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Das Symptom Tinder

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»Warum hast du eigentlich noch kein Tinder, Lina?«, fragt mich ein guter Freund im Frühjahr 2014.

»Keine Ahnung, ich steh nicht so auf Onlinedating«, sage ich und habe sofort Klischees wie persönliche Fragebögen, »Was suche ich«-Texte und den klassischen »Ralf, 31, treu und aufmerksam« vor Augen, der aber eigentlich »Ralf, 36, zu lange Single und sozial isoliert« ist. Datingplattformen waren für mich eingestaubt, ein Ort, an dem Loser horrende Summen dafür bezahlten, dass sie mit peinlichen Profilen auf einem virtuellen Heiratsmarkt ausgestellt wurden, wenn man sich nur auf ihnen umsah, konnte man die Torschlusspanik förmlich schmecken.

Es ist fair zu sagen, dass Tinder dieses etablierte Gefühl vollkommen revolutioniert hat. Tinder ist heute sieben Jahre alt – und ich bin mittlerweile seit gut fünf Jahren dort angemeldet, zwischenzeitlich sogar mit Goldstatus, um die vermeintlich großen Chancen, die ich zu schnell weggewischt hatte, noch einmal zurückholen zu können. 9,99 Euro im Monat dafür, dass ich mich noch einmal umentscheiden durfte, wenn mein Finger schneller als mein Herz reagiert hatte. Ein unschlagbarer Deal, Strg+Z für Datingentscheidungen. Zumindest virtuell. Als Tinder im März 2012 auf den Markt kam, war die Community klein, überschaubar, die meisten Nutzer zwischen 25 und 30 Jahren, aus der Kreativ- oder Medienbranche. Tinder versprach Coolness und Lässigkeit, eine Plattform, auf der es weniger um angestrengte Partnersuche per Gemeinsamkeitsgenerator, als um den Spaß am Dating gehen sollte. Wer Parship benutzte, wirkte schon auf den ersten Blick frustriert von seinem eigenen Beziehungsstatus, oder so tragisch in Zeit- und Bindungsnot, dass er sich von nun an die Liebe per Algorithmus errechnen lassen wollte, statt eigene Entscheidungen zu treffen.

Immer wieder messen sich Datingplattformen daran, wie viele feste Beziehungen sie pro Jahr hervorbringen können, und als Tinder beschließt, seine Bindungsrate nicht zum Erfolgsfaktor zu machen, fühlt sich das ehrlicher, ungezwungener an. Tinder ist kein kategorisierter Heiratsmarkt, sondern vielmehr wie eine virtuelle Bar, in der man sich umschauen und einander ansprechen kann – wenn das Interesse beidseitig besteht. Der einzige Unterschied: In einer Bar kann man sich nicht klonen, auf Tinder geht das. In einer Bar kann man vielleicht von gutem Licht profitieren, sich selbst aber nicht filtern, auf Tinder ist das kein Problem. Zwanzig Gespräche am selben Abend, nach Chancen fischen, bei minimalem Aufwand und mit maximaler Optik.

Die Berichterstattung zu Tinder ist endlos, und gefühlt jeder hat eine Meinung dazu, ob diese App wirklich nur ein einziger Kaufrausch zwischen all den leicht verfügbaren Optionen ist, ein Wühltisch, an dem wir zugreifen, aber nie entscheiden, ob sie die finale Geburtsstätte für das globale Problem des »Fuckboys« ist oder sogar Schuld daran trägt, dass wir zwar mehr, aber auch so viel mehr schlechte Dates haben als je zuvor.

Ich habe vielleicht nicht die, aber eine Antwort: Unser Tinder-Erlebnis ist immer so gut wie die Matches, für die wir uns entscheiden. Tinder ist ein Spiegel. Manchmal sogar ein ziemlich brutaler. Am vierten Date in Folge mit einem oberflächlichen Arschloch ist nicht zwingend die App schuld, sondern vielleicht auch unsere Auswahl. Fuckboys finden nicht magisch immer uns, wir er-swipen sie zum Match.

Tinder hat mir den Druck genommen, dass spätestens das übernächste Date auch der nächste tolle Mann sein muss. Denn bis dato glaubte ich, dass schon drei miese Dates eine Pechsträhne waren, ein schlechtes Zeichen für drohende Endzeitstimmung. Tinder beendet das Suchen – ohne dass wir damit direkt zum Finden übergehen würden, das ist klar. Und das kann Spaß machen.

Während ich vor meinem ersten Date und auch bei meiner ersten Verabredung via Tinder noch völlig nervös gewesen war, hatte ich bei meinem dritten Date tatsächlich Spaß. Ich legte meine absurden Vorstellungen von ersten Dates (Heels, Cocktails, das kleine Schwarze und stetiges Knistern in der Luft) ab und lernte, dass es erst einmal gar nichts weiter war als zwei völlig fremde Menschen, die sich für ein paar Stunden ein bisschen voneinander erzählten und dann entschieden, ob sie sich vergessen, wiedersehen oder direkt knutschen wollten. Und das war auch schon alles.

Ich habe auf Tinder unterschiedlichste Erfahrungen gemacht, manchmal habe ich nach ihnen gesucht, manchmal haben sie mich überrascht. Ich habe auf Tinder Ablenkung gefunden, gute Freunde, die Chance auf Liebe, ein gebrochenes Herz und dann auch wieder ein Pflaster dafür. Aber vor allem das hier: Schnellliebigkeit. Aber ist daran wirklich die App schuld – oder ist sie nur ein sichtbares Symptom?

Generation »Schnellliebig«

Generation, die nicht mehr einfach nur nach Sicherheit oder Bindung sucht, sondern vor allem nach gelebter Freiheit und dann nach freiwilliger Liebe – aber gar nicht so richtig weiß, wie oder wo sie überhaupt anfangen soll. Oder wie die sich eigentlich anfühlt.

Fakt ist: Tinder hat unser Datingverhalten beeinflusst und völlig verändert. Wenn man hier etwas lernen kann, dann vielleicht, das erste Date, die Suche nach der Liebe und vielleicht sogar sich selbst – zu entkrampfen. Tatsächlich kann man so ein Date nämlich üben, herausfinden, was sich gut anfühlt, ob man sich lieber nachmittags in einem Café trifft, spazieren geht, ob man der Typ fürs Kino ist oder sich doch lieber mit einem Drink nach der Arbeit zusammen in die Abendsonne oder eine entspannte Bar setzt.

Es brauchte zwei oder drei Versuche, bis ich es heraushatte, bis meine Gedanken nicht ständig um die Frage kreisten, wie das Date lief, wie es noch verlaufen könnte oder ob es ein zweites geben würde. Ich saß nicht mehr so aufgeregt in der U-Bahn, dass mir schlecht wurde, ich zuckte nicht mehr innerlich bei jedem Satz, der nicht perfekt heraus- oder ankam, zusammen, ich verkrampfte nicht mehr, wenn ein kurzes Schweigen eintrat. Aber vor allem: Ich lernte die Männer kennen. Heath hatte ich vor lauter Nervosität kaum in die Augen schauen können, aber jetzt sah ich mir an, wer da vor mir saß, stellte Fragen, ließ sie beantworten und lernte Dates aus einem völlig neuen Blickwinkel kennen, indem sie sich gar nicht mehr erzwungen, sondern ganz natürlich anfühlten, obwohl sie so geplant, so verabredet waren.

Statt dem kleinen Schwarzen und hohen Absätzen, trug ich am liebsten ein Blumenkleid und Vans beim ersten Date, statt Martinis tranken wir Bier, und ganz langsam fand ich mich in die ungeschriebenen Spielregeln auf Tinder ein (Männer, die oberkörperfrei vor dem Fitti-Spiegel posen, sind dunkelrote Flaggen aus vielerlei Gründen, auf Gruppenfotos ist der Single-Typ immer der, den du eigentlich nicht willst, und »Was machst du gerade?«, an einem Samstagabend, ist keine Frage, sondern ein booty call), von denen ich keinerlei Ahnung gehabt hatte, als ich zum ersten Mal die App geöffnet hatte. Ich baute mit jedem unverfänglichen Date nicht nur Anspannung, sondern auch eigene Klischees ab, die ich bisher über das Onlinedating gehabt hatte. Natürlich nur, um Platz für neue zu machen – oder die, von denen es auf Tinder wimmelte, zu verstehen.

Da wären zum Beispiel Männer mit Hunden (je niedlicher das Hundebaby, desto unattraktiver vermutlich der Mann), mit Caps (um schütteres Haar zu verstecken) oder aber kopflose Spiegeltorsos von Männern, die entweder ihre Bauchmuskeln präsentieren oder ihre Identität verbergen wollen.

Es gibt Stereotypen, die in ziemlicher Regelmäßigkeit auftauchen. Einige davon habe ich gedatet, bereut und im Folgenden (absichtlich) ein wenig überzeichnet.

Der kleine Mann:

Eines vorweg: Weder mangelndes Haupthaar noch eine Körpergröße unter 1,82 Meter hat mich je von einem Date abgehalten. Das Problem am kleinen Mann ist nicht, dass er kleiner ist als der Durchschnitt, sondern dass er meint, seine Größe anderweitig kompensieren zu müssen. Einmal traf ich mich mit einem Typen, der sah auf Tinder sehr maskulin aus, Bart, Lederjacke, Tätowierungen. Wir verabredeten uns auf ein Bier, er war schon da, als ich kam, ich setzte mich zu ihm, wir unterhielten uns gut, und erst nach zwei Stunden, als wir gehen wollten, stand er zum ersten Mal auf.

Er war ungefähr so groß wie ich, vielleicht 1,70 Meter. Erwartet hatte ich das nicht, abgeschreckt hatte es mich aber auch nicht. Der Grund dafür, dass ich beim dritten Date die Reißleine zog, war sein ausgeprägtes Napoleon-Syndrom, das er zum Ausgleich für 15 fehlende Zentimeter Körpergröße entwickelt zu haben schien. Die ganze Zeit ein bisschen zu laut, ein bisschen zu angriffslustig und irgendwie wütend, ständig in antrainierter Verteidigungshaltung und permanent dabei, mir oder vielmehr sich selbst irgendetwas zu beweisen. Manchmal kann man diesen Typ schon an seiner Tinder-Bio erkennen, in der er – nennen wir es Erwartungsmanagement – betreibt. Da steht dann so was wie: »PS, ich bin 1,74 Meter, weil das ja irgendwie wichtig zu sein scheint.« Ist es eigentlich nicht, zumindest mir nicht, aber denen zu sehr. Und das ist der Punkt.

Der Weltenbummler:

Er ist in der Welt zu Hause. Auf seinem Tinder-Profil zeigt er sich beim Schnorcheln mit einem Walhai, neben dem Street-Food-Stand in Asien und mit Bier und seinen Jungs vor einer Palmenkulisse. (Je nach Fitnesslevel könnte auch noch ein Handstand bei Sonnenuntergang dazugehören.) Nur wird dir irgendwann auffallen, dass jedes dieser Bilder auf der gleichen Reise entstand. Thailand 2018, vermutlich über TUI gebucht.

Eng verwandt mit dem Weltenbummler: der Bali-Aussteiger. Hat drei Wochen in einem Airbnb in Ubud gewohnt, erst die perfekte Açaí-Bowl und dann sich selbst so sehr gefunden, dass er sein Wissen und die drei wackligen Yoga-Posen jetzt als »daily life lessons« auf Instagram weitergibt.

Der Hipster:

Er trägt die Haare lang, den Bart gepflegt, vermutlich hängt an seiner Wand ein Fahrrad und in seiner Küche weichen schon die Mandeln für den Almond Latte ein, den er dir am nächsten Morgen machen will. In seiner Freizeit geht er total gerne bouldern, seine Urlaube verbringt er in Schweden oder Südfrankreich, er könne sich aber auch Lissabon für den nächsten Sommer gut vorstellen. Auf den ersten Blick wirkt er so individuell wie die verschiedenen Möbelstücke in seiner Wohnung, beim näheren Hingucken fällt dir dann aber leider auf, dass dieser Mann nicht nur seinen Look, seinen Instagram-Auftritt, sondern seine ganze Persönlichkeit durchgeneriert hat.

Der Neue:

Er kommt gerade aus einer siebenjährigen Beziehung, will überhaupt noch nicht daten, will eigentlich nur seine Ex zurück, aber irgendwann haben ihm dann seine Kumpels ans Herz gelegt, sie zu vergessen. Also probiert er Tinder aus. Und findet dort dich: den Rebound.

Der Pumper:

Man sollte meinen, er hätte keine Chance mehr, man sollte meinen, wir alle wüssten, dass nichts Gutes von einem Mann kommen kann, der eine Baumarktkette über seinem Jack Jones-Shirt trägt und damit vor fremden Autos hockt. Aber der Pumper hat sich selbst vor dem Aussterben bewahrt. Hat sich weiterentwickelt und der natürlichen Selektion getrotzt. Er hat die Klischees, ja sogar die Mario Barth-DVD losgelassen, trägt jetzt Calvin Klein und Stan Smith und zu seinen umgeschlagenen Hosen gerne weiße, viel zu enge Hemden. Was geblieben ist, ist sein beschissenes Frauenbild. Das ist ein Typ, der mit dir schläft, dabei aber an Sophia Thomalla denkt (»voll die Hammerfrau!«), der, auch wenn er es dir natürlich nicht sofort laut sagt, innerlich noch immer fest davon überzeugt ist, dass Gleichberechtigung irgendwie falsch und Feminismus nur was für sexuell frustrierte Frauen ist. Er glaubt, dass es Winterfiguren gibt, die man bis zum Sommer wieder bekämpfen muss, und wenn du neben ihm einen glasierten Donut isst, überkommt es ihn vielleicht. Nicht vor Freude, sondern vor Kohlenhydraten.

Schnell.liebig

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