Читать книгу Zweit.nah - Lina Mallon - Страница 8

Warum wir aufhören müssen, uns finden zu lassen

Оглавление

Paul ist Musiker. Hauptberuflich. Und ich übertreibe nicht zu seinen (oder meinen) Gunsten, wenn ich an dieser Stelle erwähne, dass er wie eine Kombination aus Freddy Mercury und Harry Styles aussieht, als er auf mich zukommt: Die Ärmel seines Shirts nach oben gekrempelt, die Haare zurückgeworfen, die Hände hat er in die Hosentaschen gesteckt und mit seinen dunkelgrünen Chucks gerade noch eine Zigarette ausgetreten.

Natürlich hat er lange Locken und ein instinktives Autoritätsproblem, natürlich habe ich ihn getindert, natürlich war er eine Impulsentscheidung, natürlich gehen wir noch am gleichen Abend ein Bier trinken. Das hier ist eine Verabredung, um nach Monaten der absoluten Pause den Staub von mir, meinem signature outfit (Jeansjacke, das eine Blumenkleid) und meiner eigenen Datingroutine zu klopfen. Daten, das musst du immer wieder lernen oder zumindest immer mal wieder hinterfragen, was genau du eigentlich von so einem Abend willst, damit er Spaß macht und sich leicht und unbeschwert anfühlt. Denn ganz egal wo du hinwillst – das ist immer der Anfang. Eine gute Zeit, kein Krampf, kein Kampf.

In Hamburg hatte ich meine kurzen Wintertage am Schreibtisch oder mit meinem Hund in den Parks verbracht. Ich hatte mit jedem Kapitel, das ich schließlich abgab, ein paar mehr Türen geschlossen, durchgeatmet und weitergemacht. Ich hatte nie entschieden, dass ich eine Pause von Dates oder Männern bräuchte, ich hatte mir nicht auferlegt, mich nicht zu verlieben oder jeder Chance darauf aus dem Weg zu gehen. Die letzten Monate mit mir – ganz allein – passierten unterbewusst und vielleicht auch weil ich nicht das eine wollen und nur das andere geben konnte. Ich hätte nichts investieren, aber trotzdem alles fühlen wollen. Und das ist eine toxische Rechnung, die nie aufgeht. Wenn du eigentlich noch den einen willst, aber ein anderer trotzdem dich wollen soll – führt das in der Realität nur dazu, dass dir umso bewusster wird, wie sehr du vermisst, was du nicht haben kannst. Menschen sind keine Pflaster. Oder sollten keine sein. Ich war gerade erst zu einem gemacht worden. Und es hatte gedauert, vielleicht genau diese Zeit gebraucht, mein eigenes Herz sich von dieser Erfahrung erholen zu lassen.

Denn jetzt wollte ich ein Date. Mehr nicht und genau das. Eine Bar, ein Mann, eine Frau, vielleicht zwei Bier und ein gutes Gespräch. Das Gefühl, einem völlig Unbekannten von mir zu erzählen, von ihm zu hören und in unserer Konversation nach diesem bisschen Chemie zu suchen, das den Unterschied ausmacht. Ich wollte es auf mich zukommen lassen, ob wir nach einem Drink getrennt zahlen oder noch eine zweite Runde bestellen. Ob wir noch vor zehn Uhr oder nach Mitternacht nach der Rechnung fragen. Ob ich mir ein Uber rufe oder wir gemeinsam die vierhundert Meter bis zu meinem Apartment laufen. Ob ich ihn vor der Haustür nur kurz umarme oder noch ein bisschen länger in seiner Nähe hängen bleibe, bis wir uns küssen. Ob der Kuss endet oder dauert und dauert und dann intensiver wird. Ob seine Hände an meiner Taille bleiben oder er in meinen Nacken greift. Ob ich mich dann von ihm löse, ein paar Zentimeter zwischen uns bringe und allein den Code eintippe, der meine Haustür öffnet, oder ob ich ihm in die Augen schaue, ihn mit einem Blick herausfordere und abwarte …

Paul zögert, die Lederjacke von meinen Schultern zu nehmen, die er mir eben auf dem Weg nach Hause geliehen hat. Aber er zögert auch, noch einen Schritt auf mich und meine Haustür zuzumachen. Von einem Moment auf den anderen wirkt er nicht mehr wie dieser unangepasste Künstler, der aus der Einöde von Bloemfontein nach Kapstadt geflohen war, um hier Musik zu machen, seine Welt, seine Einflüsse und seine Inspiration zu vergrößern und um mit seiner Jazzband nachts in Klubs zu improvisieren, statt mit einer Gitarre auf Hochzeiten den immer gleichen Ed-Sheeran-Song zu spielen. Eben noch war er der Typ, der den Barkeeper mit einem Handschlag und einer Umarmung begrüßt hatte, ungefragt Tequila bestellte, der seinen Arm die gesamte Zeit über auf meiner Rückenlehne liegen ließ, seinen Platz einnahm – und auch mich. Zwei Stunden lang hatte ich ihm zugehört und es genossen, dass er so viel zu erzählen hatte, dass er es uns so leicht machte, dass unsere Themen in unterschiedlichste Richtungen ausuferten, dass wir nicht für einen Moment im Small Talk hängen blieben. Ich fand Paul spannend. Jetzt auf einmal fand ich ihn still. Sehr still.

»Hör zu, ich würde gerade super gern einfach mit dir nach oben kommen, aber ich muss dir da noch was sagen … und ich weiß jetzt gar nicht wirklich, wo ich da anfangen soll«, beginnt er vorsichtig, verlagert sein Gewicht vom einen auf das andere Bein, wartet meine Reaktion ab, als würde sie beeinflussen, wie seine Geschichte gleich weitergeht.

Ich zucke mit den Schultern, weiß was jetzt kommt, verkürze den Dialog.

»Du hast eine Freundin.«

»Nein …«

»Du hast eine Ex-Freundin, in die du noch verliebt bist?«

»Oh, Gott, nein.«

»Du hast Kinder?«

»Nein, man … wie kommst du denn darauf?«

»Nenn es Instinkt, oder vielleicht auch Erfahrung …«

»Ich hab da bei einer Sache gelogen. Aber ich habe keine Kinder und ich bin auch nicht verheiratet oder so …«

»Was bist du dann? Auf Bewährung? Ist das hier eine Henri-van-Breda-Situation?«*

»Ich bin kein Mörder, okay? Ich bin einfach nur nicht 25 Jahre alt …«

»Sondern?«

»Ich bin 19.«

***

Okay, das war neu. Ich hatte schon ein Date mit einem Mann, der ein paar Minuten nach dem Sex zu weinen begann, weil er seine Ehefrau so vermisste. Dass es überhaupt eine gab und sie sich erst vor zwei Wochen von ihm getrennt hatte, erfuhr ich erst in diesem Moment. Ich hatte schon einmal ein Abendessen mit dem abgehalfterten Star einer ehemaligen Boyband durchgestanden, zwischen dessen realer Ausstrahlung und den (Presse-)Bildern, die er auf Tinder benutzt hatte, in etwa der Marianengraben hätte passen können. Ich war belogen worden, wenn es um Jobs ging, um Ex-Freundinnen, generell, wenn es sich um den emotionalen Zustand nach einer Trennung handelte. Ein Typ hatte mir sogar mal erzählt, er hätte zwei Jahre für die Navy gedient, während er eigentlich schon in einem Tretboot seekrank wurde. Aber ich hatte noch nie einen Mann geküsst, der sich sechs Jahre älter gemacht hatte, als er war. Ich hatte generell noch nie einen Mann gedatet, der zehn Jahre jünger war als ich.

(Ich habe das Gefühl, es ist eigentlich unnötig zu erwähnen, aber der Vollständigkeit halber: Es blieb mein einziges Date mit Paul.)

***

»Lass mich kurz zusammenfassen: Kate hat ihren Anwaltstitel bekommen, ihr habt ein Business gegründet, ich wandere nach Indonesien aus, Maggs und ihr Freund sind zusammengezogen. Kate und ihr Freund sind zusammengezogen. Ich bin weiterhin Single – oh, und Lina hat vor ein paar Tagen einen Teenager geküsst. Fehlt noch was?«

Es ist der klassische Brunch in Kapstadt: ein Tisch draußen in der Sonne, breakfast cocktails, Rührei oder Omelett und zwölf angerissene Gesprächsthemen in den ersten dreißig Minuten.

Ich habe die girls seit Monaten nicht gesehen. Von Maggs höre ich täglich, und auch Kate ist zu einem Teil meines Lebens geworden, aber alle anderen Bekanntschaften in Südafrika leben immer erst dann wieder wirklich auf, wenn ich im Land bin. Während meiner Zeit in Deutschland sind wir auf den sozialen Netzwerken in Kontakt, aber um uns wirklich voneinander zu erzählen, fehlt dann doch meistens entweder die Zeit oder auch einfach die Nähe. Mein erster Samstag zurück in der Stadt wird darum zum Catch-up-Date.

Jana wickelt ihr Besteck aus der Serviette und nimmt noch einen Schluck aus ihrem Glas, während ich von meinem Date erzähle.

»Er war kein Teenager, als ich ihn geküsst habe. Da war er noch 25!«

»Red es dir nur ein, wenn es dir damit besser geht«, Maggs nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und schüttelt lachend den Kopf.

»Vielleicht suchst du ja auch einfach an der falschen Stelle oder dir eben immer die falschen Männer aus …«, will Jana gerade ansetzen, aber Kate unterbricht sie:

»Das sind ja nun keine News. Ein Wort zu Linas Männergeschmack: Aroma-Jesus.«

»Entschuldigung, was?«, werfe ich noch ein, aber gehe in dem Gelächter der Gruppe unter.

»Oh mein Gott, nie hat es jemand besser beschrieben!« Maggs wischt sich die Tränen aus den Augen.

»Es ist wahr. Jeder Typ, den du in den letzten zwei Jahren gedatet hast, hatte lange, dunkle Haare, eine schmächtige Gestalt und sah generell aus, als würde er morgens frisch gepflückte Kräuter erst zu einem Cleansing-Ritual und dann zu einer belebenden Haarkur verarbeiten. Jeder von denen wurde von der Welt irgendwie noch nicht ganz verstanden und hatte irgendein Leiden, bei dem du ihm auch nicht helfen konntest.«

»Gustav hatte die Drogen, okay, aber Matt hatte kein Leiden?«

»Seine Karriere.«

»Sein Ego.«

»Seinen eingefrorenen Trustfonds.«

»Okay, aber Nathan …«

»Seine Ex.«

»Punkt für euch.«

»Aber jetzt mal ehrlich. Vielleicht brauchst du einen Cut.«

Jana zieht eine Stange Sellerie aus ihrer Bloody Mary und zuckt mit den Schultern.

»Den hatte ich doch …«

»Nein, ich meine, vielleicht musst du dich einfach mal zurücklehnen, nach keinem Mann auch nur die Augen offen halten und gucken, was passiert, wer dich findet. Du weißt schon, absolut nichts und niemanden suchen, ganz offen annehmen, was auch immer auf dich zukommen mag und dabei etwas total Unerwartetes erleben …«

»Das trifft vielleicht auf Indonesien und das backpacking zu. Ich meine, nicht genau zu wissen, wo du bist oder wohin du als Nächstes willst, ist sozusagen die Essenz von einer Reise, von einem Abenteuer – aber wenn es um Beziehungen geht, klingt diese grenzenlose Freiheit für mich eher nach maximaler Fremdbestimmung.«

»Meine Freundin Charly zum Beispiel hatte beschlossen, erst einmal Single zu bleiben und das Jahr nach der Uni für neue Erfahrungen zu nutzen, aber dann hat sie im letzten Festivalsommer auf dem Rocking the Daisies auf einmal Jack getroffen und …«

»… und seitdem ist alles ganz anders gekommen und statt der neuen Erfahrungen, nach denen sie suchen wollte, lebt sie jetzt einfach die, die er machen wollte? Das ist doch genau das, was ich meine.«

Ich führte dieses Gespräch nicht zum ersten Mal und ich habe sicher schon Hunderte Artikel über »glückliche, moderne« Beziehungen oder »erfolgreiches« Dating gelesen, die immer ungefähr den gleichen Beginn hatten: Ich wollte eigentlich Single bleiben./Ich wollte mich eigentlich auf meine Karriere konzentrieren./Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen und ein paar Monate reisen./Ich hatte eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben, aber dann kam er und alles war anders.

Was ist das für eine moderne Rettungsfantasie, die wir da einander erzählen, und warum muss eigentlich immer alles anders sein, sobald irgendein Mann auf der Bildfläche auftaucht?

Als ginge es in der Liebe darum, dass irgendjemand kommt, uns an die Hand nimmt und in irgendeine Situation schiebt, die wir gar nicht erwartet oder erdacht haben, aber jetzt einfach mal so an- und schließlich übernehmen.

Warum muss der Mensch, der uns glücklich macht, immer alles, was wir eigentlich wollen, umwerfen und eine neue Richtung festlegen?

Wir müssen unbedingt aufhören, uns finden zu lassen.

Wir müssen aufhören, keine Erwartungen zu haben.

»Ich weiß heute, was ich von der Liebe will. Und das bedeutet, dass ich selbstbestimmt zugreifen und mich für sie entscheiden kann, wenn ich sie finde. Wo ich sie finde, unter welchen Umständen ich sie finde oder bei wem, das darf ja trotzdem offenbleiben. Ich habe bei Paul, um ehrlich zu sein, gar nichts gesucht, außer mal wieder ein gutes Date. Ich habe keine Agenda, ich wollte einfach irgendwo wieder anfangen – und dabei Spaß haben«, sage ich in die Runde.

»Aber dann bist du ja doch gar nicht so weit von Janas Theorie entfernt, oder? Du willst ja auch auf dich zukommen lassen, was aus deinen Dates wird.«

»Ich glaube, der Unterschied ist der, dass ich aussuche, wen ich date, unter welchen Umständen, für wie lange oder mit welcher Absicht. Ich kann sie ändern, wenn ich es möchte, aber warte nicht passiv darauf, dass sie mir irgendjemand vorgibt oder mich mitreißt, aus meinen Plänen herausreißt oder mir überhaupt das Gefühl gibt, dass ich wieder welche hätte. Ich bin offen, aber date trotzdem selbstbestimmt. Das heißt, dass ich mich auf jede Erfahrung, die ich noch machen will oder die sich gut anfühlt, einlassen kann, aber mich darin nicht verlieren muss.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagt Kate. »Und ich habe manchmal auch das Gefühl, dass wir es viel zu oft an unserem Alter oder der Frage, wie lange wir schon Single sind, festmachen, wie wir daten oder wonach wir suchen sollten. Wenn du zum Beispiel so wie Jana gerade mit dem Studium fertig bist, erwartet man von dir, dass du gar keine Erwartungen hast und einfach nur Erfahrungen sammelst. Das ist die Grundidee. Wenn du auf das Ende deiner Zwanziger zugehst und vielleicht über mehr als zwei Jahre Single geblieben bist, solltest du langsam anfangen, deinen Plan zu ändern und dich zu fokussieren. Und wenn du dann mit Mitte dreißig immer noch keine Wurzeln schlägst, bist du entweder egoistisch oder lost …«

»Und das ist so ein Blödsinn!«, stimme ich ihr zu. »Ich habe zum Beispiel einen großen Teil meiner Zwanziger damit verschwendet, vermeintlich längst fertig mit mir und erwachsen zu sein. Ich habe mich in eine Beziehung gezwungen und an den Wochenenden unsere Wohnung umdekoriert und Dinnerpartys mit anderen Paaren gegeben. Es hat ewig gedauert, aufzuwachen und mich selbst zu fragen: Was mache ich hier eigentlich? Und viel wichtiger: Will ich das? Oder folge ich hier nur einem fremden Plan, in den ich irgendwie so hineingerutscht bin? Ich hatte mit Anfang zwanzig nicht die geringste Idee, wie mein eigenes Leben wirklich sein soll, wie meine Beziehung wirklich sein soll. Ich wusste nur, was andere vermutlich erwarten würden.«

»Und genau das ist der Punkt! Im Ernst, wir müssen es endlich mal normalisieren, dass man auch mit Mitte vierzig oder nach acht Jahren als Single noch entspannt nach der Liebe suchen darf. Dass eine Beziehung nichts ist, was du brauchst, sondern wofür du dich entscheidest. Es ist total okay, wenn du erst in deinen Dreißigern oder sogar Fünfzigern anfängst, deine eigenen Träume zu leben, oder vielleicht sogar erst jetzt den Mut aufbringst, sie zu verfolgen. Unser Leben endet ja nicht magisch mit 29, und bis dahin musst du gefühlt alles erlebt haben, um dir jetzt sicher zu sein oder alles entscheiden, bevor es zu spät wäre.«

»Cheers«, sage ich und stoße mit Maggs an.

»Das große Problem ist nicht, niemanden zu finden – sondern jemanden, der einfach nur darauf wartet, dass ich ihn irgendwo finde.«

*Henri van Breda ist ein verurteilter Mörder aus Südafrika. Während er auf seinen Prozess wartete, durfte er sich frei bewegen, nahm einen neuen Job an, verliebte sich. Seine Freundin erfuhr erst Monate später, wer er wirklich war.

Zweit.nah

Подняться наверх