moment.
Ihr sagte ich immer schon, was eigentlich noch gar nicht wahr sein konnte. Vor Monaten schon wusste sie, dass ich Dominik nicht mehr liebte, dass ich lieber das Wasser bis zum Hals wollte, als stumm an uns zu ersticken, dass ich rennen wollte, dass ich längst ausgebrochen war. Und dass sich jeder noch so tiefe Fehler besser anfühlte als jeder Tag bewegungsloser Sicherheit mit ihm. Es dauerte einen halben Winter, bis ich auch bei Tageslicht meinen konnte, was ich schon in dieser Nacht gesagt hatte. Niemand hat mehr von meinem Innersten gesehen als Anika. Mit ihr hab ich zwischen den Stühlen und Gefühlen, inmitten von losen Blättern, Fetzen und staubigen Ordnern gesessen, hab mich erinnert, sortiert, mit ihr angestoßen, mich ausgeräumt und Platz gemacht. Mittlerweile brauche ich keine Nacht, keinen Wein und keine Dunkelheit mehr, um diese schwerelose, schonungslose Ehrlichkeit zwischen uns zuzulassen, ich brauche nur ihre Stimme.
»Ich weiß es nicht«, sage ich in den Hörer. Und das ist die ganze Wahrheit.
»Also hast du dich doch verknallt?«
»Nein.«
»Also ist es nur Sex?«
»Nein.« Und dann: »Irgendwas dazwischen.«
»Und das heißt?«
»Dass es eben nicht nur Schwarz oder Weiß gibt. Dass ich ihn mag, dass ich gern in seiner Nähe bin, dass ich gern Zeit mit ihm verbringe, dass ich ihn wahnsinnig gern küsse, dass ich drei Mal am Tag auf sein Facebook-Profil gucke und dass ich und mein Bier manchmal eifersüchtig sind, wenn ich ihn mit anderen Frauen in irgendeiner Bar sehe. Und trotzdem, trotzdem führt das nirgends hin.«
»Wohin willst du denn?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass sich das hier nicht anfühlt, als könnte es noch lange so weitergehen.
Er und ich auf einer Parkbank, er und ich im Kino, er und ich beim Frühstück. Das funktioniert nicht. Ich seh uns da nicht. Ich glaube, der einzige Ort, an dem wir existieren, ist sein Bett. Dort ist alles leicht, nicht nur der Sex, auch das Reden, die Nähe, die sich ganz automatisch einstellt. Nur da fühlen wir uns miteinander wohl. Haut an Haut, keine Klamotten, keine Wertung, aber eben auch keine Richtung.
»Und trotzdem denkst du über ihn nach. Trotzdem zieht er dich mit irgendwas an.«
»Ich will ihn ja nicht nicht. Aber ich will ihn auch nicht.«
»Vielleicht solltest du aufhören, mit ihm zu schlafen.«
Ja, vielleicht. Kaum etwas bringt mehr Klarheit, als keinen Sex mehr miteinander zu haben. Subtrahierst du die Nähe, die Euphorie, nimmst du einer Geschichte ihre Gänsehaut und fütterst dich mal absichtlich mit Distanz und nicht mit ausgemalter Sehnsucht, hast du eine größere Chance, sie zu verstehen, als wenn du zwischen den Zeilen und Laken und auf engstem Raum miteinander nach dem nächsten Satz suchst.
»Ich kann nicht damit aufhören«, sage ich irgendwann. Dann mache ich die Augen zu, nicht hingucken, einfach sagen.
»Es ist nicht nur der Sex, aber es ist auch kein großes Gefühl. Es ist ein Moment. Der danach. Es sind die 15 Sekunden, in denen alles warm und nichts wahr, aber auch nichts gelogen ist. Wenn er mich noch festhält und ich – auch wenn es nur ganz kurz ist – loslasse. Meine eigenen Zügel, die Unsicherheit. Die Tatsachen, die Verantwortung für mich selbst. Wenn ich mich, nur ganz kurz, sicher fühle. Das macht es aus, danach habe ich ständig Sehnsucht und jedes Mal, wenn ich mit ihm schlafe, merke ich, wie dieses Bedürfnis wieder ein bisschen mehr gestillt wird. Bis es irgendwann vielleicht genug ist.«
»Und was passiert dann? Was passiert in dem Moment, in dem es genug ist?«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich sind wir dann vorbei.«
»Und das findest du nicht … ziemlich egoistisch?«
Anika hatte recht. Wenn ich es so aussprach, klang ich, als würde ich Finn benutzen, als würde ich an ihm mein Bedürfnis nach Nähe stillen – bis ich genug hatte, mich wieder genug fühlte. Dabei hatte ich das nicht einmal vor. Was ich wollte, war ihn und mich zu genießen. Ich wollte Sex und Nähe, aber ich wollte keine Beziehung. Ich wollte Zuneigung, ich wollte mich von Finn auffangen lassen, ich wollte morgens im Halbdunkeln mit ihm kuscheln, ich wollte manchmal die ganze Nacht lang mit ihm über die Welt reden, ich wollte schlagfertige Wortgefechte führen und sie immer auf die gleiche, leidenschaftliche Art beenden – aber ich wollte es nicht nur noch, nicht immer mit ihm tun, sondern nur im Moment.
Ich wollte endlich Single sein. Ich wollte die Frau werden, die ich mir selbst mal versprochen hatte. Stark, unabhängig, elegant und sophisticated, mit eigener Wohnung, mit wachsender Karriere, eine, die ihre Entscheidungen trifft und nicht mit ihnen hadert, die niemanden braucht, aber wählt. Ich wollte mir ein Portfolio als Autorin und Fotografin aufbauen, mir die Männer so wie die Jobs aussuchen, ich wollte immer Champagner im Kühlschrank haben, als wäre er alltäglich (aus irgendeinem Grund war das damals der Inbegriff von Erfolg und Unabhängigkeit für mich) und irgendwann mal eine Chanel Boy Bag besitzen (Jesus, mit dem Geld könnte man einen Kontinent bereisen, was war da mit mir los gewesen?). Denn ja, ich wollte die Welt sehen, ohne jeden Abend ein Skype-Date einzuplanen, ohne mich zu entschuldigen, ich wollte endlich keine Kompromisse mehr, die sich für mich wie verschwendete Zeit anfühlten, ich wollte endlich mit all den Vorstellungen experimentieren, die ich noch von meinem Leben hatte. Ich wollte frei sein, und ich wollte mich trauen, diese Freiheit auch zu nutzen.
Und gleichzeitig liebte ich es, all die Dinge mit Finn zu haben, nicht einmal danach fragen zu müssen, die ich mit Dominik so vermisst hatte, die ich gebraucht hätte, die ich mir für meine gescheiterte Beziehung gewünscht hatte. Aber ein Label oder zu viele Gefühle wollte ich uns trotzdem nicht zugestehen.
»Ja, vielleicht ist es egoistisch«, antwortete ich Anika. »Aber ich brauche das gerade mal. Jemanden genießen, ohne dass es Erwartungen gibt.« Und an dieser Stelle belog ich mich. Wenn ich von Erwartungen sprach, die es zwischen uns nicht gab, dann meinte ich ausgetauschte Schlüssel, meinte Pläne für die Feiertage, ich erwartete nicht, dass er meine Eltern kennenlernte, ich erwartete nicht, dass er mich irgendwem als seine Freundin vorstellte, ich erwartete kein Commitment. Und tat es ja doch, und wenn ich nur erwartete, dass wir in einer Samstagnacht das gleiche Taxi nach Hause nahmen, erwartete, dass es in diesem Moment nur mich gab, er in diesem Moment nur mit mir schlief.
Ich erwartete, dass es mit uns einfach genau so weiterging wie bisher. Ich wollte keine Beziehung, aber auch keinen One-Night-Stand. Ich wollte dieses Dazwischen, das mir so gut gefiel. Und vor allem wollte ich bestimmen, wie lange wir es genießen konnten.
Ich tappte in die gleiche Falle einer falsch verstandenen Selbstbestimmtheit, die so viele frische Singles nicht einmal bemerken: Wir wollen keine Beziehung, aber wir wollen alles das genießen, was sich in einer Beziehung gut anfühlt. Wir wollen uns nicht festlegen, aber wir wollen auch nicht allein sein, und darum erzählen wir uns selbst das Märchen, dass wir irgendwann sicher mal wieder eine Beziehung wollen würden, aber im Moment nach keiner suchten. Dass wir erst wieder eine eingehen würden, wenn es da wirklich jemanden gäbe, ohne den wir nicht sein könnten, den wir brauchten. Aber so lange es nur um eine Wahl ging – war die beste vielleicht die Unverbindlichkeit. Kein Risiko, kein Schmerzpotenzial, einfach nur eine gute Zeit haben – stimmt’s?
Solange ich Finn einfach nur wählte, mich einfach nur eine Zeit lang für ihn entschied, war ich frei und hatte die vermeintliche Sicherheit im Nacken, dass ich jederzeit gehen konnte, aber nicht verlassen werden würde, denn verlassen wird ja nur, wer mehr will, solange niemand Wünsche ausspricht, keiner Druck ausübt, geht es immer weiter – oder?
Die Frage, die ich mir einfach nicht stellen wollte, war: Wollte ich wirklich neue Facetten an mir finden, mich als Frau, als Single besser kennenlernen – mich ausprobieren, verändern, mutig sein und einfach offen für jeden Mann, der dabei vielleicht meinen eigenen Weg kreuzte? Oder wollte ich nicht doch viel lieber diese neue Version von mir bleiben, in die ich mich in den letzten Monaten entwickelt hatte, die sich ja längst gut anfühlte und die Finn gefiel, die zu uns und unserem Dazwischen passte und die er gern in seiner Nähe hatte?
Genoss ich gerade wirklich selbstbestimmt Finns Aufmerksamkeit? Oder war ich längst wieder dabei, unterbewusst in einen Rahmen zu passen, den ich eigentlich nicht mitbestimmte, sondern akzeptierte, nur damit darin auch meine Wünsche erfüllt werden konnten? Was gefiel mir mehr, und was würde mir mehr fehlen: das, was wir zwischen uns hatten, dass ich mich für ihn entscheiden konnte – oder dass er mich wollte?