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Begin again

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Wir rollen langsam um die letzte Kurve, behäbig, leicht wankend. Dann halten wir inne, bleiben kurz stehen, als würden wir Luft holen, als müsste sich ein Schalter umlegen, als müsste jemand eine Entscheidung treffen – und starten. Wir nehmen mit jedem Meter mehr Kraft auf, brauchen die Strecke bis zu ihrem Ende auf, bis wir schließlich abheben können. Wir sind nicht federleicht, wir haben viel Gepäck dabei. Aber: Wir sind in Bewegung.

Es gibt Menschen, die gehen zwölf Stunden durch einen Kampf. Manche mit ihren Ängsten, andere mit ihrem Sitznachbarn oder diversen Rückenlehnen. Für mich ist es jedes Mal einfach ein langer Sonntag mit, zugegeben, weniger Beinfreiheit, aber gutem Service. In regelmäßigen Abständen bekommt man Snacks oder einen Drink gebracht, das Essen hat die gleiche Qualität wie die der erreichbaren Lieferdienste in Eimsbüttel, und ich habe endlich mal wieder Zeit, ein paar neue Filme zu schauen – oder alte wiederzuentdecken. Ich liebe Langstreckenflüge. Ganz im Ernst. Wenn man die sperrigen Koffer, das Umsteigen, die eventuellen Verspätungen und die drängelnde Menschenschlange am Gate hinter sich hat, wenn die schwere Tasche (die aufgrund meiner Kameraausrüstung und meines Laptops, der Ladegeräte, der Bücher und Notizhefte, die ich immer dabeihabe, sicher wieder zwölf Kilogramm wiegt, obwohl es maximal acht sein dürfen) sicher verstaut und der Fensterplatz meiner ist, entspanne ich mich.

Ich bin auf dem Weg nach Kapstadt. Mal wieder, schon wieder, endlich wieder. Vor zwei Jahren saß ich zum ersten Mal mit Übergepäck in diesem Airbus, lebte drei Monate am Kap – und auch wenn ich es noch immer nicht ganz laut sage, habe ich damals schon beschlossen, irgendwann mal ganz zu bleiben. Nicht unbedingt in den nächsten fünf Jahren, aber irgendwann. Für den Moment fühlt es sich noch richtig an, hier für ein paar Monate zu überwintern, mir langsam ein zweites berufliches Standbein aufzubauen und trotzdem die Verbindung nach Deutschland zu halten. Wenn ich irgendwann den zweiten Fuß nachziehe, den Dackel und einen Container packe, um meinen Lebensmittelpunkt nach Südafrika zu verlegen, will ich sicher sein, dass ich es hier drüben schaffe. Vor acht Wochen habe ich mit meiner Freundin Maggs ein kleines Start-up gegründet, das kleine, individuelle Weintouren anbietet. Nicht die Art, bei der du viel über Wein wissen musst, um dich vor dem Sommelier nicht zu blamieren, und dann, nachdem die ersten Fragen in die Runde gestellt werden, dich und dein Glas in der hintersten Ecke versteckst. Sondern die, bei der ein paar Menschen einen Tag lang gemeinsam über die Winelands touren, in entspannter Atmosphäre miteinander anstoßen, neue Weinsorten und lokale Produkte auf den Farmen probieren, die Landschaft und einen gemeinsamen Lunch zwischen Weinstöcken genießen und vor allem eines in sich aufsaugen dürfen: das ganz besondere Lebensgefühl von Südafrika.

Die Idee dafür hatten wir schon lange, aber erst im November, kurz vor Weihnachten, machten wir bei einem langen Telefonat und zwei Gläsern Wein auf jeder Seite Ernst. In zwei Wochen starten wir mit unserer ersten Tour, die ausverkauft ist. Bis in den April hinein soll unsere erste Saison laufen – und ein Test dafür sein, was wir aus we need glasses irgendwann mal entwickeln könnten.

Mein Manuskript für schnell.liebig habe ich noch vor dem Jahreswechsel abgegeben. Während ich auf dem Weg über den afrikanischen Kontinent hin zu seinem südlichsten Teil bin, liegt es bei einem Korrektor, wird in vier Wochen dann in den Satz gebracht und schließlich gedruckt. Bis dahin bleibt mir Zeit. Zeit, mich auszuprobieren, Zeit, mir Gedanken über meine nächsten Schritte zu machen.

Als ich im vergangenen September zuletzt nach Kapstadt gereist war, hatte ich vor allem einen Weg zurück gewollt (auch wenn ich es vor allen anderen und auch mir selbst als die Suche nach einem Abschluss getarnt hatte): Zurück zu dem letzten Mann, in den ich mich verliebt hatte, der sich in mich verliebt hatte, nur um dabei zu bemerken, dass er eigentlich noch eine andere liebte – und schließlich zu ihr zurückkehrte. Seit unserer letzten Begegnung auf dem Old Biscuit Mill Market hatte ich nie wieder von ihm gehört. An Weihnachten schickte ich ihm um kurz vor Mitternacht, während ich in der Dunkelheit in meinem geparkten Auto vor meinem Elternhaus saß, noch einmal eine Nachricht – vor Pathos triefend, hochemotional und am Ende absolut unnötig. Natürlich hat er nicht geantwortet, hätte ich auch nicht.

Nathan und Tansy waren glücklich. Ich war nur ein kleiner Teil seiner Vergangenheit, eine Lücke im Lebenslauf ihrer Beziehung, die irgendwann verschwimmen und schließlich ganz verschwinden würde. Ich wusste das. Seit Monaten, ich hatte uns längst genug betrauert, hatte ich es akzeptiert. Und wollte trotzdem noch einmal ganz sichergehen, dass es wirklich vorbei war. Es ist nämlich so: Wenn dein Herz erst einmal vor jemandem liegt, fällt es nicht schwer, für die Zugabe noch mal in alle Taschen zu greifen und nachzusehen, ob du nicht doch noch ein bisschen Sehnsucht und Gefühl findest, das du für ein letztes bisschen Glitzer draufstreuen könntest wie ein Zauberkünstler, der längst weiß, dass sein letzter Trick nicht zündete, aber zumindest auf ein bisschen leisen Applaus hofft, bevor er wirklich final von der Bühne abtritt.

Die Stille hatte ich verdient. Und sie tat mir gut.

Ich war für niemand anderen als mich in dieses Flugzeug gestiegen. Am anderen Ende der Welt gab es niemanden, den ich jagen musste oder der auf mich warten würde. Ich war nicht auf der Flucht, ich war nicht am Ziel. Ich war einfach unterwegs.

Als die Stewardess mich nach meinem Getränkewunsch fragt, bestelle ich einen Gin Tonic.

Für manche mag das der Drink sein, den sie zwischen 2016 und 2018 einfach zu oft getrunken haben. Für mich ist er ein Ritual. Auf jedem Flug ins oder aus dem Land heraus bestelle ich Gin Tonic. Seit meinem ersten Besuch in Südafrika (damals fotografierte ich als Reisejournalistin eine einwöchige Safari durch das Wildreservat von Madikwe), bei dem wir den Drink im Sonnenuntergang, mit Blick auf eine Elefantenherde, die ungestört an uns vorbeizog, tranken, schmeckt Gin Tonic für mich nach Afrika und nach einer der besten Erinnerungen überhaupt. Auf dem Rückflug hatte ich die Zeit genutzt und mehr als achthundert Aufnahmen gesichtet und vollkommen überwältigt über dieses Land nachgedacht, das zu keinem Zeitpunkt auf meiner bucket list gestanden hatte, aber damals, nachdem ich nur einen Funken davon erleben durfte, schon so viel in mir bewegte.

Ich weiß noch genau, welchen Film ich damals sah – und seitdem immer wieder schaue, vor allem dann, wenn ich ein bisschen Inspiration suche, die sich mir nicht aufdrängt, aber trotzdem immer wieder trifft. Begin again heißt der Film, in dem eine Songwriterin mit gebrochenem Herzen einen Produzenten in einer Bar trifft, der gerade seinen Job und auch generell jede Richtung verloren hat. Zusammen fangen sie neu an. Von ganz unten. Sie schreibt über ihren Kummer und er nimmt ohne Budget in den Straßen New Yorks einen Sommer lang ein Album mit ihr auf. Er weiß nicht, wie er es verkaufen wird, ob es sich je verkaufen wird – aber er glaubt wieder an etwas. Sie glaubt an gar nichts mehr, außer ihre Musik – und bleibt genau deshalb.

»Can a song save your life?«, fragt der Film in seinem Untertitel. Kann etwas so Kleines wie ein Song, den du nebenbei in einer Bar hörst, wirklich dein Leben verändern, es sogar retten? Kann ein noch so unscheinbarer Moment rückblickend der eine sein, nach dem du zum Glück gegriffen hast? Der wirklich alles ändert, nachdem nichts mehr zu ändern war? Kann der eine, anfangs kleine Schritt, den du ohne echte Richtung machst, wirklich schon genug für einen unerwarteten Anfang sein?

Die Antwort ist nicht sehr laut, der ganze Film ist es nicht. Er schreit dir nicht entgegen, dass du alles noch einmal drehen kannst, wenn du es nur willst. Du erwartest an verschiedenen Stellen und Wendepunkten, dass jetzt ganz bestimmt die Dinge passieren oder eintreten, die nun mal passieren würden oder eintreten müssten. Denn das hier ist doch ein Film über die Liebe oder zumindest eine Geschichte darüber. Und dann passiert das Gegenteil. Nicht weil das Schicksal für die Protagonisten Greta oder Dan entscheidet – sondern sie selbst. Sie steuern nicht den ganzen Film über darauf zu, ein gebrochenes Herz mit dem Erstbesten (Versöhnung) oder Zweitbesten (neue Liebe) zu flicken, sondern konzentrieren sich auf ihre eigenen, kleinen Neuanfänge. Auch wenn das, was sie tun, nur ein vages Ziel hat. Greta geht, ohne es zu planen oder zu lange darüber nachzudenken, einen impulsiven, kreativen Prozess ein, der vielleicht nicht viel mehr für ihr Leben bedeutet, als einen Sommer lang Erinnerungen zu schaffen. Sie krempelt nicht ihr Leben um. Sie macht keine harten Schnitte, sie fängt nicht einfach von vorne oder neu an und liest sich mithilfe eines Ratgebers keine Skills für eine völlig neue Sicht- oder Lebensweise an. Sie macht einen kleinen Schritt. Und dann noch einen.

Nichts in diesem Film ist eine riesige Entscheidung, er erzählt nicht von dem ganz großen Feuerwerk, das wir als Belohnung bekommen, wenn wir unsere verlorenen Pläne über den Haufen werfen und bereit sind, sie anzuzünden.

Begin again ist wie ein tiefer Atemzug, wie frische Luft in der Lunge. Und er bringt dieses Gefühl mit, dass kleine oder wichtige Neuanfänge jederzeit möglich sind. Und dass du immer dann, wenn du das Gefühl hast, dass das nicht so ist, wenn du glaubst, generell nichts mehr an deinem eigenen Leben ändern zu können – es erst recht tun solltest.

Die Dinge, die den Unterschied machen, passieren nicht irgendwann, sondern unterwegs. Und genau darauf freue ich mich, wenn ich in ein paar Stunden lande, ins Auto steige und vor der kleinen Wohnung parke, von der aus ich über die Kloof Street schauen kann. Ich freue mich auf alles, was in den nächsten Monaten kommt. Auf die Dates, die ich wieder haben werde, die Menschen, die ich kennenlerne, die Türen, an denen ich vorbeikommen könnte. Ich spüre Vorfreude auf das Unbekannte. Ich habe Lust darauf, den nächsten Mann, den Ausgang von meinem nächsten Samstag oder den nächsten ersten Kuss noch gar nicht kennen zu können.

Endlich wieder.

Zweit.nah

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