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Selbst bestimmt, abgehakt

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»Weißt du jetzt eigentlich schon, wann du Sonntag wieder nach Kapstadt kommst? Du kannst mir ja einen Live-Standort schicken!«

Ich antworte nicht.

»Ist sonst auch egal. Ich bin nur so aufgeregt, dich am Sonntag endlich zu sehen, ich weiß gar nicht, ob ich heute Nacht ruhig schlafen kann«, schreibt er.

Ich lese die Nachricht, schließe sie und lehne mich zurück in die Kissen meines Hotelbettes. Dieses Date ist ein Fehler. Jetzt schon. Nicht weil der Typ mit den braunen Locken und dem schönen Lächeln, den ich vor ein paar Tagen auf Tinder fand, mir so offen schreibt, dass er aufgeregt ist, mich kennenzulernen – sondern weil er tatsächlich meine Rückfahrt aus Hermanus tracken will. Vor allem aber, weil seine nervöse Vorfreude auf unser Date (süß) sich binnen weniger Stunden in mittlerweile mehrfach erwähnte Schlafstörungen gesteigert hat (creepy) und er mir in den letzten vier Tagen, die seit unserem Match vergangen waren, mehr als dreißig Nachrichten schickte. Und ich wünschte, das wäre eine Übertreibung.

Seine dritte Nachricht war ein langes Kompliment gewesen, in dem er mir ausführlich erklärte, was für eine große Anziehung ich allein durch meine Fotos auf ihn ausüben würde. Seit der fünften Nachricht nannte er mich »sweet Lina«. Morgens wollte er wissen, wie ich geschlafen, abends, was ich erlebt, gegessen oder gedacht hatte.

»Ich find ihn total süß. Er bemüht sich doch einfach nur um eine Konversation …«, sagt meine Freundin, als ich ihr ein paar der Nachrichten beim Abendessen zeige.

»Sarah, ich habe ihn gefragt, was er gerade auf Netflix schaut und er hat mir eine Liste mit seinen Lieblingsfilmen, Serien und Dokumentationen geschickt. Es waren mehr als vierzig.«

»Ja, okay, er ist irgendwie ein bisschen unbeholfen. Aber er hat ja gesagt, dass er ewig kein Date hatte und aus einer langen Beziehung kommt. Der weiß einfach nur nicht, wie Daten geht.«

»… und sucht vermutlich ’nen Rebound.«

Ich hatte wenig Lust darauf, die Einstiegsübung für seine Tinder-Karriere zu sein. Erst im letzten Jahr lernte ich schmerzhaft, dass es kein »mieses Timing« ist, wenn du dich in jemanden verliebst, der noch an seiner letzten Beziehung hängt. Sondern das offensichtliche Risiko, das du völlig freiwillig eingegangen bist, als du dich dazu entschieden hast, dich weiterhin mit einem Mann zu treffen, der dir beim ersten Date erzählt, dass er gerade Tinder ausprobiert, um sich abzulenken.

»Warum musst du denn die Typen aber immer vorher so schlechtmachen?«, fragt sie mich. Das sitzt. Und stimmt nicht.

»Ich mache ihn nicht schlecht. Ich mache mir nur Sorgen um mein gängiges Muster. Ich frage mich einfach, ob ich mir, von all den Männern, mit denen ich hätte matchen oder die ich hätte daten können, wieder die rote Flagge ausgesucht habe. Es fühlt sich nämlich so an. Es fühlt sich einfach nicht authentisch, sondern irgendwie komisch an. Ich bin mir nicht mal sicher, wessen Erwartungen er mit all diesen Nachrichten und Komplimenten damit so unbedingt steigern will, seine oder meine?«

»Vielleicht ist dein Thema ja auch einfach, dass du schlicht nicht gut darin bist, Komplimente anzunehmen?«

Mein Bauchgefühl war: Justin war entweder auf der Suche nach einer Ersatzbeziehung oder sogar – noch viel eher – jemand, der mich mit Komplimenten und langen Nachrichten so lange überschütten würde, bis ich sie schließlich erwiderte – nur um dann das Interesse zu verlieren.

Seit 2018 gibt es auch einen Begriff dafür: mosting beziehungsweise love bombing.

Wer mostet, bombardiert sein Date mit vermeintlicher Zuneigung und Liebe, mit Versprechen und ganz, ganz viel Aufmerksamkeit. Und das noch vor dem ersten Date. Würde jemand, der mostet, sein Tempo und seine Versprechen halten, wäre man in weniger als drei Monaten verheiratet. Ist man aber meistens nicht.

»Wenn du keine Lust hast, ihn zu treffen, sag halt ab …«, waren Sarahs letzte Worte gewesen, bevor wir das Thema wechselten. Und das war der Punkt. Ich wollte nicht absagen. Ich freute mich auf ein neues Date, darauf, einen neuen Mann in meiner Lieblingsstadt zu treffen. Ich hatte wieder Lust auf Dating – und vielleicht war ich deswegen umso skeptischer, dass Justin sich nicht als entspannter Neustart, sondern eher als Wiederholung ankündigte. Mein Instinkt sagte mir, dass ich es mit einem vielleicht unsicheren, vielleicht auch unehrlichen Mann zu tun hatte, dem es weniger darum ging, mich kennenzulernen, sondern vor allem darum, mich für sich zu gewinnen. Aber die Stimmen meiner Freunde machten mein Bauchgefühl zur Bitterkeit. Und ich begann, an mir zu zweifeln: Konnte ich mir noch trauen? Sah ich wirklich (endlich!) klar die roten Flaggen, wenn sie sich zeigten, und sollte ich dieses Date absagen – oder hatten sie möglicherweise recht? War ich vielleicht durch ein paar Enttäuschungen der letzten Zeit irgendwie bitter geworden, verurteilte ich ein paar nette Nachrichten, ein bisschen überschwängliche Zuneigung, ein paar gestreute Komplimente direkt – statt sie offen zu genießen?

Selbst zwanzig Minuten vor dem Date zögere ich noch.

Erst als Justin mir schreibt, dass er ein wenig zu früh und schon da sei, weiß ich, dass ich keinen Rückzieher mehr machen kann. Und als ich aus dem Uber steige und ins Roxy’s laufe, ihn umarme, er mich anlächelt, wirklich nervös, wirklich aufgeregt wirkt – bin ich froh, dass ich meinen Bauch ignoriert, dass ich meine comfort zone verlassen habe. Vielleicht war mein Zögern ja auch genau das gewesen: meine eigene Unsicherheit vor dem ersten neuen Date nach dem letzten Absturz. Meine Freunde hatten vielleicht gesehen, was mir nicht bewusst gewesen war …

Als wir uns vor meiner Tür verabschieden, umarmt er mich lange, schaut mir noch einmal in die Augen und – küsst mich. Völlig unerwartet, innig und so lange, dass ich mich an ihn fallen lasse. Es ist fast zu kitschig. Wir stehen vor meiner Haustür, der South-Western-Wind fliegt um uns, und als er mich schließlich loslässt, sagt er, was ich denke: »Das war der perfekte Kuss.«

Keine zwei Tage später sehen wir uns wieder. Er kocht für mich in meiner Wohnung, ich schenke Wein ein und versuche, mir die Spannung nicht anmerken zu lassen, die mir im Nacken kribbelt. Ich weiß noch nicht wirklich viel über diesen Mann, der da gerade barfuß an meinem Herd steht. Während unseres ersten Dates haben wir vor allem UNO gespielt, ein bisschen über mein Buch oder seinen Job am Theater geredet, aber ich kann seine Anziehung auf mich fühlen.

Und dann, als er sich umdreht und sagt: »Okay, das muss jetzt ungefähr 45 Minuten in den Ofen …«, packe ich den Moment, ziehe ihn zu mir auf das große Bett, das nur einen halben Zentimeter von der Küchenzeile meines Apartments entfernt steht.

Der Sex mit Justin? Ist großartig, beinahe wahnwitzig. Als wir nebeneinander auf den zerwühlten Bettlaken liegen, fühle ich mich fast berauscht, so schnell schlägt mein Herz, so sehr hallen die letzten Berührungen in meinen Muskeln und auf meiner Haut noch nach.

Ich grinse ihn an und er küsst meine Schulter. »Du bist wunderschön …«, sagt er dann.

»Ich hab seit Tagen nichts anderes im Kopf gehabt als das hier. Und du bist einfach noch so viel aufregender, als ich dachte.«

Als wir in zwei Laken gewickelt die Lasagne in meinem Bett essen und irgendwann das Licht ausgeht, weil der Stadt wie so oft in diesen Tagen der Strom fehlt – fühle ich mich so leicht wie schon lange nicht mehr. Das hier habe ich gewollt, genau das. Ein bisschen Zuneigung, ein bisschen Ablenkung, ein bisschen Nähe …

»Ich muss aufstehen, sonst schlafe ich noch ein.«

Seine Stimme schiebt sich zwischen meine Gedanken. »Okay …«, sage ich und löse mich aus seiner Umarmung. Vielleicht ist das genau richtig so. Vielleicht ist es besser, wenn er nicht hier schläft, wenn es nicht so schnell so viel Intimität zwischen uns gibt. Ich war noch nicht wieder bereit für eine neue Beziehung, das wusste ich – und ein Teil von mir war dankbar, dass er sich mit einem Kuss an der Tür verabschiedet, »Wir sehen uns!« sagt und es mir so leicht macht, die Stimmung zwischen uns so entspannt und casual zu lassen.

»Ich habe noch nie eine so bezaubernde Frau wie dich kennengelernt, Lina. Ich wäre so gerne geblieben und hätte jeden Zentimeter von dir die ganze Nacht lang gefühlt«, steht auf meinem Bildschirm.

Okay. Fast casual. Fast.

Von da an sehen wir uns, wann immer seine Jobs es zulassen. Er arbeitet als Kellner, studiert im Master und spielt abends am Theater. Wenn er früh genug rauskommt, sehen wir uns für ein oder zwei Stunden bei mir, trinken ein Glas Wein, haben Sex, kuscheln noch für ein paar Minuten – und verabschieden uns wieder.

Und für eine Zeit ist das alles, was ich mir wünsche. Seine Nachrichtenflut entspannt sich, nimmt immer mehr ab und kommt damit auf einem Level an, das ich angenehm finde. Wir hören voneinander, wann immer wir uns sehen wollen – er fragt nach meinem Tag oder ich ihn, wie sein Casting war. Erst nach ein paar Wochen bemerke ich die Langeweile, die sich anschleicht, bemerke, was mir fehlt: irgendeine Verbindung zu dem Menschen, mit dem ich schlafe. Ich meine damit keine Beziehung, vielmehr das Gefühl, nicht nur körperlich, sondern auch mental befriedigt zu sein, wenn ich einschlafe. Ich brauche mehr als einen rasenden Puls am Ende unserer Abende. Ich will den Menschen kennenlernen, den ich da so nah an mich heranlasse.

Er redet wenig über sich, und je mehr ich nachfrage, desto knapper werden seine Nachrichten. Statt Dates haben wir Sex, und so viel Spaß ich dabei auch mit ihm habe, so routiniert und gleichbleibend fühlen sich unsere Treffen jetzt schon an. Und dann sind da auch noch diese stille Leere zwischen uns, wenn der Sex vorbei ist, meine nachlassende Spannung, die eigentlich nur noch kurz vorher besteht, und die nur noch so dahintröpfelnden Gespräche, die doch eigentlich gerade erst anfangen sollten.

Als ich ihn ein paar Tage später zu einem After-Work-Date mit Freunden einladen will, schlägt er vor, mich lieber später direkt in meinem Apartment zu treffen. Ich rolle innerlich mit den Augen, sage trotzdem zu und frage ihn, ob ich den Parkwächter bitten soll, ihm einen Platz in der Tiefgarage zu reservieren.

»Ich kann aber nicht über Nacht bleiben, ich muss morgen früh raus und das Café aufmachen – und dann vorher noch duschen, und du weißt ja, wie lang mein Arbeitsweg von Woodstock immer ist …«

»Du kannst auch bei mir duschen, wenn du möchtest. Von mir bis zum Café ist der Weg ja auch kürzer, dann kannst du sogar länger schlafen und musst nicht ganz so früh raus«, tippe ich.

»Ich habe leider eine sehr spezielle Art und Weise zu schlafen, ich fahre darum lieber nach Hause. Und ehrlich gesagt mag ich es nicht, dass du mir jetzt solchen Druck machst, wenn ich dir bereits sage, dass ich nicht bleiben kann.«

Eine spezielle Art und Weise zu schlafen. Aha.

»Ich glaube, mir war heute Abend eher danach, ein bisschen mehr Zeit mit dir zu verbringen. Lass es uns einfach verschieben«, tippe ich halbherzig und lasse mein Handy wieder in der Tasche verschwinden.

Ich bin nicht überrascht, dass er nicht sofort antwortet. Eigentlich überrascht mich nicht einmal der Text, den ich am nächsten Morgen lese.

»Weißt du, Lina, vielleicht solltest du jemanden treffen, der dir mehr Aufmerksamkeit geben kann. Ich habe neben meinem Studium und meinem Job einfach keine Zeit für Dates, ich hab jetzt schon zu viel zu tun, und ehrlich gesagt ist mir das auch zu anstrengend, dass du mich am liebsten zweimal in der Woche sehen willst. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.«

Vor fünf Jahren hätte mich dieser Text verunsichert, sogar verletzt.

Habe ich vielleicht doch zu viel Druck gemacht? Aber er hatte doch so viel Interesse gezeigt? Hätte ich vielleicht seltener antworten, überhaupt mehr Zeit zwischen meinen Antworten verstreichen lassen sollen? War ich nicht spannend genug geblieben? Hatte ich zu schnell zu viel Zuneigung gezeigt? Wäre es besser gewesen, sich einfach mal zwei Wochen rar zu machen? Hätte das nicht viel mehr gebracht? Warum war er erst so interessiert, schrieb mir so viele Nachrichten und hatte jetzt schon die Lust an uns verloren? Wie konnte ich es noch retten?

Solche Fragen wären mir durch den Kopf gegangen, hätten Gespräche mit meinen Freundinnen bestimmt, mehrfach. Ich hätte nach mehreren Gläsern Chardonnay im Bett gelegen und wäre das Gefühl nicht losgeworden, dass ich schuld daran war, dass schon wieder eine Reihe von Dates, ein weiterer Versuch, so schnell abbrach. Ich hätte mir vorgenommen, beim nächsten Mal einfach noch weniger zu fragen, zu erwarten, noch weniger zu wollen.

Heute, während ich alleine in meinem Apartment aufwache, mir einen Kaffee mache, ihn mit zurück in mein Bett nehme, auf dem sich gerade die Sonne Platz macht und ich noch einmal über Justins Nachricht lese – ist es ganz anders. Endlich anders. Ich muss mich nicht fragen, wo mein Fehler lag, was falsch, nicht spannend oder nicht gut genug an mir war: Ich wusste es besser. Und hörte wieder auf mein Bauchgefühl, das ich drei Wochen lang unterdrückt hatte.

***

Ich hatte den Mann kennenlernen wollen, mit dem ich schlief. Ich hatte Intimität und Offenheit mit jemandem genießen wollen, den ich ja längst so nah an mich heranließ. Und ich hatte es ihn ganz einfach wissen lassen. Dass er aus einer Einladung eine Anstrengung und aus meinem Wunsch, ihn auch außerhalb meines Bettes zu sehen, Druck machte, war seine Interpretation, nicht meine. Dass er einen einfachen Vorschlag so negativ auffasste, zu einer Forderung machte, die er nur von sich schieben konnte, hatte nichts damit zu tun, dass ich etwas falsch gemacht oder überstürzt hatte (After-Work-Drinks sind kein Eheversprechen!), sondern dass er einen lahmen Ausweg dort suchte, wo er genauso gut hätte offen sein können. Statt mir ehrlich zu sagen, dass sein Interesse an mir einfach nachgelassen hatte und er diesen fling zwischen uns lieber auslaufen lassen würde – bauschte er die Einladung, bei mir zu schlafen, zu einem Problem auf.

Ein Teil von mir hatte große Lust, ihm seinen Love-Bombing-Bullshit vorzuhalten. Aber wofür? Reine Energieverschwendung. Noch dazu konnte und wollte ich besser sein als ein Typ, der seine Unsicherheit auf mir abzuwälzen versuchte. Stattdessen tippte ich:

»Du hast recht. Ich mag es, eine Verbindung zu einem Menschen zu haben, wenn ich mit ihm schlafe. Ich mag es, wenn ich einen Menschen kennenlernen darf, und am meisten mag ich, wenn das ganz natürlich passiert. Unser vibe passt da einfach nicht zusammen, ich glaube, wir können es darum auch einfach genau hier beenden.«

Dann löschte ich die Konversation. Einfach fühlte es sich an, völlig unbeschwert. Es ist leichter, die Dinge zu beenden, zu sehen, Grenzen zu ziehen, wenn man weiß, was man will. Ich wollte einen Mann nicht nur heimlich und bequem in meiner Wohnung treffen. Ich wollte nicht nur Sex und ein paar abgesprochene Treffen nach einundzwanzig Uhr auf meinem Sperrbildschirm. Ich wollte ihn daten, kennenlernen, mehr über ihn erfahren. Ich wollte mich wohl dabei fühlen, ihn zu mögen und es laut auszusprechen. Ich wollte selbstbestimmt mit meinen Gefühlen umgehen, statt ständig auszuloten, ob ich sie überhaupt haben, denken oder zwischen den Zeilen verstecken durfte. Ich wollte mich nicht mehr hinter passiven Datingregeln einsperren, sie alle befolgen und hoffen, dass ich damit belohnt wurde, noch eine weitere Woche erwählt zu werden. Ich wollte nicht mehr um die richtige Zeit und Zeichenanzahl für eine Antwort kreisen, ich wollte einfach antworten. Ich wollte schon so lange aus dieser Paralyse ausbrechen, in der Frauen versuchen, immer nur genau so viel von sich zu sein, dass sie noch bequem, aber aufregend genug, noch offen, aber auch noch interessant genug, noch eine Herausforderung, aber bloß niemals schwierig wären. Und ich tat es.

Früher wäre Justin eine negative Datingerfahrung gewesen, eine Ablehnung, die mir wehgetan hätte. Heute ist er einfach nur eine Prüfung, wie gut ich mich selbst kenne und mir dabei vertraue. Genug. Endlich, endlich genug.

Zweit.nah

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