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Zwei Geister, Teil 1

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»Same lips red, same eyes blue

Same white shirt, couple more tattoos

But it’s not you and it’s not me

We’re not who we used to be«

- Harry Styles

Wir haben da dieses Ritual an den meisten Sonntagen, die wir in der Stadt verbringen.

Die Besetzung wechselt, die Location bleibt meistens gleich.

Während ein gutes Drittel der Kapstädter sich aufmacht, um über den Table Mountain oder auf den Lion’s Head zu wandern (clearly not us!), ein anderes Drittel an den Stränden zum Picknick verabredet ist oder am Glen Beach surft, fahren wir mit offenem Verdeck die Victoria Road entlang, lassen den Wind von Llandudno und das Blau der Oudekraal Bay hinter uns und tauchen in dicht bewachsene Hänge ein.

Es braucht nur 15 Minuten Fahrt, und die Vegetation hier ändert sich schlagartig. Von weißen Sandstränden und steilen Küsten, von weiten Horizonten – hin zu dem satten Grün der Winelands.

Das Constantia Valley ist das älteste Weinanbaugebiet der Kapregion und liegt malerisch eingebettet zwischen dem Tafelberg und den Constantia-Bergen. Das Klima hier ist ein bisschen kühler, aber milder, die Luft sinkt um ein paar Grad ab und alles ist so viel ruhiger als in der Stadt, entschleunigt sich. Unser Ziel: das Constantia Glen. Während der letzten zwei Jahre ist es zu unserem persönlichen Wohnzimmer unter freiem Himmel geworden. Es sind der ungestörte Blick auf die Weinstöcke, die entspannte Atmosphäre auf der großen Terrasse und das Essen, was uns immer wieder hierher zurückkommen lässt.

Wir setzen uns in den Garten, in unsere Lieblingsecke, auf die gestreiften Polster unter den großen Sonnenschirmen. Maggs ordert für uns eine Flasche Rosé, die Käseplatte, den Rote-Bete-Salat und frisches Brot mit geräucherter Butter. Ich setze meine Sonnenbrille auf und sie mischt das Kartenspiel durch. »Es ist der perfekte letzte Nachmittag des Wochenendes«, denke ich, strecke die Arme aus und lehne meinen Kopf zurück in die Sonne.

»Hey, you … what a coincidence!«

Als ich seine Stimme höre, erkenne ich sie nicht sofort.

Als ich zu ihm aufsehe, die Augen zusammenkneife, gibt es keinen Zweifel mehr.

Er trägt das bequeme weiße Hemd, in dem ich schon einmal aufgewacht bin, die Jeans und die gelben Vans, in denen ich ihn damals kennenlernte, als wir stundenlang bei Flaschenbier zusammen auf der Kloof Street saßen. Die Haare hat er zu einem Dutt gebunden, wie immer eigentlich. Wie an dem Samstagmorgen, als ich ihn zum letzten Mal sah.

Da steht er – nicht allein.

Das Erste, was ich denke, ist: Solltest du nicht gerade in active wear irgendeinen Berg hochkriechen? Solltest du nicht auf irgendeinem Roadtrip deine wiederentdeckte Beziehung genießen? Solltest du mich nicht ignorieren? War das nicht genau das, was du die letzten Monate getan hast?

Das Erste, was ich sage, ist: gar nichts.

Ich bringe keinen Ton heraus.

Er will sich zu mir beugen, mich umarmen, ich weiche aus. Noch immer stumm.

Der Erste, der die unbequeme, überfordernde Stille bricht, mich rettet, ist Jorge, Maggs’ Freund.

»Oh, hi, Nathan … was machst du denn hier?«

Ich höre seine Antwort nicht. Ich stehe auf und verschwinde auf die Damentoilette, nehme die erste Kabine, die offen steht, lasse die Tür hinter mir zufallen, schließe sie ab. Erst dann atme ich wieder. Oder zumindest kommt es mir so vor. Seit September habe ich kein Wort von ihm gehört, nicht eine Silbe, wochenlang habe ich ihn im letzten Jahr noch in der Stadt gesucht. Habe Abend um Abend die Bars nach ihm durchkämmt und eine von diesen irrsinnigen letzten Chancen gejagt, die nie kommen und dich trotzdem noch ewig auf sie warten lassen.

Ich hatte mir Hunderte Male ausgemalt, wie ich ihn wiedertreffen wollte. Und ich war mir sicher gewesen, dass ich, ganz egal in welcher Situation, ganz egal wie ich wirklich fühlen würde, diejenige sein würde, die mit geradem Rücken nur wenige Sätze lang stehenblieb. Stattdessen hatten mir die Worte gefehlt. Sie fehlen noch immer. Ich streiche mir über die Oberarme, über die Gänsehaut, die ich am ganzen Körper fühle, lege den Kopf in den Nacken und warte darauf, dass die Decke wieder anhält, dass das Drehen, das Klopfen, das Kribbeln nachlassen.

»Mallone?«, sie klopft an die Kabine. »Bist du okay?«

»Nein.«

»Brauchst du Wein?«

»Hm. Vermutlich.«

»Kannst du da rauskommen?«

»Ich weiß nicht«, sage ich, meine es, schließe aber trotzdem auf.

Maggs steht vor mir, lehnt gegen das Waschbecken, wartet darauf, dass ich zu sprechen beginne, darauf, dass dreihundert Silben in zwanzig Sekunden aus mir herauswollen, dass ich explodiere, mit Worten um mich werfe, bis sie mir ausgehen, mich dann sammle, mir die Hände wasche, die Haare richte, das Kleid glatt streife und dann zurück an unseren Tisch komme. Wenn ich spreche, wenn ich mich überschlage, weiß sie, dass ich okay bin. Wirklich schlimm ist es nur, wenn ich still bleibe.

»Also …«, beginnt sie vorsichtig. »Habt ihr zwei wieder Kontakt? Wusstest du, dass er heute hier ist?«

»Meinst du nicht, du wüsstest, wenn wir Kontakt hätten?«, ich sehe sie verständnislos an.

»Meinst du wirklich, ich hätte auch nur die geringste Idee gehabt, dass er ausgerechnet heute beschließt, mit Tansy auf ausgerechnet diese Weinfarm zu fahren und sich auch noch an unseren Tisch zu stellen, als wären wir verdammte Freunde?«, ich schüttle den Kopf und drehe den Wasserhahn auf.

»Also ignoriert er dich über Monate, antwortet dir nicht, erklärt sich nicht, schweigt sich nur aus, gibt keine einzige Reaktion ab – aber kommt heute, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, an unseren Tisch? Und will mit uns plaudern? Gerade steht er draußen und unterhält sich mit Jorge über die Feiertage und das Wetter und wie es uns denn generell so geht. Das ist doch nicht sein Ernst.« Sie schüttelt wütend den Kopf.

»Was für eine Dreistigkeit! Dich in so eine Situation zu bringen? Und dann auch noch vor ihr. Was hat er sich denn gedacht?«

»Vermutlich, dass nun zwölf Wochen vergangen sind und ich ihm ja kaum noch übel nehmen kann, dass er mich als Rebound benutzt und dann, als Tansy ihn vor lauter Einsamkeit wieder wollte, logischerweise schnell loswerden musste. Dass ich mittlerweile sicher längst und mithilfe zweier Tequila-Shots verarbeitet habe, dass ich ihm meine Gefühle auf mehr als sieben langen Seiten niedergeschrieben habe, damit er schlicht vergessen kann, sie je wieder zu erwähnen? Dass es ja nur freundlich ist, mal ganz nonchalant zu fragen, wie es mir so geht?«

»Ist ihm klar, dass er das Recht, nach dir zu fragen, schon vor einiger Zeit weggeworfen hat?«

»Und was genau hätte ich eigentlich sagen sollen? ›Nathan, wow, ja tatsächlich, ein riesiger Zufall, dich hier zu sehen. Wie geht’s? Was macht die Forschung, wie geht’s dem Rückgrat? Und du musst Tansy sein, ich hab schon so viel von dir gehört. Warst du nicht neulich noch in Namibia und hast neue Herausforderungen gesucht, weil dir Kapstadt und dein Boyfriend zu öde geworden waren? Na egal, ich bin jedenfalls Lina, das expat girl, das dir den Platz neben deinem Freund warmgehalten hat, bis du wieder da warst. So schön, dich endlich kennenzulernen, setzt euch, wollt ihr auch ein Glas Wein?‹«

Ich knülle das Papierhandtuch zusammen und werfe es mit mehr Schwung als nötig in den Mülleimer.

»Warum hat das eigentlich so lange gedauert, dass du endlich mal wütend wirst?«

»Was meinst du?«

»Über Monate habe ich mir angehört, dass der arme Nathan sich erst noch über seine Gefühle klar werden muss, dass der arme Nathan nicht weiß, was er tun soll, dass dem armen Nathan das Herz von dieser Tansy gebrochen wurde, dass er dir wirklich nie wehtun wollte. Schön, super, hat er aber trotzdem. Und es genau gewusst. Aber sich eben auch darauf verlassen, dass du es schon verstehen wirst, weil du immer alles verstanden hast. Weil du nie wütend geworden bist. Weil du ihn so verdammt gernhast.« Ihre Stimme überschlägt sich mittlerweile fast. Als die Tür aufgeht und zwei ältere Damen sich durch die Tür schieben, bricht sie ab.

»Okay, im Ernst, sollen wir fahren?«, fragt sie dann viel leiser und stellt sich neben mich, während ich meinen Lippenstift nachziehe, um mir noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen.

»Nein«, sage ich schließlich und treffe die Entscheidung, die eigentlich nie zur Diskussion stand. »Er kann auch fahren. Und außerdem gibt es nichts, das zwei Flaschen Rosé und ein paar dunkel getönte Gläser nicht lösen könnten.«

***

Während ich mich auf das Kartenspiel vor uns auf dem Tisch konzentrieren will, wandert mein Blick immer wieder über den Rand meiner Brille.

Ich kann ihn nicht sehen, nur seine Silhouette erahnen. Will nicht nach ihm suchen, aber ihn trotzdem nicht ganz aus den Augen verlieren. Sein Tisch hat die dritte Flasche Wein bestellt. Wir auch. Gleichstand.

»Hat er noch irgendetwas gefragt?«, ich lege eine rote Zwei auf den Stapel und warte darauf, dass Magdalena den nächsten Zug spielt.

»Nicht wirklich, er wollte wissen, wie es uns allen geht, was euer Start-up macht. Es war wirklich nur ein höflicher Small Talk über ein paar Gemeinsamkeiten.«

»Welche Gemeinsamkeiten? Was genau haben er und wir oder überhaupt er und Lina denn bitte noch gemeinsam?«, sie schüttelt irritiert den Kopf, zieht eine Karte und setzt ihren Spielzug aus.

»Im Moment den Weinkonsum«, sagt Jorge und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. »Im Ernst, Lina, ich glaube, ihm geht es gerade nicht so viel besser als dir. Er wirkte so nervös und schaut auch die ganze Zeit her.«

»Achtung, hier kommt sie wieder …«, Maggs kündigt die nächste Runde an.

Seit wir wieder sitzen, schenke ich uns nach (mir immer zweimal), und immer schaffe ich genau ein Glas Wein, bevor sie wieder an uns vorbeiläuft. Mal sucht sie einen Kellner, mal einen Sonnenschirm, dann Besteck, aber eigentlich immer nach mir. Als sie an uns vorbeikommt, wirkt sie absichtlich beschäftigt, aber trotzdem wandert ihr Blick wenigstens kurz in meine Richtung.

»Wir sollten sie vielleicht einfach erlösen und sagen: ›Hi Tansy, ja, das ist Lina, ja, sie sitzt noch immer hier, ja, wir haben dich gesehen, ja, du bist wieder seine Freundin, und ja, das Kleid steht dir tatsächlich großartig!‹«

Ich muss kurz grinsen, aber lehne nur kopfschüttelnd meine Stirn in die Handfläche.

»Ich verstehe sie, ehrlich gesagt. Stell dir vor, du bist wieder mit deinem Ex zusammen und triffst auf die Frau, die er immerhin ein paar Monate lang gedatet hat, und musst jetzt zusehen, wie er zu ihrem Tisch geht und sie sich auf dem Damenklo versteckt. Ich wäre nicht anders als sie, ich würde hier auch auf und ab laufen und wissen wollen, was eigentlich los ist …«

»Meinst du, sie weiß so genau, wer du bist?«

»Wenn sie es vorher nicht wusste, weiß sie es spätestens jetzt«, wirft Jorge ein.

»Erst die Szene hier am Tisch, jetzt hält er sich ausschließlich an seinem Glas fest und ist die ganze Zeit wahnsinnig angespannt. Natürlich ist ihr klar, was das hier für eine Situation ist. Und wie unwohl sich alle miteinander fühlen. Ich wette, er wünscht sich, er wäre heute wirklich einfach nur klettern gegangen …«

***

Auf dem Weg nach draußen stoppe ich kurz an der Bar, um noch ein paar Flaschen Sauvignon blanc für Kates Geburtstag mitzunehmen. Am kommenden Donnerstag treffen wir uns am Bakoven Beach, um im Sonnenuntergang auf sie anzustoßen. Übersetzt heißt das, dass wir Wein aus Pappbechern trinken, bis es zu dunkel für den Strand wird und wir im Roxy’s und später im Shack landen, zu Blink 182 und Rise Against tanzen, Trauben gegen Tequila tauschen und uns schließlich gegenseitig nach Hause oder zumindest bis zum Uber bringen. Es ist der perfekte Anlass, um das heutige Erlebnis zu verarbeiten. Bis dahin habe ich vor, es mit viel Arbeit zu verdrängen.

»Tut mir leid, aber wir akzeptieren gerade leider keine Kreditkarten.«

Die Kellnerin gibt mir meine Karte zurück über den Tresen.

»Haben Sie vielleicht Bargeld? Oder ein anderes Zahlungsmittel?«

»Oh, ja klar – einen Moment …«

Ich suche in meiner Tasche, finde erst zwanzig, dann noch einmal fünfzig Rand, aber nicht mehr genügend Bargeld. Ich will nach Maggs und Jorge rufen, die schon vorgegangen sind, um draußen auf mich zu warten. Als ich mich umdrehe, laufe ich fast in ihn hinein.

»Hey … noch mal«, sagt er und bleibt unsicher vor mir stehen. Erst will er einen Schritt von mir weg machen, aber der Bereich um den Tresen ist voller wartender Menschen.

»Tut mir leid, ich wollte dir nicht auflauern oder dich bedrängen – ich wollte nur auch noch eine Flasche …«, er deutet auf den Wein. Versucht ein Lächeln, schluckt es aber wieder herunter.

»Tut mir leid, wenn das vorhin komisch war. Ich wusste nicht, ob ich dich lieber ignorieren oder …«

»Oder mich überfallen sollst? Als wären wir tatsächlich gute alte Freunde, die sich aus einer längst vergangenen Zeit kennen?«

»Ich dachte, wir könnten es vielleicht irgendwann sein.«

»Ehrlich? Dachtest du das wirklich?«

»Ja … ich hab dich ja gern.«

»Hör zu. Ich habe seit Monaten nichts von dir gehört. Du tauchtest immer wieder auf, hast dir meine Bilder oder meine Storys auf Instagram angeschaut, bist um mich gekreist, aber warst nie greifbar.«

Ich atme tief ein, auch um Zeit zu gewinnen, um zurückzuhalten, was ich wünschte, jetzt und hier sagen zu können.

»Du bist kein Freund, du bist ein Geist.«

»Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte.«

»Weißt du es jetzt?«

Er zuckt nur mit den Schultern und meidet meinen Blick.

»Was auch immer …«, ich hebe die Hände und versuche, ihm aus dem Weg zu gehen.

»Ich wollte dir wirklich nie wehtun …«

»Du hast mir nicht wehgetan. Du hast mir das Herz gebrochen, Nathan.«

Ich drehe mich nicht noch einmal um, lasse ihn und meinen Wein stehen.

Ich muss raus, muss Distanz zwischen mich und ihn bringen, weil ich spüre, wie all die Gefühle in mir aufsteigen, die ich vorhin schon kurz im Waschraum gespürt hatte. Die Enttäuschung, der Schmerz – und die Wut. Die Wut, die ich über Monate wegerklärt, zerrechtfertigt hatte, die ich herunterschlucken musste, damit noch Platz für ihn blieb, falls er zurückkommen könnte. Denn auch wenn ich weitermachte, auch wenn ich aufräumte, auch wenn ich mich auf neue Träume konzentrierte, auch wenn ich mittlerweile nicht mehr der Mensch war, den er im letzten Herbst zurückgelassen hatte – ich hatte diesen letzten Funken nie auslöschen können. Ich hatte Nathan nicht langsam, achtsam und willentlich losgelassen, bis er immer blasser geworden und schließlich unsichtbar war; ich hatte ihn aus meinem Leben herausschneiden müssen, um überhaupt weitermachen zu können, ich hatte ihn aus meinem Innersten herausgetrennt, um irgendwie zu akzeptieren, was ich nicht ändern konnte: dass ich ihn nicht haben konnte. Ich hatte den Schmerz entschlossen verbunden, denn ich hatte entschieden zu heilen. Aber jede Wunde hinterlässt eine Narbe. Und meine brannte gerade.

»We’re just two ghosts standing in the place of you and me.«

Zweit.nah

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