Читать книгу Schnell.liebig - Lina Mallon - Страница 11
Reaktanzverhalten
ОглавлениеSie streicht sich die Haare aus dem Nacken, er umfasst ihre Taille, sie lacht ein bisschen lauter als nötig und hält sich an seiner Schulter fest. Eine klassische Szene eines Samstagabends in der Großstadt. Smarter Junge, hübsches Mädchen.
Eigentlich nichts Besonderes daran. Hätte ich den smarten Jungen nicht auch noch bis vor einigen Wochen geküsst – bevor ich einfach so damit aufhörte, nicht mehr auf die gleichen Partys ging, nicht mehr einfach vor seiner Tür auftauchte und damit die Wahrscheinlichkeit, ihn zu treffen, auf schmale zehn Prozent herunterfuhr – bevor dann auch seine letzten, losen Bemühungen irgendwann den Absprung schafften. Mittlerweile begegnen wir uns nur noch ab und zu für einen kurzen Moment an einer Ampel oder für eine halbe Stunde im vergrößerten Freundeskreis. Dann lächeln wir uns an, er fragt, was mein Schreiben oder die Fotografie macht, ich erzähle von der Arbeit, frage nach seiner Masterarbeit, und bevor es unbequem werden könnte, bevor wir vielleicht doch in den Bereich abrutschen könnten, wirklich über uns zu reden, mischen wir uns wieder in die Gruppe. Manchmal denke ich dann auf dem Heimweg darüber nach, noch mal seine Nähe zu suchen oder ihn anzurufen. Aber dann hält meistens schon das Taxi vor meiner Haustür oder mein Akku nicht mehr.
Es war richtig zu gehen, bevor er gehen konnte. Es war wichtig für mich gewesen, nicht schon am ersten tollen Mann nach meiner ausgelaufenen Beziehung hängen zu bleiben. Finn war mein Rebound gewesen, ohne dass ich ihn damit hätte abwerten wollen, er war mein erster guter Schritt – aber ich hatte noch so viele mehr vor mir. Er war der Mann, der mir die Leichtigkeit zurückgebracht hatte, mit dem ich mich wohl und gut und unbefangen gefühlt hatte. So hatten wir angefangen, und so hatten wir enden müssen – solange es noch schön und unkompliziert war. Er hatte sich nicht gewehrt, als unser Dazwischen sich auflöste, und ich hatte mich bis eben einfach okay damit gefühlt. Bis eben hatte ich ihn aber auch noch nicht mit einer anderen Frau gesehen.
***
Sieht er besser aus als noch im Sommer? Seit wann hat er längere Haare? Warum haben wir eigentlich nie in dunklen Bars geknutscht, sondern immer nur in seiner Wohnung? Warum sind wir nie ausgegangen, sondern nur miteinander nach Hause – und wer ist das da eigentlich unter ihm?
»Kennst du sie?«, ich drehe mich zu Anika um und ziehe sie ein Stückchen dichter an mich heran.
»Die bei Finn? Keine Ahnung, ich glaube, die haben sich hier kennengelernt. Warum fragst du?«
»Nur so.« Nur ein paar Meter von uns entfernt streicht er ihr jetzt die Haare aus dem Gesicht und flüstert ihr etwas ins Ohr, das sie abermals zum Lachen und dann dazu bringt, sich noch dichter an ihn zu drängen. Ich rolle mit den Augen und knalle mein leeres Glas fester auf den Tresen, als ich es geplant hatte.
»Stehst du noch auf ihn?«
»Keine Ahnung, ich stehe zumindest schon mal nicht auf sie – so nah bei ihm.« Kurz bevor der Whiskey mein Ego auf die Schultern nehmen und die gerade schmal besetzte Vernunft stürmen kann, drehe ich mich weg und atme tief durch. Das hier ist nicht echt. Das ist nicht das, was ich wirklich fühle. Das ist nicht die große Anziehung, die mir auf einmal klar wird. Das ist nur mein Kopf, der etwas nicht mehr haben kann. Es sind nur äußere Impulse, es ist der Fakt, dass die verlorene Option auf ihn, die ich eigentlich doch so freiwillig aufgegeben hatte, gerade meinen Trotz locken will.
Reaktanz nennt das die Psychologie.
Wann immer wir uns von anderen in unserer Freiheit, in unseren Optionen oder Entscheidungen bedroht fühlen, neigen wir zu Trotzreaktionen, beginnen zu sabotieren oder zu rebellieren. Ein bisschen stumpfer formuliert könnte man auch sagen: Wir leiden am FOMO-Prinzip (»Fear of missing out«), vielleicht auch am Hypesyndrom und zwar nicht nur, wenn es um unseren Lifestyle geht, um überteuerte Beautyprodukte von Aesop, um ein Paar ausverkaufte Off-Whites, um gerade gefeierte Urlaubsdestinationen oder Festivals, sondern auch in unseren Beziehungen. Vieles wird nur dadurch interessant, dass es auch alle anderen wollen und erst dann wahnsinnig begehrenswert, wenn es ausverkauft ist, zu teuer oder einfach nicht zu haben.
Meine Top-3-FOMO-Situationen
–im Hamburger Frühling bei zwölf Grad Celsius und Regen den eigenen Papierkram sortieren und die Stromnachzahlung erwarten, während ganz Instagram auf Formentera ein Buch liest, tan lines bekommt und mit einer Gruppe Freunden eine gemütliche Finca mit Pool und Feuerstelle gemietet hat (das letzte Haus, das ich mit Freunden mietete, war ein Ferienapartment am Schleiufer, das ist in Schleswig-Holstein)
–die Flohmarkt- oder Vintage-Funde meiner Freundinnen, die ich vorher völlig übersehen hatte
–Männer, die mich nicht wollen oder die ich nicht haben kann (Gründe dafür dürfen variieren)
Also ja, zugegeben: Ich neige zu Trotzreaktionen, zu ausgeprägten »Jetzt erst recht!«-Momenten. Seitdem ich klein bin, will ich den Menschen das Gegenteil von dem beweisen, was sie über mich zu denken scheinen (Stefanie Stahl hätte dafür sicher einige Theorien). Ich leiste mir Machtspiele an roten Ampeln, wenn man mich provoziert; ist eine limitierte Lippenstiftfarbe, die mir gerade zufällig im Duty-free aufgefallen ist, ausverkauft, werde ich zur Jägerin (wissentlich, dass ich viel zu selten Lippenstift trage und ihn meistens in der U-Bahn oder Damenklos verliere), und auch in meiner emotionalen Vergangenheit habe ich mehr als einmal unter Beweis gestellt, dass ich einen Mann umso mehr wollen kann, wenn andere ihn haben könnten – oder mir von ihm abraten. In mir schlummerte eine Tonya Harding, und auch wenn ich nicht vorhatte, der Frau dort drüben, die ihre Hände gerade in Finns Nacken legte, ein blaues Knie zu verpassen, in mir regte sich auf einmal der Wunsch, ihn zurückzubekommen.
Mein ausgeprägtes Reaktanzverhalten wird zuweilen zu meiner größten Schwäche, und auch gerade drängt sie mich an die Bar und den Rand meines Bargelds. Ich hatte gar nicht die große Klarheit oder Distanz, sondern offenbar nur eine weitere Mitspielerin gebraucht. Die Sache ist nur die: Wenn Gefühle oder Sehnsüchte nur dadurch ausgelöst werden, dass wir jetzt nicht mehr haben können, was die ganze Zeit greifbar war, dann können wir uns nicht mehr trauen. Das gilt für all die geschönten Insta-Storys genauso wie für das eigene Herz.
»Bist du etwa eifersüchtig?«
»Im Leben nicht.«
»Also sehr.«
Ich mache eine wegwerfende Handbewegung und riskiere einen Blick über die Schulter, als ich Finn direkt in die Augen schaue. Ich bin mir nicht sicher, was ich in seinem Gesicht erkenne, ob ich es mir nur einbilde, aber einen gewissen Zug um seinen Mund deute ich so, als würde er mir den Schrecken gönnen, als gäbe es ihm ein klein bisschen Genugtuung, dass es mir nicht völlig egal war, dass heute Nacht eine andere Frau mit und bei ihm schlafen würde.
Ich dachte daran, dass sie und nicht ich über die ausgeblichene Kerze neben seinem ungemachten Bett lachen würde, die er eines Abends mal »für die Romantik« aufgestellt und ganz sicher von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Ich dachte an die Edding-Botschaft, die Anika und ich während seines Geburtstags betrunken auf den alten Spiegelschrank im Badezimmer gekritzelt hatten und fragte mich, ob sie das Herz bemerken würde, das er dann um meinen Namen gemalt hatte.
Ich fragte mich, ob sie auch irgendwann wieder gehen würde. Oder ob das hier gerade erst anfing – und bleiben könnte.
Mittlerweile liegt ihre linke Hand auf seinem Hintern, die andere auf seiner Brust, und ich bin mir sicher, dass ihre Lippen gar nicht so dicht an seinem Ohr liegen müssten, wenn sie nur ein bisschen lauter sprechen würde.
»Echt jetzt?« Ich bemühe mich um einen desinteressierten Tonfall, stattdessen klinge ich abfällig, und erschrecke über mich selbst.
»Komm mit …«, Anika zieht mich ein Stück zur Seite, aus seinem Blickfeld und dem kleinen Film in meinem Kopf. »Das ist doch gerade keine echte Eifersucht. Du willst ihn nur, damit sie ihn nicht hat. Und das ist nicht gerade fair, Lina. Lass ihn, lass die beiden.«
»Und was, wenn es doch mehr ist? Was, wenn ich das hier sehen musste, um zu merken, dass mir doch mehr an ihm liegt, als ich dachte?«
»Meinst du nicht, dass das ein ziemlich schwacher Grund wäre, um sich seiner Gefühle bewusst zu werden? Und mal ganz davon abgesehen: Was wird denn, wenn er sie jetzt für dich stehen lässt? Werdet ihr ein Paar? Ich dachte, du willst keine Beziehung?«
»Will ich ja auch nicht. Aber vielleicht will ich ja einfach gucken, was sich entwickeln könnte.«
»Und was könnte das sein?«
»Na, das würden wir dann herausfinden!«, rufe ich ungeduldig und streiche mir die Haare aus dem Gesicht.
»Ich meine, wer weiß, wohin das führen könnte. Von ganz allein, ohne Druck.«
»Du machst dir was vor. Entweder du willst eine Beziehung oder du willst keine. Entweder es gibt ein Ziel oder es gibt irgendwann ein Ende. Und ihr habt euch eben fürs Ende entschieden.«
»Warum muss denn immer alles Schwarz oder Weiß sein? Ich mag es dazwischen, ich mag auch einfach mal nichts definieren oder entscheiden müssen. Wir hatten ja auch nie irgendwas festgelegt und darum auch nie irgendwas beendet …«, sage ich und lehne mich mit dem Rücken gegen die kühle Wand. Hinter mir der Ausgang, vor mir Finn und sein Date. Ich bin müde. Und ich fühle mich unverstanden.
»Lina, hast du mal überlegt, dass es vielleicht deshalb so schön und so entspannt war, weil ihr eben genau das doch getan habt? Dass Finn dir von Anfang an geglaubt hat, dass du wirklich nur eine gute Zeit haben willst? Dass du wirklich vollkommen ausgeschlossen hast, dass daraus mehr werden könnte? Dass es ihm genauso ging und er sich deswegen so entspannt verhalten, die Nähe zu dir so ausgekostet hat? Dass du das ›Dazwischen‹, wie du es immer nennst, nur deshalb genießen konntest, weil es sehr wohl vorher eine Entscheidung, eine Richtung gab und keine mixed signals, an denen man sich ausbremst oder verunsichert? Weil ihr eben nicht ständig überlegen oder aneinander abtasten musstet, wie weit ihr gehen könnt, was der andere vielleicht schon fühlt oder wo das hinführt? Vielleicht stellst du dir jetzt die Frage, ob du ihn vielleicht übersehen hast, klar – aber vorher hast du das nie getan. Hast du ihn überhaupt mal gefragt, was er will?«
Und damit hatte sie einen Punkt. Ich drehte mich die ganze Zeit um die Frage, was ich fühlte oder was ich wollte. Ich betrachtete Finn wie eine Option, die ich abgelehnt hatte und die dadurch nun für eine andere Frau verfügbar geworden war. An ihn hatte ich keine Sekunde gedacht. Ich wusste nicht, ob er vielleicht auch mal über uns nachgedacht hatte, ob ich ihm auch manchmal durch den Kopf gegangen war, ob er sich an meiner Stelle vielleicht ähnlich oder doch eher gleichgültig fühlen würde. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, ob er Beziehungen wirklich von Anfang an ausschloss oder sich einfach nur mir angeschlossen hatte. Ich meine, wir zwei hatten auf einer Party, irgendwann nach Mitternacht, auf einem Sofa geknutscht und seitdem immer mal wieder miteinander geschlafen. Ich hatte ihn nie nach einer Richtung gefragt, ich hatte sie einfach angenommen. Ich hatte gedacht, das sei einfacher, erst, um mir keinen Druck zu machen, dann aber auch, um ihm keinen Druck zu machen.
Als mein Budget und meine Laune gegen zwei Uhr den Tiefpunkt erreicht haben, nehme ich die U-Bahn nach Hause. Weil ich die Anschlussbahn verpasse, sitze ich gut 15 Minuten auf dem Gleis und starre eine Zigarettenwerbung an, die mich auffordert, meinen Moment nicht zu verpassen, kein Vielleicht zu leben, sondern mich zu entscheiden. Aha.
Warum hatte es mich so getroffen, Finn mit dem Mädchen zu sehen? War es ein echtes Gefühl? Eine vernebelte Wahrnehmung? Ein gekränktes Ego? Hatte ich mich vielleicht einfach nur in eine Nacht hineingesteigert, die morgen schon ganz anders aussah? Gab es da nicht mal diese Fünf-Sekunden-Regel? Wie ging die noch mal …? Wenn es in fünf Jahren keine Rolle mehr spielt, verbringe nicht mehr als fünf Sekunden mit dem Problem. So irgendwie. Aber konnte das sein? Es klang irgendwie falsch, irgendwie oberflächlich. In fünf Jahren würde Finn vielleicht wirklich keine Rolle mehr spielen, aber woher sollte ich das jetzt wissen, wenn ich nur fünf Sekunden hatte, um mich zu entscheiden? Um nicht zu zerdenken, was heute Nacht nicht mehr zu lösen war, ging ich ins Bett.
Und als ich acht Stunden später mit einer Aspirin und einem schwarzen Kaffee wieder aufwache, fühlt sich alles schon viel weniger aufgewirbelt, längst wieder gesetzter an. Der Rausch, aber auch die Jagd nach dem, was ich gerade nicht haben kann, scheint genauso schnell wieder vorbei zu sein, wie sie kommt. So ist das mit Impulsen. So sehr sie sich manchmal in mir überschlagen, so schnell verlassen sie mich auch wieder. In dieser Hinsicht ist der Vergleich mit dem Sale-Shopping gar nicht so falsch: Ziehen wir das hier wirklich an – oder wollen wir es nur, weil es an der anderen Frau, die es gerade in der Hand hält, so gut aussieht? Würde ich jetzt neben Finn aufwachen, würde ich vermutlich das Gleiche denken, wie an jedem Morgen, der in seiner Wohnung begann: Das hier ist schön. Wirklich schön. Aber es fühlt sich nicht an, als könnte es alles das sein, was ich noch suche.