Читать книгу Chase - Linwood Barclay - Страница 8
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ОглавлениеAls Jeff an der Deponie gerade die letzte Mülltonne ausleerte, hielt neben ihm ein Pick-up mit dicken Buchstaben auf der Seite: FERIENPARK SHADY ACRES.
Jeff wusste genau, wo das war. Er kannte das andere Angelcamp, das am selben See wie Flo’s Cabins lag, nur ein Stück das Ufer hinunter. Dass es sich »Ferienpark« nannte, fand er aber ziemlich übertrieben, denn der »Park« bestand bloß aus ein paar Hütten, die genauso alt und abgerissen waren wie die von Tante Flo. Zum Glück waren Angler – und übrigens auch ihre Familien – in der Regel nicht besonders wählerisch. Solange sie ein Dach über dem Kopf, einen einigermaßen gemütlichen Schlafplatz und ein Boot ohne Leck hatten, waren sie glücklich und zufrieden. Das Wichtigste war, dass die Fische anbissen. Und selbst wenn sie nicht anbissen, war immer noch alles in Ordnung, solange im Kühlschrank immer ein kühles Bier wartete.
Bisher war Jeff nur ein paarmal in seinem Dreieinhalb-Meter-Aluboot am Shady Acres vorbeigefahren, ohne je einen Fuß ans Ufer zu setzen. Einmal hatte Tante Flo sich nämlich von ihrer netten Seite gezeigt und ihm ein eigenes Boot gegeben, und wann immer er ein paar Minuten Zeit hatte, brauste Jeff damit auf dem Pickerel Lake herum. Doch er ging nie angeln. Er angelte aus Prinzip nicht. Er drehte lieber den 10-PS-Motor so weit wie möglich auf und bretterte über den See, fuhr scharfe Kurven und lauerte auf Wellen, die er als Sprungschanze benutzen konnte, und wenn er eine erwischte, lauschte er immer auf das Dröhnen des Außenbordpropellers in der Luft.
Er war schon häufiger am Shady Acres vorbeigezischt, aber eines war ihm dabei nie aufgefallen: das Mädchen, das jetzt aus dem Pick-up des »Ferienparks« stieg.
Sie war zwölf Jahre alt oder vielleicht auch dreizehn, ziemlich dünn, hatte glatte, braune, schulterlange Haare und trug abgewetzte Jeans und Turnschuhe und ein ausgeblichenes T-Shirt mit dem Shady-Acres-Logo.
Auf der Fahrerseite stieg ein Mann aus, wahrscheinlich ihr Dad. Er kam Jeff ziemlich alt vor, möglicherweise schon vierzig. Ein stämmiger Typ mit wenig Haaren auf dem Kopf in Karohemd und dunkler Arbeitshose.
Das Mädchen war als Erste am Heck des Pick-ups. Sie öffnete die Ladeklappe, schwang sich hinauf und schob die Mülltonnen nach hinten. Ihr Dad nahm sie entgegen, kippte den Inhalt in die riesige Grube und stellte die leeren Tonnen beiseite.
Die Fremde hatte ziemlich viel Kraft, überlegte Jeff, jedenfalls für ein Mädchen. Besonders für eines ungefähr in seinem Alter. Als sie die nächste Tonne herumwuchtete, fielen ihm ihre angespannten Oberarmmuskeln auf. Da drehte sie sich plötzlich zu ihm, der schon länger reglos auf der Ladefläche von Tante Flos Pick-up herumstand.
»Was gibt’s da zu glotzen?«, fragte sie.
»Nichts«, erwiderte Jeff und wandte sich ab. Es wurde Zeit, dass er sich wieder hinters Steuer klemmte und zurück zu Tante Flo fuhr.
»Woher kommst du?«, sagte das Mädchen.
Jeff drehte sich noch mal um und antwortete ihr: »Flo’s Cabins.«
»Aha«, machte sie nur.
»Kommt mir bekannt vor«, meinte ihr Dad. »Du gehörst zu Flo Beaumont, oder? Ja, seit ihr Mann gestorben ist, schmeißt sie den Laden allein – das muss jetzt schon sechs Jahre her sein …« Er lächelte. »Ich habe gehört, sie hat neuerdings Hilfe von ihrem Neffen. Das bist dann wohl du?«
»Das stimmt«, antwortete Jeff höflich.
»Ich bin John Winslow. Und das ist meine Tochter Emily.«
»Jeff Conroy«, sagte Jeff.
»Wie alt bist du?«, fragte Emily mit irgendwie vorwurfsvollem Unterton.
»Was?«
»Du bist doch nie im Leben alt genug zum Fahren. Du siehst aus wie zwölf. Höchstens.«
»Also bitte«, erwiderte Jeff. »Ich bin nicht zwölf. Ich bin sechzehn.« Doch dabei überschlug sich seine Stimme, und das letzte Wort quiekte er mehr, als er es sagte – natürlich würde ihm das Mädchen nicht glauben. Auf der anderen Seite durfte man nun mal erst ab sechzehn fahren, und er wollte nicht, dass ihr Dad gleich zur Polizei rannte. Okay, der Typ machte einen netten Eindruck, aber man konnte nie wissen. Und im Gegensatz zu Tante Flo war Jeff sich nicht so sicher, ob sich die Cops wirklich mit einem Gratis-Angelnachmittag bestechen lassen würden.
»Sehr lustig«, sagte Emily.
»Und wie alt bist du?« Jeff war fest entschlossen, sie mindestens genauso sehr zu beleidigen wie sie ihn. »Neun?«
»Ich bin dreizehn«, entgegnete sie, als wäre das eine weltbewegende Neuigkeit.
Jeff lächelte. »Na, dann lässt dich dein Dad in drei Jahren vielleicht auch ans Steuer von eurem Truck. Und wenn du ganz lieb fragst, darfst du sogar mal alleine fahren.«
»Toll, dass ihr zwei euch so wunderbar versteht«, meinte Mr Winslow, der während ihres Scharmützels weiter Tonnen ausgeleert hatte. »Hilfst du mir dann auch mal ein bisschen, Emily, oder willst du den ganzen Tag mit dem jungen Herrn flirten?«
Emily lief rot an, und Jeff ging es nicht viel anders. Flirten?, dachte er. Wir haben doch nicht geflirtet! Da war er sich zumindest ziemlich sicher.
»Dad!«, rief Emily entnervt und ließ Jeff stehen, um ihrem Vater zu helfen. Jeff stieg wieder in den alten Ford, startete den Motor und ließ den Wagen davonrollen. Nur einmal warf er noch einen Blick in den überdimensionierten Seitenspiegel.
Auch das Mädchen drehte sich noch einmal nach ihm um, wandte sich aber schnell wieder ab, als wollte sie bloß nicht dabei erwischt werden.
Der hat ja einen Knall, dachte Jeff. Flirten!? Als wären sie sich eigentlich auf Anhieb sympathisch gewesen und hätten nur zur Tarnung gestritten!
Auf der anderen Seite freute er sich schon, dass er wusste, wie sie hieß: Emily.