Читать книгу Schnell.liebig - Lina Mallon - Страница 8
Die halben Exe und ein erstes Date
ОглавлениеSelbst ein paar Wochen nach unserer Trennung füllte sich meine Inbox weiterhin mit unbeantworteten Nachrichten. Einige waren von ehemaligen Bekannten, die sich nach Dominiks öffentlichen Schmerzensbekundungen fairerweise auch meine Seite der Geschichte anhören wollten, um sie bunt unter die Leute zu bringen. Als ich nach Hamburg gezogen war oder meine erste Reportage veröffentlicht hatte, als meine Fotografie einen Preis gewonnen hatte, war das den wenigsten von ihnen überhaupt ein virtuelles Like wert. Jetzt gab es immerhin einen wichtigen Anlass.
Die übrigen Nachrichten stammten von einer Gruppe, die ich die »halben Exe« nenne. »Halbe Exe« sind die Männer, die du fast mal oder nicht lang genug geküsst hast, solche, die dir oder denen du nie nah genug gekommen bist, die aber trotzdem nie ganz aus deinem Kopf gegangen sind und die jetzt auf eine neue Gelegenheit hofften und »nur mal hören wollten, wie es mir so ging«.
Heute, sieben Jahre später, haben einige von ihnen noch immer diesen gewissen Instinkt, sich immer dann bei mir zu melden, wenn wieder jemand mit mir geendet hatte, wenn wieder etwas nicht geworden war, und bei zumindest einem von ihnen, Stephan, 33, abbruchsfreudiger Langzeitsingle, bin ich mir sogar sicher, dass sein gesamtes Datingverhalten darauf abzielt, sich bei den Frauen zurück ins Gedächtnis zu rufen, die gerade ein bisschen Zuwendung für ihr Ego – aber meistens auch nicht viel mehr – gebrauchen könnten. Das ist sein Zeitfenster, das sind seine drei Wochen, seine emotionale Halbwertzeit. Bei seinen Jobs oder Zielen beweist er übrigens den gleichen Atem. Niemand hat so oft den Lebenstraum, die Ernährungsweise oder das Haustier gewechselt wie Stephan. Er ist das personifizierte Beginner-Level, entweder sofort gewinnen oder wieder von vorn anfangen, nichts riskieren, nichts verlieren, abbrechen, Neustart. Für Stephan geht das beliebig oft. Öffnet man unser Chatfenster, steht da zum Beispiel: »Voll schön, dein neues Profilbild!«, »Hey schöne Frau, wie gehts dir?« Oder »Keine Antwort? :(«. Irgendwann packt mich dann meistens das schlechte Gewissen, und ich erzähle kurz, dass es mir gut geht, ich viel unterwegs bin, mich aber für sein Kompliment bedanken möchte. Ich verzichte auf Gegenfragen, er versteht die Botschaft. Immer bis zum nächsten Mal.
Und die anderen warten wissend und nicht weniger lauernd ab, bis du dich meldest. Sie sind eine Mischung aus verpassten Chancen, losen Trostpflastern und unbekannten Vielleichts. Unter ihnen ist immer jemand, auf dessen Interesse du dich verlassen kannst und auch immer einer, dessen Aufmerksamkeit du sogar noch lieber hättest. Jeder Achtsamkeitsratgeber würde an dieser Stelle mahnend behaupten: »Du stehst in den Ruinen, anstatt eine neue Stadt zu bauen.« – und damit vorschlagen, die eigene Energie lieber in neue Menschen als in verstaubte, vielleicht sogar toxische Kapitel, die noch nie einen richtig guten Anfang hatten, zu stecken. Stimmt ja auch irgendwie.
Aber ehrlich gesagt tat diese Aufmerksamkeit gut. Es waren Männer, mit denen ich mich sicher genug fühlte, um unvernünftig zu sein. Und sicher war, was sowieso keine Zukunft hatte. Ich hatte noch nie nicht nach dem nächsten tollen Mann gesucht, ich hatte es sogar während meiner letzten Beziehung getan, und als diese vorbei war, die ich aus dem klaren Wunsch nach ungezwungener Freiheit beendet hatte, war ich innerlich sofort wieder auf der Suche nach irgendjemandem gewesen, der in mein jeweiliges Kapitel und seine Länge passte. Ich wollte jetzt erst einmal gar nichts. Außer ein bisschen Bestätigung.
Ungefähr sechs Monate lang arbeitete ich meine Liste mit den halben Exen ab, traf jeden von ihnen eigentlich nur einmal, die ersten aus Neugierde, die anderen aus Nostalgie. Wir tranken Wein bei mir oder holten uns gegenseitig aus Bars ab, in denen wir vorher noch den Abend mit Freunden verbracht hatten, immer Spätprogramm, nie der Hauptfilm, nie das Date. Genau so wollte ich es. Es war ein bisschen so, als würde man nach langer Zeit meinen Schrank ausmisten, ein paar der versteckten Teile, an die man schon gar nicht mehr gedacht hat, noch einmal in die Hand nehmen und sich fragen, warum man sie eigentlich nie oder so selten trägt – bis man es tut und wieder weiß, dass es irgendwie nie ganz gepasst hat. Manchmal muss man sie sogar noch einen Abend lang ausführen, um ganz sicher zu sein – und sie schließlich doch in die Spendenkiste legen.
Ein richtiges Date, das war in meiner Vorstellung eine Einladung zum Essen oder wenigstens zu Drinks, mindestens aber zum Kaffee. Man datete sich, wenn man ehrliches Interesse aneinander hatte und wollte, dass das Gegenüber es auch wusste, ein Date war für mich nicht der Anfang, sondern der zweite Schritt, nach der ersten verrückt-schönen Übelkeit, die man in der Nähe des anderen fühlte. Und genau diese Vorstellung, eingepflanzt von romantischen Komödien aus den Neunzigern, übte auf mich Druck aus, und ich fand sogar, dass ein klassisches Date keinen Zauber hatte. Wenn ich an jeder Kennenlernphase, die ich bis dahin gekannt hatte, etwas geliebt hatte, dann war es das unausgesprochene Spiel um die Anziehung zueinander. Wie lange konnte man jemandem in die Augen schauen, was passierte, wenn man das Gegenüber berührte? Wie weit konnte man gehen? Wie viel Interesse kam zurück?
Hatten diese gewissen Funken bei einem offiziellen Date oder einer »Tasse Kaffee«, die ja trotzdem eine Agenda hatten, die man bei Tageslicht und mit Blick auf den Terminkalender ausgemacht hatte, überhaupt eine Chance? Ich wollte sie nicht verabreden, nicht erzwingen, nicht im Cappuccino rühren und darauf warten, hoffen, dass sie noch kommen könnten – ich wollte sie einfach so finden, wollte in sie hineinlaufen. Wenig überraschend dauerte das.
Es dauerte bis in den Juni hinein, bis zum ersten Festivalsonntag der Saison. Ich saß allein mit einer Piña colada auf dem Rasen und hörte Franz Ferdinand zu. Jetzt mag eine Piña colada eine durchaus bedenkliche, garantiert überpreiste und beinahe exzentrische Wahl auf einem Festivalgelände sein, das sich Jahr für Jahr allein durch den Umsatz von Dosenbier rentieren würde, aber ich hatte einen Anlass! Ich hatte in den letzten Wochen mein Studium abgeschlossen, war als Jahrgangsbeste ausgezeichnet worden und hatte einen ersten großen Auftrag als freiberufliche Autorin bei einem großen Hamburger Verlag bekommen. Ich hatte mich selbstständig gemacht, ich konnte jetzt schon von meinen Bildern, von meinen Texten und von meinem Blog leben. Darauf war ich stolz.
Und ich hatte emotionalen Ballast abgeworfen. Ich befand mich jetzt nicht mehr in irgendeinem Umbruch, nicht in einer Warteschleife, nicht zwischen zwei Stühlen, dem vergangenen und dem nächsten Mann, ich hatte nicht nur meine Trennung, sondern mit ihr auch die halben Exe hinter mir gelassen. Es gab keine Nachricht, auf die ich wartete, es gab keine Erwartung, die mich enttäuschen konnte, es gab keine Aussprache, die ich noch führen musste. Es gab erst einmal nur mich. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben als Single. Und zwar mit Punkt und ohne Fragezeichen.
Ich streckte die Beine aus und ließ meinen Blick hinter der Sonnenbrille über das Gelände wandern. In einer Stunde würde ich meine Freundin Laura und ein paar ihrer Kolleginnen treffen, mir blieb also noch genügend Zeit, für den letzten Festivalabend aufzutanken und in meinem Kopf eine Bilanz zu ziehen.
Gesehene Konzerte: 18
Zertanzte Paar Schuhe: 1
Verlorene Gegenstände: 3 (Regenjacke, Zopfgummi und Taschenlampe)
Eingegangene Angebote für einen Kuss, Sex oder die Ehe: 4
Davon angenommen: 0
Ich war mir nicht sicher, ob es nur daran lag, dass ich eingerostet war oder mir einfach noch das richtige Mojo für den perfekten Festivalflirt fehlte, ich hatte die kurzen Flirts am Bierwagen oder auf dem Zeltplatz zwar genossen – aber keinen davon so sehr, dass er hätte länger als fünf oder zehn Minuten andauern sollen. Vielleicht war es doch meine Erwartungshaltung, die mir im Weg stand, vielleicht war es aber auch einfach okay – genau so, wie es gerade war.
In meinem Becher waren noch ein letzter Schluck und ein Partyschirmchen, als ich ihn entdeckte. Mit der dunklen Sonnenbrille, dem blonden Dutt, einer roten Weste, auf der die Nummer 361 stand und der charismatischsten Kinnlinie, die ich seit Heath Ledger gesehen hatte, lehnte er am Sicherheitszaun. Er konnte wirklich als Heath Ledger durchgehen, also rein optisch. Die nächsten zehn Minuten beobachtete ich ihn durch meine Sonnenbrille, und dreißig Minuten später hatte ich mich ausufernd in diesen schönen Mann hineingesteigert, Kontakt zu allen verbleibenden Festival-Begleitungen aufgenommen und ihnen meine Situation geschildert.
»Hier steht ein Typ, der sieht aus wie Heath Ledger, trägt die Nummer 361 auf seiner Weste, bewacht einen Lautsprecher und womöglich werden wir heiraten.«
Natürlich taten wir das nicht. Real und in echt traute ich mich nicht einmal, ihn anzusprechen. Zum einen, weil ich mich noch nicht in Form für dieses dating game fühlte (oder es noch nie wirklich war? Was hieß eigentlich »in Form sein«?), zum anderen, weil ich an diesem Festivalsonntag nur noch ein müdes Gesicht und eine provisorische Duschknolle zu meiner Optik zählte. Ich machte das, was viele erwachsene Frauen tun und eigentlich niemals zugeben würden: Ich observierte stumm, schwärmte vielschichtig und verweigerte jeden ersten Schritt.
(Was natürlich nicht dagegen half, dass Heath nicht einmal wusste, dass ich existierte.)
Es würde noch zwei Bands dauern, während denen jede meiner mittlerweile dazugestoßenen Mädels sich ein Bild von der Situation machte, bestätigte, dass das dort wirklich beinahe der wiedergeborene Patrick Verona war, der immer noch unbemüht lässig an dem Zaun lehnte, und während die Nummer 361 völlig unwissend zur Attraktion wurde, stieg der Druck auf mich. Es wurde die allgemeine Meinung manifestiert, ich müsse einen Move machen und könne diesen Mann nicht einfach ziehen lassen. Als ich mich noch immer nicht bewegte, nahm eine von ihnen die Sache ungefragt in die Hand. An einer Bar besorgte sie sich eine Serviette, schrieb meinen Vornamen und meine Nummer darauf, marschierte zu ihm rüber, drückte ihm die Serviette in die Hand und behauptete, getrieben von dem Weißwein aus dem Tetra Pak, dass er, wenn er mich denn anrufen würde, überhaupt gar nichts falsch machen könne. Währenddessen trug sie batteriebetriebene Hasenohren, und ich war mir sicher, dass ich niemals von ihm hören würde.
Um 02.13 Uhr tat ich es doch. Ich putzte mir gerade in meinem eigenen Zuhause die Zähne, als eine unbekannte Nummer auf dem Display aufleuchtete.
»Hi. Eine Frau mit Kaninchenohren hat mir heute gesagt, dass ich deine Nummer wählen soll, um einen wirklich besonderen Menschen kennenzulernen, stimmt das?«
Unser erstes Date haben wir zwei Wochen später. Heath ist nicht nur Single, er kommt auch aus der Nähe von Hamburg, studiert hier Psychologie und lebt in der Schanze. Dort sind wir an einem Freitagnachmittag auch zu einem Bier verabredet.
Meine Erwartungshaltung? Nach außen ruhig, innen utopisch.
»Es ist nur ein Date, vielleicht passt es auch gar nicht«, sage ich zu meinen Freundinnen, während in meinem Kopf der immer gleiche Song auf Dauerschleife läuft. Ich hatte auf einmal so riesige Lust darauf, mich zu verlieben, dass ich es schon tat, bevor wir uns überhaupt kennenlernten.
Woo-oh, oh-oh, all the pretty things that we could be
Woo-oh, oh-oh, I feel you in every heart beat
Woo-oh, oh-oh, were you ever in a dream that could come true
These numbers could be lucky for you
Die Geschichte ist zu gut, oder? Zu schön für diesen Zeitpunkt des Buches. Klingt, als wäre sie ausgedacht, frei erfunden? Ihr habt recht.
Als ich ihn an unserem Treffpunkt stehen sehe, bin ich so nervös, dass ich absichtlich an ihm vorbeilaufe.
Statt mir und ihm, der mich, obwohl er mich bisher nur von Fotos kennt, sofort erkannt hat und mir hinterherläuft, das einzugestehen, tue ich geschäftig und behaupte, ihn einfach nicht gesehen zu haben. Als wir am Kiosk das Bier holen wollen, merkt er, dass er sein Bargeld vergessen hat und spätestens, als ich beim Öffnen der Bierflasche sein Feuerzeug zerbreche, ist der große Krampf perfekt. Ich rede dreihundert Worte in der Minute, nur um nicht zu schweigen, und wenn ich ihn zu Wort kommen lasse, erzählt er von seiner Ex-Freundin.
Ich erfahre, dass sie erst seit ein paar Monaten getrennt sind. Dass sie trotzdem noch zusammenwohnen. Dass sie in zwei Wochen auszieht. Was er nicht mehr sagen muss, ist, dass er sie noch viel zu sehr will.
Man kann nicht sagen, dass es keinen Funken zwischen uns gegeben hätte, wir verbringen den ganzen Nachmittag zusammen, schlendern durch die Schanze, cornern irgendwann am Neuen Pferdemarkt und als es schließlich dunkel wird und er mich zur U-Bahn bringt, liegt sogar für einen Moment ein Kuss in der Luft. Wäre da nicht das Gefühl, dass wir uns zum völlig falschen Zeitpunkt, an völlig falschen Punkten in unseren Leben kennengelernt haben. Mit jedem viel zu lauten Satz, den ich sage, um meine beißende Unsicherheit zu überspielen, wird mir klarer, dass ich weder weiß, was ich will, noch wer ich eigentlich sein will.
Als ich die Haustür aufschließe, irgendwie müde und irgendwie verunsichert, wird mir klar: Ich weiß nicht, wie man sich auf Dates verhält, ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Als ich mir mit 16 meine Dates ausgemalt hatte, fanden sie in schönen Bars, mit erwachsenen Männern statt, ich hatte mich mir elegant und schlagfertig vorgestellt. Stattdessen hatte ich mir heute, Jahre später, vermutlich auf den Pflastersteinen eine Blasenentzündung geholt und mich die meiste Zeit ziemlich gehetzt gefühlt. War das daten? Hatte ich es falsch gemacht? Oder hatte ich die falschen Vorstellungen? Woher wusste man, wie sich ein gutes Date anfühlen sollte, wenn man noch nie wirklich eines hatte?
Die Wahrheit war nämlich: In die zwei Beziehungen, die ich bisher gehabt hatte, war ich ohne viel Aufwand oder echte Auswahl gerutscht, ich hatte beide Männer kennengelernt, sie gemocht, attraktiv gefunden, hatte mit ihnen geschlafen, war morgens liegen geblieben und irgendwie waren wir damit zusammen gewesen. Erst innerhalb der Beziehungen hatte ich sie wirklich kennengelernt.