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Ich, Liebe

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Nichts lädt. Nicht einmal eine E-Mail. Nicht wenn ich auf der Terrasse stehe und den Arm weit über die Brüstung ausstrecke. Nicht wenn ich auf den kleinen Hügel, knapp zweihundert Meter vom Bootshaus entfernt, steige. Und auch jetzt noch immer nicht, während ich schon seit einer halben Stunde über die Farm laufe. Ich habe keinen Empfang – und um ganz ehrlich zu sein auch keine Ahnung, wohin ich eigentlich unterwegs bin. Ich weiß lediglich, was ich finden will: im besten Fall einen Sendemast.

Heute ist der 3. April 2020. Heute kommt mein erstes Buch heraus, heute erscheint schnell.liebig im deutschen Buchhandel, heute Abend gibt es online bestimmt schon Reaktionen, morgen früh vielleicht eine erste Rezension. Man sagt, ein Buch wird erst dann wahr, wenn es gedruckt ist, wenn man es selbst festhält und noch einmal darin liest. Meines ist zwar gedruckt, getrocknet und gebunden, aber ich gerade 9.855 Kilometer davon entfernt. Und ich habe nicht einmal ein beständiges Signal, um mit meinen mobilen Daten die Entfernung zu verkürzen.

Vermutlich blättern jetzt schon Hunderte Menschen in dem Buch, das meine Geschichte erzählt, in den 62.821 Worten, mit denen ich die Zeit beschreibe, in der ich gute, aber auch desaströse Dates erlebe, nach Liebe und vor allem mir selbst suche. Ich verliebe mich in meinem ersten Buch. Immer wieder. Und ich breche mir dabei selbst das Herz. Um zu lernen, dass es heilt. Immer wieder. Und während dieses Prozesses begreife ich etwas: Die Antworten auf die Frage, was du von der Liebe willst, liegen vor allem in den Entscheidungen, die du selber triffst. Und ob sie richtig oder falsch sind, wohin sie dich bringen, stellst du dabei manchmal erst fest, nachdem du sie getroffen hast.

Eine meiner letzten hat mich hierher geführt, nach Chrissiesmeer, einem kleinen Ort in Mpumalanga, einem der nördlichen Distrikte Südafrikas. Seit ein paar Tagen lebe ich in einem Bootshaus auf einer Farm. Stromversorgung oder ein stabiles 4G-Netz gibt es hier, zumindest im Umkreis der dreihundert Meter, die ich bisher abgelaufen bin, nicht. Dafür weite, lang gestreckte Graslandschaften und Frösche, vermutlich Zehntausende. Blikslaanertjies – also kleine Blechdosen – heißen diese kleinen Frösche auf Afrikaans, denn nachts, wenn Hunderte von ihnen ebenfalls nach Liebe suchen, klingt es, als würde man viele Dosen klappern hören oder mit einem Stock an ihnen entlangstreichen (neben meiner ständigen Nervosität um den heutigen Tag auch einer der Gründe, warum ich in der letzten Nacht schlecht geschlafen habe).

Vor zwei Wochen hatte die Welt die Türen zugemacht. Erst Europa, dann die USA – und jetzt auch Afrika. Sie alle versuchten, das Coronavirus einzudämmen. »Kommst du mit?«, hatte er gefragt, kurz nachdem der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa den Lockdown für das Land verkündet hatte. 21 Tage lang plante Südafrika, sich unter absolutem Verschluss zu halten. Niemand durfte sein Zuhause verlassen, lediglich einer Person war es erlaubt, den wöchentlichen Einkauf zu erledigen, alle Flüge wurden gestrichen, Züge sowieso, und kein Alkohol, kein Tabak durften mehr verkauft werden. (Die restlichen Details kennt ihr auch aus Deutschland, ich muss sie euch nicht aufzählen. 2020 ist gerade mal ein paar Monate her, ihr wart vermutlich dabei.)

Er, das ist Chris. Ein Mann, den ich gerade mal einen Monat vorher kennengelernt hatte.

»Kommst du mit?« Das war die Frage, ob ich ihn begleiten wollte, auf das Stück Land seiner Familie, 1.800 Kilometer von Kapstadt entfernt.

Nach 18 Stunden Autofahrt waren wir angekommen und in die kleine Hütte gezogen. Während der ersten zwei Tage hatte ich auf meinen Spaziergängen auf der Farm noch Angst vor Schlangen im hohen Gras gehabt. Jetzt gerade, heute, fürchte ich mich ausschließlich vor Amazon und den offenen Bewertungen.

Ein befreundeter Autor hat mir erzählt, dass er die Kritiken seiner Bücher nie liest. Daraufhin habe ich es getan und gedacht: »… vermutlich besser so.« Kommentarspalten können ein grausamer Ort sein. Vor allem dann, wenn nicht nur eine Figur oder ein Charakter, sondern du selbst zwischen all den Worten steckst.

»Ich weiß noch nicht, ob ich es wirklich authentisch finde …«, hatte zum Beispiel eine Pressevertreterin, nachdem sie einen Blick in das Manuskript werfen durfte, geurteilt, und ich gedacht: Es ist so oft das Leben, das die Kapitel und Wendungen schreibt, die dir in einem Roman, wenn du sie noch einmal erzählst, niemand abnehmen würde. Ich hatte es trotzdem versucht. Nur, um mir jetzt selbst nicht mehr sicher zu sein, ob es mir gelungen war.

»Ich hoffe ja, dass sie am Schluss bereit für eine echte Beziehung ist und es sich mit einem der Männer ernsthaft entwickelt, das fände ich reif und erwachsen, denn diese leichtsinnige Singlefrau, die sich immer wieder auf neue Dates einlässt und behauptet, all diese Erfahrungen wirklich zu genießen, nehme ich ihr nämlich nicht so ganz ab«, hatte die Kritikerin außerdem noch getippt.

Vermutlich wird sie bitter enttäuscht sein, denn mein erstes Buch endet mit mir selbst. Nicht mit einer endlich gefundenen Beziehung, nicht mit dem gängigen Ende eines Singleromans, in dem ich entweder den kriege, den ich zu lange übersehen habe oder mich gegen zwei entscheide, die beide nicht ganz passen. Ich bekomme sie nicht, die zwei Hauptcharaktere, in die man sich verlieben könnte, während man von ihnen liest. Einem entkomme ich. Den anderen muss ich loslassen. Und trotzdem fühlt sich das letzte Kapitel nicht wie ein Trostpreis an, wie ein Ende, das ich umschreiben muss, weil mir die Darsteller in der letzten Minute doch noch ausgegangen sind. Für mich ist es eine Befreiung, die pure Erkenntnis, die ich tatsächlich erst in den letzten Monaten meiner Reise endlich gewann: Ich habe auf 256 Seiten nicht vorrangig und schlussendlich (vermeintlich) erfolglos nach tollen Männern oder Beziehungen gesucht, sondern den Weg zu mir gefunden, in mein tiefstes Innerstes.

Ich weiß jetzt, was ich will.

Ich weiß, was ich von der Liebe will; was ich durch all die Erfahrungen, die ich manchmal kaum erwarten konnte und manchmal unfreiwillig machen musste, über sie gelernt habe. Und immer, wenn ich die letzten Sätze wieder lese, spüre ich dieses tiefe Vertrauen in mir, das mich ausfüllt, das mir eine Richtung gibt, der ich instinktiv folgen kann. Ich habe gelernt, dass ich keine anderen Menschen, Freunde, Männer oder Orte mehr finden muss, die blind verstehen sollen, was mich auszeichnet und wie man mich glücklich macht. Bei diesem Gefühl bin ich selbst angekommen – und trage es in mir. Überallhin.

»I am a small fish in a big, big blue sea and I like it.«

– Billie Marten

Eigentlich ist es verrückt. Frauen, die nach einer längeren Weile als Single eine neue Beziehung eingehen, werden beglückwünscht, haben offenbar ein paar weitere Stufen ihrer persönlichen Entwicklung genommen und schlagen eine neue Seite auf. Frauen, die sich bewusst gegen die Chance auf irgendeine Beziehung entscheiden, werden hinterfragt. Als könnten sie in Wahrheit nur entweder unreif, unglücklich oder aber unehrlich zu sich selbst sein.

Die Welt erwartet von allen »normalen« Menschen eben doch noch, dass sie einander irgendwann finden (am besten, ohne zu suchen, logisch), dass sie Beziehungen eingehen, dass sie »ankommen« – und sendet damit gleichzeitig die Message, dass etwas mit all denen, die es vermeintlich immer wieder ausschlagen oder aber immer wieder scheitern, schlicht nicht stimmen kann. Wenn man rein rechnerisch mehr als drei Versuche wagt und trotzdem weiterhin »leer« ausgeht (als wären wir Hüllen, die andere füllen sollen), kann da doch etwas mit den Erwartungen, den Einstellungen oder gleich der ganzen Persönlichkeit nicht stimmen, oder?

Wer mit über 30 noch Single ist, der ist entweder rebellisch, narzisstisch oder egoman oder schlicht zu verkrampft auf der Suche. Auf jeden Fall aber: nicht angekommen. Dabei bin ich mir sicher, dass grundsätzlich jeder von uns längst weiß und fühlt, dass sein Wert oder eben auch seine Entwicklung nicht von einem Partner abhängt. Dass Singles genauso erfolgreich oder interessant, so erwachsen und gefestigt sind wie ihre Freunde in Partnerschaften und sie nicht auf einem schlechteren, weniger erfüllenden oder auf dem Weg in die Sackgasse sind. Das ist ja keine Neuigkeit.

Und trotzdem müssen vor allem Frauen noch immer ihren Singlestatus erklären, verteidigen oder generell gut gemeinte Ratschläge veratmen. Es wird immer noch großflächig missbilligt, eine alleinstehende Frau oder Person mit einer Vagina zu sein. Wer Single wird, ist frei. Wer lange Single ist, muss auf der Suche sein. Und wer zu lange Single bleibt, der scheint gescheitert?

Es gab Menschen, die sich wünschten, ich hätte das Ende um- und mich näher an eine neue Beziehung herangeschrieben. Als würde dieses Buch, in dem eine Frau über ihre Erfahrungen als Single und ihre Sehnsucht nach Liebe schreibt, irgendwie an Wert verlieren, wenn sie sie am Ende nicht mit Nathan oder Gustav findet. Es gab auch Menschen, die fanden, dass dieses Buch mit dem ehrlichen, ungeschönten Ende nicht genug Inspiration sein könnte und mehr Hoffnung bräuchte, dass das schnell.liebige bald endet, dass bald etwas bleibt. Ein Wort: niemals.

Ich rücke in den letzten Sätzen nicht dichter an den nächsten Mann oder an die nächste Beziehung heran. Ich gehe meine eigenen Schritte. Und ja, das klingt wie eine Floskel, aber es ist vielleicht eine der intensivsten Lektionen überhaupt: sich nicht auf jemanden zu- oder von jemandem wegzubewegen – sondern einfach nur sich selbst. Ich warte nicht auf die Liebe, ich suche nicht nach der Liebe, ich finde nicht die Liebe. Ich trage die, die ich wirklich brauche, bei mir. Aber jetzt das Wichtigste: Ich will trotzdem noch so, so viel mehr von ihr, in all ihren Facetten. Ich war nie näher an ihr und mir dran.

Das ist der Punkt, an dem mein erstes Buch endet. Das ist der Ton, mit dem ich weitergemacht, weitergelebt und weitergeliebt habe. Nichts hat sich daran geändert, als ich begonnen habe, am zweiten Manuskript zu arbeiten.

Ich weiß noch nicht, nach wie viel mehr Liebe ich hier, auf dieser Farm, mit diesem Mann, greifen kann. Ich kenne ihn erst seit zwei Monaten, seit vielleicht sieben Dates, aber ich habe gar nichts zu verlieren. (Außer meine Nerven, das hier ist ja trotzdem immer noch der Tag, an dem mein erstes Buch erscheint.)

Ich habe jetzt und hier noch immer keinen festen Plan, ich habe ja noch nicht einmal genug Empfang, aber ich habe Antworten.

Ich, Liebe. Punkt. Aber von vorn …

Zweit.nah

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