Читать книгу Chase - Linwood Barclay - Страница 6

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»Sauber? Das ist doch nicht sauber.« Tante Flo zog den Vorhang zurück und inspizierte die Duschkabine. »Was denkst du dir eigentlich dabei, Jeffrey?«

»Tut mir leid«, sagte Jeff. »Ich hab mich halb totgeschrubbt.«

»Weißt du, woran man erkennt, ob es richtig sauber ist?«, fragte Tante Flo. »Wenn man das Wasser laufen lässt … hier, ich zeig’s dir …« Sie drehte den Hahn auf und zog schnell die Hand unter dem kalten Wasserstrahl weg. »Siehst du, wie hässlich das Wasser auf den Fliesen zerrinnt? Wenn sie so richtig glänzen würden, würden sich dort Tropfen bilden. Siehst du da irgendwelche Tropfen?«

»Ein paar schon«, antwortete Jeff müde. Er war um sechs Uhr aufgestanden, noch vor Sonnenaufgang. Dass man sich als Zwölfjähriger schon um diese Uhrzeit mit dem Rest der Welt auseinandersetzen musste, fand er eigentlich einfach nur unverschämt – besonders im Spätsommer, wenn noch Ferien waren. Die Schule würde erst in ein paar Wochen wieder losgehen, und zum ersten Mal, seit er denken konnte, freute Jeff sich sogar darauf.

Heute war Samstag. Früher hatte Jeff samstags ausschlafen können, und wenn er dann irgendwann aufgestanden war, hatte er nichts zu tun gehabt, außer faul herumzuhängen. Doch diese Samstage waren lange her. Es war erst zehn Uhr, und Jeff kam es vor, als wäre er seit Tagen auf den Beinen.

Hier bei Flo’s Cabins herrschte am Samstag immer Hochbetrieb, vor allem im Sommer. Zu dieser Jahreszeit blieben die meisten Leute, die zu Tante Flos Angelcamp am Pickerel Lake kamen, nämlich genau eine Woche, und das bedeutete: von Samstag bis Samstag. Immer samstags zogen aus allen oder fast allen der acht Hütten die alten Gäste aus, und neue zogen ein. Das war der große »Wechseltag«, so nannte Tante Flo das.

An Sommersamstagen hatte Jeffrey deshalb alle Hände voll zu tun, unter anderem musste er die Hütten so schnell wie möglich auf Vordermann bringen. Wobei »Hütten« fast zu rustikal klang. Es waren zwar keine vornehmen Villen, aber jede davon hatte fließend Wasser und ein eigenes Bad mit Dusche. Diese Hütten zu putzen, war Jeffs bescheidener Meinung nach der mieseste Job von allen – denn wenn sich eine Bande Angler irgendwo für eine Woche einnistet, hinterlässt sie meistens eine sagenhafte Verwüstung: mit Essensresten verkrustetes Geschirr, halb leere Bierflaschen mit Zigarettenstummeln darin, der Mülleimer randvoll mit Fischeingeweiden … Jeff ging eine leicht abgewandelte Zeile aus einem der Lieblingsmusicals seiner Mom durch den Kopf: »Ich denke an das, was schrecklich …«

Doch Jeff hätte lieber hundert Teppiche gesaugt, tausend Fenster geputzt und eine Million Herde gereinigt, als ein einziges Badezimmer zu säubern, in dem eine ganze Woche lang drei Angler mittleren Alters gewütet hatten. Das war ein wirklich schwerer Fall von MEW, von Maximal Eklig und Widerwärtig. Konnten die Typen beim Pinkeln denn überhaupt nicht zielen? Wuschen sie sich eigentlich die Hände, bevor sie zum Handtuch griffen? Und marschierten sie wirklich mit ihren verschlammten Stiefeln in die Dusche?

Tante Flo war eine Sauberkeitsfanatikerin. Egal wie gründlich Jeff putzte, sie hatte immer etwas zu meckern – auch an diesem Samstagvormittag, als sie in die Duschkabine von Hütte 4 spähte, Jeffs letzter Hütte an diesem Tag. Wenigstens würde ihm Hütte 8 erspart bleiben, denn dort zog niemand aus oder ein. Der alte Mr Green hatte sie sich für den ganzen Sommer gemietet, und der hielt sie auch ohne Hilfe einigermaßen in Ordnung.

Doch auch so hatte Jeff einen Haufen Hütten hinter sich bringen müssen. Das einzig Gute war, dass heute zumindest keine neuen Gäste mehr eintrudeln würden … außer irgendjemand, der nicht vorreserviert hatte, nahm spontan die Abzweigung zum Camp, das konnte immer sein. Es war aber eher unwahrscheinlich. Jetzt, wo sich der Sommer dem Ende zuneigte, mussten die meisten Leute schon wieder an die Arbeit denken und ihre Kinder für die Schule startklar machen, hatte Tante Flo ihm erklärt.

»Ich glaube, den Anglern ist es ziemlich egal, ob die Fliesen nun total glänzen oder nicht«, sagte Jeff zu ihr, während er mit den letzten Schmutzpartikeln kämpfte. »Die wollen’s nur halbwegs sauber haben.«

Tante Flo seufzte. Das war ihre absolute Lieblingsreaktion: kurz einatmen, dann langsam und leise ausatmen und dabei zusätzlich den Kopf schütteln.

»Das ist deine ganze Lebenseinstellung, oder?«, meinte sie. »Hauptsache, es ist gut genug. Tja, bei mir gibt es leider kein gut genug. Ich will, dass es perfekt ist.«

Als wäre das hier kein Angelcamp, sondern das Hilton.

»Unseren männlichen Gästen«, sprach Tante Flo weiter, »mag es egal sein, ob hier alles glitzert und glänzt, aber viele von ihnen kommen mit Frau und Kindern, und an einer Unterkunft, die sie bei Florence Beaumont mieten, sollen die Damen nicht das Geringste auszusetzen haben.«

»Wie du meinst«, murmelte Jeff, griff zu der Sprühflasche mit dem giftgrünen Putzmittel und machte sich mit dem Scheuerschwamm ans Werk.

Nachdem sie auch diese Auseinandersetzung mit ihrem Neffen gewonnen hatte, marschierte Tante Flo zufrieden davon, um seine Arbeit in Hütte 1 zu überprüfen. Der Junge schrubbte währenddessen weiter, und in der engen Duschkabine stiegen ihm die Putzmitteldämpfe in die Nase, bis er fast in Ohnmacht fiel. Wobei das eigentlich mal eine nette Abwechslung wäre, dachte Jeff. Wie ein Mini-Urlaub.

Wenn er hier fertig war, würde es wenigstens hinaus an die frische Luft gehen. Jeff hatte noch mehr als genug Aufgaben im Freien vor sich.

Drüben an den alten Holzstegen waren einige Vier-Meter-Aluminiumboote vertäut, die Tante Flo an ihre Gäste vermietete. Jeff hatte sich darum zu kümmern, dass die Kähne immer anständig aussahen und halbwegs fahrtüchtig wirkten. Sobald er mit der Duschkabine fertig war, lief er deshalb die paar Meter zum Ufer und verscheuchte dabei die vor seinem Gesicht herumschwirrenden Mücken.

Das erste Boot sah aus, als wäre darin jemand abgemurkst worden. In den paar Zentimetern Dreckwasser, die unten hin und her schwappten, schienen kleine Klumpen aus Eingeweiden zu treiben. Jeff wusste aber, dass es bloß Regenwürmer waren. Allerdings richtig fette Prachtexemplare, wie Angler sie eben am liebsten mochten.

Wenigstens schwammen in diesem Boot keine … oder doch. Oh doch, da hatte jemand an Bord seinen Fang ausgenommen. Und das bedeutete nicht, dass irgendein Angler den armen Fischen das Geld aus der Tasche gezogen hätte. Nein, hier hatte jemand Fische ausgeweidet. Irgendwer hatte ihnen den Bauch aufgeschlitzt, die Innereien herausgezerrt und einfach ins Boot fallen lassen.

Das ist echt ein klasse Job hier, dachte Jeff. Jedenfalls wenn man gerne kotzt.

Aber dass ihm speiübel war, änderte nichts daran, dass er an Bord gehen und seine Arbeit erledigen musste. Zuerst musste er mit der alten rostigen Kaffeedose, die hinter dem Sitz am Bug klemmte, möglichst viel von dem Kladderadatsch aus dem Boot in den See schaufeln.

Jeff machte einen großen Schritt und stieg auf den Sitz – nur so würden seine Turnschuhe die Sache überleben. Er hatte das schon tausendmal gemacht, und selbst wenn das Boot kräftig hin und her schaukelte, hatte er immer das Gleichgewicht halten können.

Doch diesmal hatte er etwas übersehen. Auf dem Sitz lag ein schleimiger, glitschiger, schmieriger Regenwurm, und als Jeff mit dem rechten Fuß mitten darauftrat, fühlte er sich, als wäre er auf eine Bananenschale gelatscht.

Im nächsten Moment flog er durch die Luft.

Er landete am Boden des Boots. Das Metall dröhnte, eine kleine Welle schwappte über ihn, und Jeff war von Kopf bis Fuß verschmiert mit toten Regenwürmern, nassem Schlamm und schleimigen Fischinnereien.

Er stieß einen Fluch aus, den er sich in Gegenwart von Erwachsenen nie erlaubt hätte. Hätten seine Eltern das mitbekommen, hätte er richtig Ärger gekriegt.

Wäre das nicht toll? Eltern zu haben, die einem richtig Ärger machen können?

Aber wie sich herausstellte, lauerte hinter ihm nur Tante Flo. Sie stand am Ende des Stegs und hatte natürlich alles mitbekommen. Wahrscheinlich gefiel es ihr nicht besonders, dass Jeff mit seinen zarten zwölf Jahren solche Schimpfwörter in den Mund nahm, aber was sollte sie schon machen? Sie konnte ihn ja schlecht auf sein Zimmer schicken. Wer hätte denn dann die ganze Arbeit erledigt?

Also stand sie bloß mit verschränkten Armen da und musterte ihn streng.

Jeffs Blick wanderte von ihr zu seinen verdreckten Händen. Zwischen seinen Fingern klemmte ein toter Wurm. Da landete eine Mücke auf seiner Nasenspitze, und instinktiv schlug er danach – ohne die Folgen zu bedenken.

Plötzlich hatte er das ganze Zeug, in das er sich hineingesetzt hatte, auch noch im Gesicht kleben. Auch den toten Glitschwurm.

Tante Flo stieß ihr unverwechselbares Seufzen aus.

»Jeff Conroy«, sagte sie. »Willst du den ganzen Tag nur bequem herumsitzen? Oder willst du dich auch mal ein bisschen nützlich machen?«

Nachdem Jeff zuerst das Boot und dann sich selbst sauber gemacht hatte, stand eine Fahrt zur Müllkippe auf dem Programm. Er musste die Mülltonnen, die sich über die Woche gefüllt hatten, auf die Ladefläche von Tante Flos altem Ford-Pick-up wuchten und dann ungefähr eineinhalb Kilometer weit die Landstraße entlang zur Deponie kutschieren.

Jeff hatte versucht, seiner Tante begreiflich zu machen, dass man mit zwölf Jahren noch gar nicht hinterm Steuer sitzen durfte. Bei ihrem Familienbesuch im Angelcamp ein Jahr zuvor hatte Jeffs Dad ihm zwar das Fahren beigebracht, aber doch nur auf Tante Flos eigenen fünfzehn Hektar Land und nicht auf der benachbarten Landstraße! Nicht dass es besonders schwierig gewesen wäre – mit Automatikschaltung musste man nur den Hebel auf Fahren stellen, aufs Gas treten, und los ging’s. Aber trotzdem …

»Mach dich nicht lächerlich«, hatte Tante Flo auf Jeffs Bedenken erwidert. »Oder kommst du etwa mit den Füßen nicht an die Pedale? Ach was, du bist doch größer als ich, und ich kann den Truck ohne Probleme fahren. Meine Güte, du hast jetzt schon so lange Beine, wo soll das noch hinführen? Außerdem hat mir dein Vater erzählt, dass ihr zwei andauernd Gokart gefahren seid, mit dem Fahren kennst du dich also bestens aus. Und die Kübel laufen doch nicht von allein zur Müllkippe, oder?«

»Aber wenn mich die Polizei anhält und meinen Führerschein sehen w–«

Tante Flo hatte seinen Einwand weggewischt. »Die verstehen das schon. Wenn sie dich wirklich anhalten, sag ihnen einfach, sie können heute Nachmittag hier vorbeikommen und umsonst mit einem von meinen Booten rausfahren. Die Polizisten drehen hier doch sowieso immer nur Däumchen. Hier gibt’s doch keine Verbrecher. Da können sie genauso gut mit einer Angel in der Hand auf dem See hocken …« Und dann hatte Tante Flo hämisch gekichert.

Also tuckerte Jeff nun quer durchs Camp, hievte die vollen Mülltonnen auf die Ladefläche und steuerte den alten Ford über die Zufahrt zur geteerten Landstraße. Dort kam nur alle zehn Minuten ein Auto vorbei, wenn überhaupt. Jeff lenkte nach rechts, in Richtung Deponie.

Als sein Blick auf den leeren Beifahrersitz fiel, musste er an Pepper denken.

Pepper war seine Hündin gewesen, und sie hatte nur ein einziges Mal in diesem Truck mitfahren dürfen.

Sie war ein vier Jahre alter, schwarz-weißer Border-Collie. Rund um ihr rechtes Auge wuchs weißes Fell, rund um ihr linkes schwarzes. Jeff war nur einmal gleich zu Beginn des Sommers mit ihr im Pick-up unterwegs gewesen, aber er erinnerte sich noch, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte. Sie hatte den Kopf aus dem Seitenfenster gesteckt und sich den Wind um die Nase wehen lassen, als wäre es das Großartigste der Welt. Nur die Müllkippe fand sie anscheinend noch ein bisschen großartiger, denn dort konnte man wunderbar Eichhörnchen, Ratten und Möwen jagen.

Wäre Pepper bei ihm gewesen, hätte sie jetzt den Duft der Natur genossen und sich nur ab und zu vom Fenster losgerissen, um Jeff schnell das Gesicht abzuschlecken.

Er hatte sie so lieb gehabt.

Doch Tante Flo mochte keine Hunde. Als Jeff nach dem Tod seiner Eltern zu ihr ziehen sollte, hatte sie nur eine Bedingung gestellt: Sie würde nicht mit diesem Tier unter einem Dach leben. Jeff musste Pepper wohl oder übel ein neues Zuhause suchen. Nach seiner ersten Woche im Angelcamp hatte er sie an eine Familie in der Stadt gegeben, die in derselben Straße wohnte wie er früher.

Jeff dachte an Pepper und Tante Flo und sein neues Leben und versank immer tiefer in seinen Grübeleien. Da war es kein Wunder, dass er das riesige Schlagloch mitten auf der Straße übersah.

Das rechte Vorderrad bretterte hinein.

KAWUMM !

Eine Millisekunde später bretterte das rechte Hinterrad hinein.

KAWUMM !

Und Jeff hörte ein dumpfes Poltern. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah eine der Tonnen auf der Fahrbahn liegen, inmitten von überall verstreutem Müll.

Er konnte das Zeug nicht einfach liegen lassen, wo es war. Jeff bremste den Pick-up, stieg aber nicht gleich aus, um die Schweinerei aufzuräumen. Stattdessen ließ er die Stirn aufs Lenkrad sinken und schloss die Augen.

Er wollte nur noch heulen.

Er hasste sein Leben bei Tante Flo.

Er hasste es so sehr.

Und Pepper fehlte ihm.

Doch seine Mom und sein Dad fehlten ihm noch mehr. Es war einfach nur scheiße, mit gerade mal zwölf Jahren keine Eltern mehr zu haben.

Chase

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