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ОглавлениеNach seiner Flucht aus dem Institut wollte Chipper zuallererst die Weißkittel so weit wie möglich hinter sich lassen. Danach konnte er sich immer noch überlegen, wie er an sein Ziel gelangen sollte.
Mit fliegenden Beinen raste er über die grüne Außenanlage des Instituts zum Haupttor. Es war verriegelt, doch das bereitete ihm keine größeren Sorgen. Das Tor war dazu gedacht, Menschen und Fahrzeuge aufzuhalten – ein Hund wie Chipper würde sich ohne Schwierigkeiten durch die Stahlstäbe zwängen können.
Wie es aussah, war der Wachmann vorgewarnt worden. Er hatte sein kleines Büro verlassen, eine bessere Telefonzelle, und sich zentral vor dem etwa zehn Meter breiten Tor postiert. Breitbeinig, mit angewinkelten Knien und ausgestreckten Armen wartete er ab, wie ein Eishockey-Torwart, nur ohne Schutzkleidung und Maske, als glaubte er tatsächlich, er könnte Chipper abfangen.
Chipper hielt direkt auf ihn zu, schlug in letzter Sekunde aber einen Haken nach links und sofort wieder nach rechts. Genau wie erwartet warf sich der Wachmann in die falsche Richtung und klatschte auf den Asphalt. So musste er hilflos zusehen, wie Chipper sich durch die schwarzen Stäbe quetschte und auf den Bürgersteig floh.
Chipper warf einen blitzschnellen Blick zurück. Wie würde der Wachmann reagieren?
Er reagierte wie befürchtet: Er zog die Waffe aus dem Halfter, zielte durch die Gitterstäbe und drückte ab. Anscheinend hatte ihm niemand gesagt, dass man ein so wertvolles Versuchsobjekt wie Chipper lieber nicht mit Pistolenkugeln durchlöchern sollte.
Das Institut lag auf einem großen Grundstück, und solange man die Anlage nicht verließ, kam man sich fast vor wie auf dem Land. Es war ein grünes, idyllisches Gelände, auf dem man sich richtig wohlfühlen konnte – sofern man frei herumlaufen durfte, anstatt in einem fensterlosen Raum im Käfig zu hocken. Und trotzdem befand sich das Institut mitten in der Stadt, zwischen belebten Straßen, durch die sich unzählige Autos und Busse und Taxis schoben und in denen es nur so wimmelte von Fußgängern.
Als plötzlich ein Schuss knallte und eine Kugel knapp links von Chipper den Gehweg traf und vom Beton zurückprallte, kreischten mehrere Menschen auf und warfen sich zu Boden. Chipper änderte seine Taktik und huschte dicht an den Gebäuden entlang. Solange der Wachmann nicht die Verfolgung aufnahm, würde er ihn dort bald aus den Augen verlieren.
Und wenn er die Verfolgung aufnahm, wäre Chipper bereits vorne an der Ecke.
An der Ecke bog Chipper links ab und rannte auf die Straße, mitten durch den mehrspurigen Verkehr. Reifen quietschten, Zentimeter vor ihm bremste ein Bus scharf ab. Auf der anderen Seite entdeckte Chipper den Eingang zu einer Treppe in den Untergrund.
Sein Blick zuckte nach oben, zu einem Schild mit der Aufschrift: U-BAHN.
In seiner Zeit bei den Weißkitteln waren ihm zahlreiche Fähigkeiten verliehen worden, etliche davon noch deutlich komplexer, als Buchstaben und Wörter aus über einem Dutzend Sprachen entziffern zu können. Die Weißkittel hatten ihm viele Talente mitgegeben.
Chipper sprang die Stufen hinunter ins Sperrengeschoss und schlängelte sich durch die Schar der Menschen auf dem Weg nach oben oder unten. Unmittelbar vor einem jungen Mann mit Skateboard duckte er sich unter der Eingangssperre hindurch zur Rolltreppe.
»Hey!«, schrie irgendwer.
Davon ließ Chipper sich nicht aufhalten. Von unten hallte das Zischen schließender Türen herauf – und als Chipper auf den Bahnsteig hetzte, war die U-Bahn bereits verschwunden. Er warf einen Blick nach links, wo die Züge nach Süden fuhren, und nach rechts, wo die Züge nach Norden fuhren. Er würde einfach den nächstbesten nehmen.
Zwischendurch spähte er immer wieder zur Treppe. Ob die Weißkittel ihm wohl gefolgt waren? Das heißt, zu Fuß hatten sie bestimmt nicht mit ihm mithalten können, er war deutlich schneller als sie. Doch vermutlich war gerade ein ganzes Team auf dem Weg zur Parkgarage mit der institutseigenen Flotte schwarzer Geländewagen …
Chipper musterte die Wartenden und schnupperte in die Luft. Verschiedenste menschliche Ausdünstungen bombardierten seinen Geruchssinn, und dazu kam noch der typische U-Bahn-Duft nach Öl und Metall, Schmutz und Ruß. Sollte sich doch ein Institutsangehöriger hier herunter verirren, ein Weißkittel oder einer von denen im dunklen Anzug, würde Chipper ihn wohl sowieso wittern. Über dem ganzen Institut hing ein steriles Krankenhausaroma. Einmal hatte Chipper ein paar Angestellte darüber klagen gehört, sie würden den Gestank selbst nach Feierabend nicht aus den Klamotten bekommen.
Ein fernes Donnern ertönte.
Hinten in einem der Tunnel leuchteten Scheinwerfer. Mit U-Bahnen und anderen Verkehrsmitteln kannte Chipper sich aus – seine Ausbildung hatte verschiedenste Möglichkeiten umfasst, von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Unzählige Tage hatte er mit praktischen Übungen »im Feld« verbracht, so nannten die Weißkittel das. Chipper hatte gelernt, in Autos und Busse einzusteigen und sich in Züge und auf Linienflüge einzuschleichen. Einmal war er im Beiwagen eines Motorrads mitgefahren, ein andermal waren er und ein Weißkittel mit einem Hängegleiter geflogen.
Das hatte ihm großen Spaß gemacht.
Am liebsten waren ihm Motorräder und Hängegleiter oder zumindest Autos mit offenem Fenster, wenn er den Wind um die Schnauze spürte und die Tausenden Düfte der Außenwelt seine hochsensible Nase kitzelten.
Gleich würde die U-Bahn eintreffen. Wie lange sollte er darin mitfahren? Sicher nicht bis zur Endstation. Lieber nur ein paar Haltestellen, und dann nichts wie raus. Vielleicht würde er danach einfach am Gleis gegenüber in die Gegenrichtung einsteigen und wieder einige Stationen nach Süden fahren, um seine Verfolger zu verwirren.
Der Zug hatte schon fast angehalten – da entdeckte Chipper die Ratte.
Eine Ratte!
Es war ein graues, fast dreißig Zentimeter langes Viech, und dabei war der lange Schlängelschwanz noch gar nicht einberechnet. Die Ratte huschte ganz am Ende des Bahnsteigs an der Mauer entlang.
Nein! Muss widerstehen. Darf jetzt nicht an diese Ratte denken. Muss mich konzentrieren. Muss hier verschwinden! Darf mir jetzt keine Gedanken über irgendeine dumme Ratte machen, aber sie ist doch so schön groß, und sie ist GLEICH DA DRÜBEN , UND ICH MUSS SIE EINFACH FANGEN !
Chipper stürmte der Ratte hinterher.
Im Institut hatte er nie auch nur eine einzige Ratte entdeckt. In diesen Gebäuden war es immer so sauber, wie frisch desinfiziert, dass dort garantiert keine Nagetiere hausten, und selbst Spinnen waren eine Seltenheit. Doch wenn Chipper zum Training ins Freie gebracht worden war, waren da plötzlich Eichhörnchen und Streifenhörnchen und Vögel gewesen – und egal, welche Übung er gerade zu absolvieren hatte, er musste ihnen einfach jedes Mal hinterherjagen. Genau deshalb wollten ihn die Weißkittel ja aus dem Weg räumen. Aber im Moment waren doch keine Weißkittel zu sehen, oder? Nein. Zumindest noch nicht.
Als Chipper an der Mauer ankam, war die Ratte gerade vom Bahnsteig in den Tunnel gehuscht und zischte auf einem winzigen Vorsprung zwischen den Mauerblöcken davon. Chipper reckte den Hals und konnte trotzdem nur noch zuschauen, wie sie ihm entkam. Ein paarmal bellte er dem Viech frustriert hinterher, aber die Ratte dachte natürlich gar nicht daran, sich freiwillig zu ergeben.
Das kann doch nicht wahr sein!, schimpfte Chipper in Gedanken. Aber er musste sie wohl laufen lassen.
Er wirbelte herum.
Der Zug fuhr gerade ab.
Als Hund hätte Chipper sich sogar in seinen eigenen Hintern beißen können, und er war drauf und dran, genau das zu tun. Kein Wunder, dass die Weißkittel ihn loswerden wollten! Wieso hatte er nicht ein einziges Mal cool bleiben können!?
Jetzt musste er auf den nächsten Zug warten. Nur wegen einer blöden Ratte hatte er seine Verfolger aufholen lassen.
So dumm, dumm, dumm!
Chipper tapste auf dem Bahnsteig hin und her und postierte sich schließlich hinter einer Säule, wo man ihn vielleicht nicht so schnell entdecken würde. Doch jeder, der die Rolltreppe hinunterfuhr, hätte sofort den schwarz-weißen Hundepopo dahinter hervorragen gesehen.
Als Vierbeiner konnte man sich eben nicht so gut hinter einer Säule verstecken wie als Zweibeiner.
Vom anderen Gleis drang ein Zischen herüber. Sekunden später glitt ein Zug in den Bahnhof, und die Türen öffneten sich. Rechts und links davon warteten Menschen, bis einige Fahrgäste ausgestiegen waren, doch so höflich war Chipper nicht. Er flitzte in einen Waggon, suchte sich einen Platz unter einer Sitzbank und schnaufte erst mal durch.
Die Türen schlossen sich wieder, der Zug setzte sich in Bewegung. Vor den Fenstern zogen Werbeplakate vorbei, Menschengesichter und riesige Schilder mit dem Namen der Haltestelle, aber bald herrschte dort nur noch Dunkelheit.
Chipper verschaffte sich erst mal einen Überblick über die Lage. Der Waggon war nicht mal halb voll, lange nicht so gut gefüllt wie im Berufsverkehr am Morgen oder am frühen Abend. Am anderen Ende hockte ein Mann in zerlumpter Kleidung, vermutlich ein Obdachloser – das folgerte Chipper aus der wundervollen Vielfalt an Düften, die der Mann verströmte. Mit einer grauen, schmutzigen Hand bettelte er um Geld, doch die meisten Leute taten so, als ob er unsichtbar wäre, und starrten auf ihren Schoß.
In Chippers Nähe saß eine junge Frau und spielte ein Instrument, das wie eine Geige aussah, aber viel zu groß dafür war. Chipper studierte es mit seinen millionenschweren elektronischen Augen und ging die Abbildungen in seiner Datenbank durch. Ah, das war also ein Cello. Und vor den Füßen der Musikerin lag ein aufgeklappter Cellokasten und versperrte eine Sitzbank mit Platz für drei Fahrgäste, damit Menschen, denen ihre Vorführung gefiel, ein bisschen Geld hineinwerfen konnten.
Als der bettelnde Obdachlose näher kam und einen Blick in den Cellokasten warf, hörte die Frau auf zu spielen und funkelte ihn warnend an.
»Ich sag’s dir, Kumpel, wenn du dich an meiner Kohle vergreifst …«
Da wandte sich der Obdachlose ab und zog sich wieder ans andere Ende des Waggons zurück.
Und plötzlich sah Chipper rein gar nichts mehr.
Eine Frau mit extrem dicken Beinen und einer großen Einkaufstasche hatte sich auf den Sitz über ihm fallen gelassen. Chipper, der das Geschehen natürlich weiter im Blick behalten wollte, versuchte deshalb, seine Schnauze zwischen ihren Knöcheln hindurchzuschieben. Die Frau schrie vor Schreck.
Dann beugte sie sich vor und sah nach, was für ein haariges Ding sich da unter ihr verbarg – vielleicht ekelte sie sich, weil sie dachte, es wäre eine Ratte wie die, die Chipper entkommen war? Als sie den Hund entdeckte, lachte sie. Chipper sah ihr rundes Gesicht nur auf dem Kopf, und trotzdem fiel ihm sofort ihre dicke Knollennase auf.
»Hey, du«, sagte sie. »Wie geht’s denn so?«
Chipper klopfte zweimal mit dem Schwanz auf den Boden. Er befand sich zwar in einer ziemlich brenzligen Lage, doch wenn ausnahmsweise mal ein Mensch nett zu ihm war, freute er sich immer.
»Du bist aber ein Hübscher«, sagte die Frau. »Du bist wirklich ein sehr Hübscher! Aber was machst du da unten? Ist dein Herrchen hier irgendwo?«
Sie erkundigte sich bei den anderen Fahrgästen, ob der Hund irgendjemandem gehörte.
»Mir nicht«, sagte einer.
»Nee«, erwiderte die Cellistin.
Die Frau blickte wieder auf Chipper herab. »Soso. Und wem gehörst du dann? Vielleicht steht ja auf deinem Halsband drauf, wie du heißt und wer dein Herrchen ist …«
Sie griff nach dem Ring um Chippers Hals und zerrte ihn mit einem kräftigen Ruck so weit unter dem Sitz hervor, dass sie sich das Halsband ansehen konnte.
Aber das konnte Chipper nicht zulassen. Die Frau durfte keinen genaueren Blick auf sein Halsband werfen. Wenn er sich nicht losreißen konnte, würde er womöglich nach ihr schnappen müssen – so gerne er es auch vermieden hätte. Er hatte immer noch den Geschmack von Simmons’ Blut im Maul. Wenn es nach ihm ging, würde er heute lieber niemanden mehr beißen.
Die Frau versuchte, ihre Finger unter Chippers Halsband zu zwängen, bekam sie aber nicht darunter. Es war, als wäre ihm der Ring direkt ins Fell geklebt worden. Oder als wäre er mit seinem Körper verwachsen.
»Wer hat dir das Ding denn so eng gemacht, Kleiner? Und was ist das überhaupt für ein Material? Das ist doch kein Leder, das ist doch aus … aus Metall oder so. Wer legt seinem Hund denn bitte ein Metallhalsband an?«
Chipper wollte seinen Kopf wegziehen. Die Frau ließ ihn nicht.
Gleichzeitig nahm der Zug auf seiner Fahrt durch den Untergrund eine lange Kurve. Stahlräder knirschten, die Waggonbeleuchtung flackerte und erlosch für fast drei Sekunden, dann wurde es wieder hell.
»So etwas ist mir ja noch nie untergekommen«, murmelte die Frau. »Haben die das Ding an dich drangeschweißt, oder wie? Und Moment … was ist das denn bitte?«
Vielleicht musste er sie wirklich beißen.
»Soll man da … soll man da irgendetwas einstöpseln?« Sie wandte sich an den Mann neben ihr. »Das sieht doch aus wie diese Buchse am Handy, wo man das Ladekabel reinsteckt, oder? Aber was hat so was an einem Hundehalsband verloren? Das ist doch wirklich das Aller–«
»Grrrrr«, machte Chipper.
Schnell zog die Frau ihre Hand zurück.
»Hey! Das ist aber gar nicht nett! Böser Hund! Du bist ein böser Hund!«
Chipper verschwand wieder unter dem Sitz.
»Also wenn du hier niemandem gehörst«, sagte die Frau, »dann können wir dich nicht einfach hierlassen. Dann musst du ins Tierheim!«
Das klang nicht gut. Aber solange Chipper brav unter dem Sitz hocken blieb, würde ihn die Frau hoffentlich trotzdem in Ruhe lassen – zumindest bis zur nächsten Haltestelle. Sobald sich die Türen öffneten, würde er aus seinem Versteck schnellen und abhauen.
An welcher Station er wohl landen würde? Chipper war es egal. Er musste nur kurz auf sein Navigationsprogramm zugreifen, und schon würde er sich bestens auskennen.
Die Jungs und Mädels in den weißen Kitteln hatten wirklich an alles gedacht.
Der Zug ratterte weiter über die unterirdischen Gleise, an den Fenstern fegte tiefes Schwarz vorüber. Wieder flimmerten die Lichter, erloschen für eine Sekunde und flackerten wieder auf. Niemand kümmerte sich darum.
Bis zur nächsten Haltestelle konnte es nicht mehr weit sein.
Doch auf einmal verlangsamte sich die Fahrt, und nach ein paar Sekunden hielt der Zug irgendwo im Tunnel zwischen zwei Stationen. Minutenlang blieb es still. Nichts rührte sich.
Dann wurde es allmählich unruhig. Hier und da im Waggon waren nervöse, fast ängstliche Stimmen zu hören. Die Menschen fragten sich, wieso es nicht weiterging.
Chipper verstand jedes einzelne Wort.
»Was ist da los? Warum haben wir angehalten?«
»Was soll das?«
»Vielleicht klemmt da vorne eine Weiche!«
»Na, hoffentlich stehen wir hier nicht ewig rum …«
»Warum sagen die denn nichts?«
Wie aufs Stichwort knackte es in den Lautsprechern.
»Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit«, sagte eine verrauschte Männerstimme. »Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung. Wir werden die Fahrt in Kürze fortsetzen. Es besteht kein Grund zur Sorge. Es ist zu einem Zwischenfall im Zug gekommen, doch wie gesagt, es besteht kein Grund zur Sorge. Es geht gleich weiter – aber wenn wir in die nächste Haltestelle eingefahren sind, werden sich die Türen zunächst nicht öffnen. Ich wiederhole, die Türen werden sich zunächst nicht öffnen.«
Die Fahrgäste murrten.
Chipper kauerte immer noch unter dem Sitz, die Schnauze auf den Vorderpfoten. Seine braunen Augen zuckten wachsam hin und her.
Sie wissen Bescheid, dachte er. Sie wissen, wo ich bin. Und jetzt kommen sie mich holen.